Читать книгу EI_LAND - Andreas Hillger - Страница 6
II
Оглавление»Wer noch geh’n kann, sucht das Weite, Wer noch bleibt, kann nicht mehr geh’n. Unser Kurs führt in die Pleite, Und kein Ausweg ist zu seh’n.« Drei Schwestern, »Bettlers Bankett«
Der kurze Weg zu meinem Haus dauerte diesmal ungewöhnlich lange. Der frisch gefallene Schnee erschwerte ohnehin jeden Schritt, zugleich aber musste ich Rücksicht auf meinen Begleiter nehmen, der keuchend gegen den schneidenden Wind kämpfte. Unser Abschied aus dem Wirtshaus war beschleunigt worden, nachdem ich Wolter vom Selbstgebrannten eingeschenkt hatte. Joachim war wutschnaubend an unseren Tisch gestürmt, hatte etwas von Regeln und Hausrecht gefaselt und mit ausgestrecktem Arm auf die Tür gedeutet. Der Rest der Runde hatte sich abermals in Schweigen gehüllt, nur dem Major war ein gehorsam gebelltes »Jawoll!« über die Lippen gekommen.
Nun stapften wir schweigend nebeneinander her und ich fragte mich abermals, warum ich mir diesen Klotz ans Bein gebunden hatte. Unser Atem flockte in der eisigen Luft, die den angenehmen Rausch schlagartig vertrieb und so mein Bollwerk gegen die unwillkommenen Träume zerstörte. Doch trotz der Ernüchterung musste ich im Dunkeln ein wenig stochern, ehe ich das Schlüsselloch fand. Wolter nahm seine Brille ab und rieb die schmelzenden Flocken von den Gläsern. »Schön haben Sie es hier, Hagen!«
War das ironisch gemeint? Ich hatte den Flur kaum verändert, seitdem ich eingezogen war. Die alte Tapete, die hölzernen Garderobenhaken, das abgewetzte Schuhregal … lediglich die vergilbten Familienfotos und das gestickte Blumenbild hingen nicht mehr am angestammten Platz, nur Nägel über helleren Rechtecken erinnerten an den Wänden noch an sie.
Der Korridor war mir lediglich als Schleuse zur Außenwelt erschienen, auf die man keine verlorene Leibesmüh als Maler oder Tapezierer verschwenden musste. »Geben Sie mir Ihren Mantel! Und lassen Sie die Schuhe ruhig an.«
Ich schob Wolter in die alte Wohnstube, die ich mit weitaus größerem Aufwand in mein Arbeitszimmer verwandelt hatte. Die klobige Schrankwand war den vollgestopften Bücherregalen gewichen, der Schreibtisch stand unter dem Fenster, und neben zwei alten Holzstühlen bot ein durchgesessenes Sofa Platz. Alles wollte den Anschein gehobenen Geistes und konzentrierter Tätigkeit erwecken, den ich mir selbst freilich längst nicht mehr abkaufen konnte. Hastig schob ich verstaubte Papiere zusammen, die auf der Couch gestapelt lagen. »Machen Sie es sich bequem. Ich bin kurz in der Küche.«
Aus dem Kühlschrank griff ich mir Käse und Speck, dann legte ich die fetten Stücke zusammen mit einer Packung Pumpernickel neben ein Messer auf das Schneidebrett. Mit festem Griff köpfte ich eine weitere Flasche Apfelbrand und brachte das Nachtmahl zu meinem Besucher. Er saß auf dem Sofa, ich setzte mich auf einen der Stühle ihm gegenüber. »Greifen Sie zu!«
»Was hat es denn nun mit dieser seltsamen Versammlung auf sich?«, fragte Wolter mit vollem Mund. »Und wie sind Sie da hineingeraten – zwischen den Dicken im Blaumann und den Dürren im Dreiteiler?« Seine knappe Beschreibung der zentralen Randgestalten amüsierte mich.
»Das sind zwei Fragen auf einmal, Konrad. Eine zu viel. Fangen wir am Ende an. Der Dicke, den Sie in seiner Gegenwart übrigens nie so nennen sollten, ist Liebig. Ich habe keine Ahnung, ob er wirklich so heißt, doch der Name passt perfekt. Kennen Sie Liebigs Fleischextrakt? Ist ein wenig aus der Mode gekommen, aber genau wie er – reine, bis auf das Äußerste eingekochte Muskeln, braun und zäh. Und außerdem hat er sich von oben bis unten tätowieren lassen wie ein wandelndes Album für jene Sammelbilder, die man früher mit der Paste für die Brühen bekam. Liebig saß vor der Wende im Knast, wegen versuchter Republikflucht – und als er entlassen wurde, war die Republik schon vor ihm geflohen. Das hat ihn ziemlich aus der Bahn geworfen. Jetzt spielt er Schach mit dem Major, der ihn einst bewacht hat – und gewinnt dabei immer. Werner, den Hageren, hat es ebenfalls aus der Kurve getragen. Der war mal Chemiker, ein hoher Bonze im Kombinat. Dann kam die Einheit und mit ihr der Knick. Job weg, Frau weg, Haus weg. Jetzt wohnt er auf seiner alten Datsche und buchstabiert sich mit Leim und Schere krude Theorien zusammen. Er lebt in seiner eigenen Welt, Zutritt verboten. Aber immerhin weiß er noch genau, wie man Alkohol destilliert. Der Schnaps, den wir gerade trinken, ist von ihm.« Ich goss großzügig nach und schnitt mir eine dicke Scheibe Speck ab. »Dann hätten wir da noch Herbert, der uns alle mit Zigaretten versorgt – ein einfacher Mann, früher Lokführer, jetzt Frührentner. Und Joachim, den Sie ja schon ausgiebig kennengelernt haben. Der ist eigentlich gar nicht so übel, aber mit seiner Lizenz hat er auch die Lust am Leben verloren. Jetzt thront er hinter dem Tresen wie ein König ohne Land. Und wir tun ihm zuliebe so, als wären wir seine Untertanen.«
Konrad hob sein Glas. »Ein lustiger Hofstaat! Lauter Narren, aber niemand, der lacht. Lang lebe der König!« Übermütig stürzte er den Branntwein hinunter, verschluckte sich und musste husten.
»Vorsicht! Das Zeug ist gefährlich. Werner hat sich das halbe Hirn und drei Viertel seines Magens damit weggesoffen, ehe er aus therapeutischen Gründen auf Bier umsattelte. Nehmen Sie ein Stück Schwarzbrot, das lindert die Wirkung.«
Als er wieder zu Atem gekommen war, fragte Wolter: »Aber welche Rolle spielen Sie in diesem Spiel? Sie gehören doch nicht hierher!«
Ich zwirbelte eine Haarsträhne zwischen meinen Fingern – eine Marotte, in die ich mich in Momenten der Verlegenheit flüchtete. »Dazu später. Zunächst müssen Sie mir erzählen, was Sie um diese Zeit in unsere gottverlassene Gegend verschlagen hat. So spät durch Nacht und Wind?«