Читать книгу EI_LAND - Andreas Hillger - Страница 9

V

Оглавление

»Die Kostüme sind zerrissen, In Perücken nisten Motten. Die Kulissen – längst verschlissen – Schwanken, wanken und verrotten.« Drei Schwestern, »Bettlers Bankett«

Der Schnaps verweigerte mir in dieser Nacht seinen Dienst, der dringend nötige Schlaf wollte sich nicht einstellen. Stattdessen dämmerte ich mich durch halb vergessene Bilder, die mir mein Gespräch mit Wolter wieder zu Tage gefördert hatte. Ich sah mich an der Abbruchkante stehen, mein Smartphone als Diktiergerät in der Hand, neben mir ein Mann mit Anzug und Bauhelm. Er wies mit großer Geste in die Weite und redete von Ableitungen und Aufforstungen, von kontrollierten Emissionen und neuen Planverfahren. Obwohl die Episode schon einige Zeit zurücklag, hörte ich die Worte noch genau – den nüchternen Ton des Managers, mit dem sich die Begeisterung für das technisch Mögliche und für den eigenen Anteil an dieser Leistung maskierte. Der Botschafter der neuen Eigentümer hatte mit tschechischem Akzent gesprochen, und die historische Volte amüsierte mich nun abermals: Jener Landgewinn, der dem böhmischen General Wallenstein nicht gelingen konnte, nachdem er mit seinen kaiserlichen Truppen an der Schwarzen Pumpe gerastet hatte, war seinen Nachfahren fast vierhundert Jahre später im Handstreich geglückt. Sie hatten das Recht, hier nach Kohle zu schürfen, einfach gekauft – und zwar ausgerechnet von den Schweden, die sich von diesem schmutzigen Geschäft reinwaschen wollten, in das sie selbst erst kurz zuvor eingestiegen waren. Von Vattenfall zu Energetický a Průmyslový – ein einvernehmlicher Handel über Grenzen und Menschen hinweg. Was Gustav Adolf wohl dazu gesagt hätte, der einst im Kampf gegen Wallensteins Truppen fiel – auf einem Feld bei Lützen, unter dem man später auch Kohle fand?

Genau so wollte ich das schreiben, weil man das Fußvolk auch diesmal nicht nach seiner Meinung gefragt hatte. Die Marschrichtung wurde noch immer am Kartentisch beschlossen, der Boden samt seiner Schätze in Verträgen verteilt und zur Plünderung freigegeben. Politik war nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, den Preis zahlten hier wie dort die Verlierer. Natürlich würde ich auch ihnen eine Stimme geben, genau genommen die jener alten Frau, die ich an diesem Sommertag kennengelernt hatte. Sie hieß Hanka Reimer, ich hatte sie auf der Fahrt zum Ortstermin in ihrem Vorgarten gesehen, wo sie in einer einfachen Kittelschürze Unkraut zupfte. Eigentlich wollte ich aus dem geöffneten Wagenfenster nur kurz nach dem Weg fragen, aber auf meinen Gruß hatte sie sich ächzend erhoben und war an den Zaun gekommen. »Ganz einfach, junger Mann! Immer geradeaus, die Allee entlang, bis an die Kante. Dahinter geht es steil abwärts – aber keine Angst, die Schlucht ist gut beschrankt! Wenn Sie sich sattgesehen haben, können Sie gern noch mal Halt machen. Es führt ohnehin keine andere Straße zurück. Also bitte wenden!« Ein bitteres Lachen hatte diesen Satz begleitet.

Tatsächlich war ich auf der Rückfahrt noch einmal ausgestiegen und hatte das Grundstück durch die hölzerne Pforte betreten. Das Tor der Scheune hing schief in den Angeln, ihr Dach war an einer Ecke eingestürzt, doch das Haus schien gepflegt und solide. Hinter halb geöffneter Gardine hatte sie mich hereingewunken, nun saßen wir bei Pfefferminztee – »vom eigenen Beet« – und Mohnkuchen – »nach Großmutters Rezept« – in ihrer guten Stube. Frau Reimer wühlte in einem Karton mit Fotos und erzählte aus ihrem Leben – vom langen Fußweg zur Klippschule im Nachbardorf, von der Angst vor den Russen mit ihren Panjewagen und ihren grimmigen Gesichtern, von der Enteignung des Vaters nach dessen Heimkehr aus der Gefangenschaft und von ihren vielen Jahren als Köchin im Chemiekombinat.

Hankas Ehe war kinderlos geblieben, der Mann schon vor Jahren gestorben. Und nun wartete sie in dem Haus, in dem sie das Licht der Welt erblickt hatte, nur noch auf ihren eigenen Tod. Die schwarz-weißen Aufnahmen, die sie neben dem billigen Geschirr mit dem blauen Zwiebelmuster ausbreitete, waren so kostbar und belanglos wie ihr langes Leben: Bilder von Dorffesten und Brigadeausflügen, von der Hochzeit und den immer gleichen Weihnachtsbäumen.

»Das Schlimmste ist«, sagte Frau Reimer, »dass es keinen Erben gibt – und dass sie das hier alles einfach abräumen werden. Dann bleibt nichts, kein Andenken, keine Erinnerung. Und man weiß nicht mal, wo man am Ende begraben liegt.« Ich war unangenehm berührt, die Traurigkeit dieses Augenblicks machte mich stumm. Doch dieses Schweigen deutete die Alte falsch. »Wollen nicht Sie vielleicht … Sie sind mir sehr sympathisch, Herr Siegfried!« Sie legte ihre schwielige Rechte auf meine Hand, in ihren Augen lag ein verdächtiger Schimmer. Jetzt bloß nicht weinen, bitte! Oberstes Gebot: Du sollst dich mit keiner Sache gemein machen, auch wenn es eine gute wäre. Aber Frau Reimer ließ nicht locker: »Wenn Sie hier einziehen, bin ich getröstet. Und die anderen, die Lutki, kriegen Verstärkung. Sie passen perfekt hierher, das spüre ich.«

Ich hätte aus vielen Gründen ablehnen müssen, doch mir wollte in diesem Moment kein einziger einfallen. Vor wenigen Stunden hatte ich noch in den Abgrund geschaut und nach eindringlichen Formeln für treffende Beschreibungen gesucht. Nun sah ich die Träne, die sich den Weg durch die Falten bahnen wollte und mit dem Handrücken verlegen weggewischt wurde. Später könnte ich das Erbe immer noch ausschlagen, für den Augenblick aber fühlte ich mich in die Pflicht genommen: »Also gut!« Hanka seufzte, als wäre ihr eine schwere Last von der Seele genommen. »Sie machen mir eine große Freude – und auch den Lutki!«

Als ich an diesem Nachmittag in die Stadt zurückfuhr, blendete das Licht auf den Solarziegeln der Häuser. Eine sanfte Brise drückte die weißen Schwaden, die von den mächtigen Kegeln in der Ferne aufstiegen, seitlich auf die träge kreisenden Rotorblätter der riesigen Windräder. Alles verströmte Ruhe und sammelte doch unaufhörlich Energie, das ganze Land stand unter Strom. Gleich würde am Horizont wohl jene Riesin mit den nackten Brüsten und dem Bukett aus bunten Luftballons auftauchen, die ich von dem Bild über meinem Schreibtisch kannte.

Die verblichene Kopie des Gemäldes war mir in der Ruine eines früheren Kulturhauses in die Hände gefallen, als ich für einen Artikel über verlorene Orte recherchierte. Dort hatte sie an einer Wand gelehnt, unter schlecht gesprühten Graffiti und im Zwielicht hinter den zersplitterten, notdürftig mit Sperrholz verkleideten Scheiben – eine Göttin, die neben dem Bildnis eines kleinen Jungen im Tierpark und einem züchtigen Liebespaar am Strand auf ihre baldige Verbrennung wartete. Andere Reproduktionen waren den Vandalen bereits zum Opfer gefallen, die Asche und verkohlte Überreste der Rahmen häuften sich auf dem nackten Fußboden. Ich hatte das Bild als Souvenir betrachtet, obwohl ein Etikett auf der Rückseite es eindeutig als Volkseigentum auswies. Aber was sollte das schon für ein Volk sein, das sein Inventar mutwillig in Flammen aufgehen ließ? Die schrecklich schöne Erscheinung über der eintönigen Landschaft war mir damals wie ein perfektes Sinnbild für die übermenschliche Größe der Versprechen erschienen, die man hier gegeben hatte, ohne selbst an sie glauben zu können – eine unerreichbare, stets zurückweichende Freiheitsstatue, deren Fackel längst gegen kindliche Belustigung und ein paar Blümchen ausgetauscht worden war. Nun also fuhr auch ich auf leicht geschwungener Straße an Schildern vorbei, die zu nahe liegenden Orten wiesen. Doch der Himmel über dem Revier blieb leer …

EI_LAND

Подняться наверх