Читать книгу Till Türmer und die Angst vor dem Tod - Andreas Klaene - Страница 5

Der Brief

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Till schrieb im Laufe von Jahren viele Briefe in geheimer Mission. Auch für Menschen, die er nicht mochte. Sympathie war für ihn bei diesen Aktionen nicht elementar. Aber eine andere Voraussetzung brauchte er. Zumindest dann, wenn es darum ging, eine Beziehung zu retten: Er wollte bei seinem Auftraggeber die Bereitschaft erkennen, auch das eigene Verhalten kritisch zu betrachten. Schnell erkannte er, ob solche Offenheit vorhanden war. Wenn er feststellte, dass es daran mangelte, blockte er ab. Er hatte keine Lust, der Selbstherrlichkeit eines Kunden mit einem ausgefeilten Brief noch Format zu geben. Denn ursprünglich war es nicht von ihm geplant, solche Briefe zu schreiben und daran auch noch zu verdienen. Sein Geld kam recht gut durch Werbetexte herein. Außerdem schrieb er Biografien. Die meisten für Menschen, die es hoch hinaus geschafft hatten und für Unternehmer, die sich einen Aufstieg ausrechneten, indem sie Kunden und Geschäftspartnern einen Lesestoff gaben, der sie neugierig machte. Denn wenn Till über sie schrieb, ging es nicht um ihre Produkte und Leistungen. Er präsentierte den Menschen, der hinter dem Unternehmen stand, seine Persönlichkeit mit allen Ecken, Sorgenfalten und Durchhaltekanten.

Zu seinem ersten Brief ganz spezieller Art hatte er sich von einem Freund hinreißen lassen. Dessen Ehe war kontinuierlich einem Abgrund entgegengerutscht.

»Wir können überhaupt nicht mehr miteinander reden«, hatte Hannes manchmal zu Till gesagt, bevor seine Frau mit beiden Kindern ausgezogen war. Der Mann sah keine Möglichkeit mehr, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Mehrfach hatte er versucht, ihr seine Gedanken zu schreiben, doch in seiner Verzweiflung brachte er nichts als unglaubwürdige Entschuldigungen und schwer zu schluckende Vorwürfe zu Papier. Hannes schickte keinen seiner Briefe ab, aber den letzten Versuch legte er Till auf den Tisch. Der sagte: »Darf ich dir mal ein paar Fragen stellen?«

Hannes war offen für alles. Aus ein paar Fragen wurde ein ganzer Fragenkatalog. Auf diese Weise brachte Till seinen Freund auf Gedanken, die er sich zuvor kaum oder gar nicht gemacht hatte. Es ging um Träume und Ziele, die Hannes lange vor seiner Ehe hatte, um das, was er an Ines einst geliebt und das, was sie an ihm besonders verehrt hatte, als die Zukunft noch vor ihnen lag. Till wollte auch wissen, wie Ines großgeworden war, welche Erfolge es in ihrer Geschichte gegeben hatte, und in welche Fallgruben sie geraten war. Hannes hingegen wollte Tills Rat, doch den bekam er nicht. Der stellte nur Fragen. Bis spät in die Nacht.

Hannes hatte kein Problem damit, offen zu antworten, so sehr ihm die Fragen auch unter die Haut gingen. Was ihn aufwühlte, waren seine eigenen Antworten. Er war zwar keiner, der nah am Wasser gebaut hatte, aber an diesem Abend blickte er mit Tränen in den Augen auf Ines und auf sich selbst. Am Ende hatte Till viel über seinen Freund und auch über Ines erfahren, und auch so manches, was nie zuvor irgendwo ausgesprochen worden war. Hannes hatte das Gefühl, mit all dem, was er sich nun selbst klar vor Augen gerückt hatte, noch einmal ganz neu mit seiner Frau durchstarten zu können. Er glaubte, genau zu wissen, was künftig anders gemacht werden musste, aber er hatte keine Ahnung, wie er Ines dazu bewegen sollte, ihn anzuhören. Auch jetzt würde er es nicht schaffen, all seine Gedanken auf gute Weise zu Papier zu bringen.

»Sag mal, Till, würdest du das für mich machen?«, fragte er wie einer, der darum bat, für ihn eine Karre Futter ins Löwengehege zu schieben.

Im ersten Moment hielt Till das Vorhaben seines Freundes für absurd. Er malte sich aus, wie es ihm vorkommen würde, wenn er am Ende eines langen Briefes »Dein Hannes« schreiben würde. Seine Skrupel wurden aber innerhalb von 24 Stunden von der Hoffnung auf einen Erfolg besiegt. So kam es, dass er seinen ersten Brief in geheimer Mission schrieb und erreichte, dass Ines mit ihren Kindern wieder nach Hause kam. Was darüber hinaus geschah, hätte er selbst nicht für möglich gehalten.

Till sprach Hannes nie wieder auf ihre gemeinsame Aktion an, und auch Hannes verlor lange Zeit kein Wort darüber. Erst etwa zwei Jahre später, bei einem zufälligen Treffen im Hafen von Greetsiel, hatte Hannes etwas zu berichten. Es war in einem Moment, als Ines mit den Kindern zu einer Eisdiele schlenderte.

Hannes nahm seinen Freund zur Seite. Sie lehnten sich an die Hafenmauer und blickten auf die vielen bunten Fischkutter, die vor ihnen im Wasser dümpelten, und Till spürte deutlich, wie ihm diesmal etwas unter die Haut ging. Und zwar als Hannes sagte: »Du glaubst gar nicht, wie oft ich mir deinen Brief hervorhole, die Kopie davon, und ihn lese.«

»Du meinst deinen Brief«, sagte Till, ohne seinen Blick von den Kuttern zu lassen.

»Lass man! – Ich lese ihn. Der bringt mich immer wieder in Spur. Und ich will dir sagen, dass es bei uns so gut läuft wie nie zuvor.«

Die Gespräche zwischen Till und seinen geheimnisvollen Brief­kunden fanden so gut wie ausnahmslos per Telefon statt. Er ließ nicht irgendwelche Leute, die ihn im Internet oder auf kaum nachvollziehbaren Wegen aufgestöbert hatten, in sein Allerheiligstes. So hätte er seine Wohnung mit den hohen Decken und dem alten Parkett nie bezeichnet, aber so empfand er sie, sobald jemand dort aufkreuzte, der dort nicht hingehörte. Sie lag im Herzen Aurichs, da, wo vor Jahrhunderten die Cirksenas herrschten. Sie waren die Fürsten, die man in diesem Küstenlandstrich Häuptlinge nannte. Ihr Geist und herber Charme schienen in dieser Stadt nie gestorben zu sein. In Aurichs alten Gemäuern lebten sie, und im zehneckigen Mauso­leum auf dem städtischen Friedhof wohnte, was von der Herrscherfamilie greifbar übriggeblieben war. Dort lagen unterm Gewölbe in prachtvollen Särgen ihre Gebeine.

Till fühlte sich mit der ostfriesischen Geschichte zwar verbunden wie das Deichschaf mit der Herde, dennoch blieb er dem Ort der letzten Ruhe fern. Auf Friedhöfen herrschte eine Stille, in der die Predigten der Grabsteine nicht zu überhören waren. Zu Hunderten erzählten sie ihm von seiner eigenen Endlichkeit. Was er brauchte, war die Ablenkung vom Tod. Bei seinen Briefkunden fand er sie. Indem er ihnen zuhörte, sich in sie und ihre Katastrophen hineindachte, bekam er den spürbaren Beleg für seine eigene Funktionstüchtigkeit. Er lebte, konnte helfen, wo scheinbar nichts mehr zu machen war, und erntete dafür so lauten Dank, dass er fürs Ticken der eigenen Uhr kein Ohr mehr hatte.

Seine vielen und langen Telefonate dienten nicht nur dem Schutz seines privaten Bereiches. Bei einer direkten Begegnung fiel es den meisten Kunden schwer, in Offenheit alle relevanten Intimitäten auszubreiten. Der Blickkontakt und das Gefühl, von Till unter die Lupe genommen zu werden, hemmte. Am Telefon taten sich die meisten leichter. Dort bekam er zwar nichts von ihrer Mimik und Gestik mit, aber das war kein Beinbruch. Er hatte es gelernt, aufmerksam zuzuhören. So aufmerksam, dass es ihm häufig gelang, Wesentliches zwischen den gesprochenen Zeilen zu entdecken. Wenn seine Gesprächspartner das merkten, fühlten sie sich nicht entlarvt. Im Gegenteil, es tat ihnen gut. Denn ihnen wurde klar, dass ihr Fragesteller ihnen so interessiert und hellwach zuhörte, wie sie es kaum woanders erlebt hatten.

In einem weiteren Telefonat mit Marco Grossanter bekam Till zwar einiges von diesem Mann zu hören, allerdings wenig von brauchbarer Substanz. Egal, ob er ihn nach seinem Werdegang fragte oder ob er lediglich wissen wollte, wann er geheiratet hatte, Grossanter wich aus. Dies allerdings äußerst professionell, indem er wortreiche Selbst­darstellungen inszenierte. Irgendjemand musste ihm etwas von der Kraft seiner sonoren Stimme erzählt haben. Jedenfalls modulierte er an ihr ebenso viel herum, wie er an seiner akzentuierten Aussprache nach langsam gewählten Worten feilte.

Sein Auftreten machte Till immer misstrauischer, denn so hatte sich noch niemand verhalten, der ihn um einen Brief gebeten hatte. Eines hatten nämlich all diese Auftraggeber gemeinsam: Ihrem ersten Anruf war immer eine lange Überlegung und auch eine gehörige Überwindung vorausgegangen. Und sobald sie Till am Telefon hatten, waren sie darauf aus, ihn erst einmal anzuhören. Sie wollten erspüren, mit wem sie es zu tun hatten, bevor sie den Mut aufbrachten, ihm von sich mitzuteilen, was sie noch keinem gesagt hatten.

Als Grossanter Till dann fragte, welche Zielgruppen er eigentlich habe und ob seine Briefeschreiberei sich überhaupt lohne, unterbrach er ihn: »Herr Grossanter, was wollen Sie eigentlich von mir? Falls Sie mit dem Gedanken spielen, mir eine Unternehmensberatung anzu­dienen, muss ich Sie enttäuschen.«

»Wo denken Sie hin? Das ist nur meine alte Consultant-Krankheit. Ständig dreht sich alles um Effizienz und Wachstum.«

Gleich darauf legte er eine Prise Reumütigkeit in seine Stimme und sagte: »Aber Sie haben schon recht, wird Zeit, dass ich lerne, im Privaten mal den Hebel umzulegen. – Womit wir übrigens schon bei meiner Frau wären, lieber Herr Türmer. Wenn ich mal offen und ganz ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich sie im ständigen Business-Fieber wohl zu lange vernachlässigt habe. Und nun ist sie auf einen ziemlich zweifelhaften Typ hereingefallen und meint, mich mit ihm an der Seite strafen zu können.«

Als Till nicht reagierte, sondern auf weitere Informationen wartete, sagte Grossanter: »Wenn Sie mir da helfen, können Sie Ihren üblichen Honorarsatz übrigens vergessen. Ich werde mich da gerne sehr groß­zügig zeigen. Ein pikantes Thema muss schließlich ordentliches Gewürz in die Kasse bringen, finde ich. Und nach allem, was ich über Sie gelesen habe, haben Sie vor pikanten Themen ja keine Angst, oder?«

»Sprechen wir doch mal über Sie. Wovor haben Sie Angst?«

»Angst?«, wiederholte er, indem er versuchte, das Wort zeitgewin­nend zu dehnen, »guter Hinweis! Wenn ich auf die Uhr sehe und unser Gespräch nicht sofort vertage, kriege ich Angst, meinen Termin zu verpassen.«

Schon am nächsten Tag rief der Mann aus München wieder an: »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.«

Grossanter schien draußen zu telefonieren und sich stimmlich gegen den Wind zu behaupten. »Samstag, also morgen, bin ich geschäftlich da oben bei Ihnen in der Ecke, ganz in Ihrer Nähe. Ist doch bestimmt in Ihrem Sinne, mich bei der Gelegenheit mal Face to Face zu durchleuchten!? Oder sehe ich das falsch?«

»Sie durchleuchten? Ist doch unnötig. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass aus unserem Projekt nur etwas werden kann, wenn Sie mit offenen Karten spielen. Also gehe ich davon aus, dass Sie bisher offen waren und mir nichts als Wahrheiten auf den Tisch gelegt haben.«

»Selbstredend, Herr Türmer, ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen! Aber trotzdem. Kann doch nur von Vorteil sein, einem wie Marco Grossanter mal in die Augen zu sehen. Meinen Sie nicht auch?«

Es war Überheblichkeit, ja, geradezu Selbstherrlichkeit, die Till aus fast allem heraushörte, was dieser Mann sagte. Darum konnte er auch seine Andeutung in Sachen Honorar nicht so ganz ernst nehmen. Dennoch fand er einen merkwürdig unbestimmten Reiz darin, ihn am Samstag zu treffen.

Als Till durch seinen Kalender klickte, fiel ihm ein, dass er sich fest vorgenommen hatte, Samstag zum Krankenhaus zu fahren. Allerdings nur so fest, dass er es lediglich in seinem Kopf notiert hatte, denn er wusste, dort würde es ihm leichter fallen, etwas zu löschen als in seinem Kalender. Schriftliche Eintragungen waren für ihn so etwas wie das Grün einer Ampel, das ihn zum Durchstarten verpflichtete.

Als er sich ganz kurz vorstellte, wie es für ihn sein würde, am Bett eines Kranken zu stehen, kam ihm Grossanters Idee geradezu willkommen. Allerdings mochte er sich das kaum eingestehen. Kurzum beschloss er, am Samstag um 18 Uhr Zeit zu haben. Als Treffpunkt schlug er das Hotel Lamberti-Palais in Aurich vor. Das konnte er zu Fuß von seiner Wohnung aus erreichen. Es hätte ihm nicht geschmeckt, für dieses Treffen mehr Aufwand zu betreiben. Darum fand er es prima, dass Grossanter auf Anhieb einverstanden war.

Nach dem Gespräch lehnte Till sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück. Er fuhr mit der Hand über sein kurzes Haar, als wäre er auf Suche nach dem Greifbaren, das er bei Grossanter nicht so richtig fand. Es störte ihn, dass er bei jedem Gedanken an ihn nur Klischees sah: gelackter Typ, protziger Schlitten und am Handgelenk eine jener ins Auge springenden Kapitalanlagen, deren Hauptaufgabe es nicht war, die Zeit anzuzeigen.

Till schaute aus dem Fenster, ließ das Gespräch einen Moment wirken. Sein Blick lag auf der langen Reihe alter Linden, die in einiger Entfernung an der Straße standen. Mit ihren hohen, schwarzen Stämmen standen sie da wie riesige Wächter, die schon immer dort waren und nie gehen würden. Sie strahlten eine Verlässlichkeit aus, die er bei Grossanter nicht fand. Sie sind alle gleich, dachte er, und doch verschieden. Mitten in der Reihe ein Baum, der sich Jahr für Jahr hervortat. Nicht jetzt, im Sommer, aber im Frühling. Dann fiel er Till auf, weil er in seiner ausladenden Krone als erster einen zarten Schimmer Grün zeigte. Zuerst waren es nur winzige Knospen, die sich sonnenhungrig aus den Zweigen quetschten. Dann sprangen sie auf, Tage bevor es die zahllosen Triebe der anderen alten Wächter nachmachten. Bis die Blätter sich entfaltet hatten und die Straße wie ein Dach beschatten.

Bäume hatten ihm etwas voraus, dachte Till. Sie kannten kein Miss­trauen, sorgten sich nicht um die Zukunft und stellten sich schon gar nicht die lähmende Frage, wie lang ihre Zukunft wohl sein könnte. Sie führten einfach ihr Leben, setzten mit ihren jungen Trieben in jedem Frühling alles daran, ihre Lebendigkeit zu zeigen. Sie fürchteten sich im Regen nicht vor der Trockenheit, wiegten sich im Wind, hatten nichts gegen Dunkelheit und entfalteten sich im Licht. Und wenn einer von ihnen starb, war es halt so. Er machte Platz für den nächsten, der als Winzling darauf wartete, aus der Erde zu sprießen und es dem alten gleich zu tun.

Till war anders, noch nicht so weit wie die Linden. Irgendwie war er froh, den alten Jupp am Samstagabend nun doch nicht im Kranken­haus besuchen zu müssen, dort, wo alles nach Endlichkeit roch.

Schon mehrfach hatte er in den letzten Tagen an einen Kollegen gedacht, mit dem er vor über zehn Jahren seine journalistische Ausbildung gemacht hatte. Till kannte keinen, der sich in Münchens Schickeria besser auskannte als Simon. Nicht, dass auch er zu diesem Volk gehörte, aber als freier Journalist des Bayerischen Rundfunks und Drehbuchautor roch er häufig direkt in das Milieu hinein, über das andere nur bewundernd in Magazinen lasen. Es war schon wieder ein Jahr her, dass Till sich die Zeit genommen hatte, auf einer Dienstfahrt in den Süden einen Abstecher nach München zu machen. Die beiden wollten sich damals nur auf einen Kaffee zusammensetzen, redeten aber bis zum späten Abend.

Jetzt rief er Simon an. Leider meldete sich nur die Stimme seines Anrufbeantworters. Wenn er diesen Mann nicht bestens gekannt hätte, wäre das, was da in sein Ohr drang, ein Grund gewesen, sofort wieder aufzulegen. Der Simon, den er nun hörte, war nicht der, dem er sich seit zwei Jahrzehnten verbunden fühlte. Hier klang er reserviert, kurz angebunden, fast wie einer, bei dem man sich für seinen Anruf entschuldigen musste. Till wusste, woran das lag. Für seinen Freund waren sämtliche Kommunikationstechniken durchaus zweckmäßige Werkzeuge, nie jedoch zeitraubende Quasselgeräte.

Till entschuldigte sich nicht, er fasste schnell für Simon zusammen, was über Marco Grossanter zu sagen war und was jeder wissen durfte. Abschließend bat er seinen Freund darum, ihm spätestens bis Samstagvormittag mitzuteilen, was er über diesen Mann wusste.

Am Samstagnachmittag schickte sein Freund endlich eine SMS. Darin stand: »Bin für den BR in Amman. Ziemlich eingespannt. Du und Grossanter? Lass die Finger von dem. Es sei denn, du willst ohne Honorar arbeiten. Nächste Woche mehr. Gruß, Simon!«

Till wurde ungeduldig, drückte auf Antwort, schrieb zurück.

»Danke, aber das ist mir zu wenig. Bitte ein bisschen konkreter, wenn möglich. Ich treffe ihn gleich.«

Die Antwort ließ auf sich warten. Noch eine Viertelstunde bis zum Treffen. Er machte sich auf den Weg zum Lamberti-Palais, zog unterwegs sein Handy aus der Tasche. Mit einer weiteren Info von Simon wäre er lieber in sein Gespräch gegangen. Till kam pünktlich an. Das hieß in seinem Fall, fünf Minuten vor dem Treffen. Ihm ging es nicht um Überpünktlichkeit. Wo auch immer er sich mit jemandem verabredete, wollte er der Erste sein. Manchmal kam er auch eine Viertelstunde früher. Er legte Wert darauf, sich mit dem Ort vertraut zu machen, die Atmosphäre zu schnuppern, möglichst genau zu wissen, wo er war.

In der Lounge war es still. Rechts von ihm blickte er auf eine zweiflügelige Tür, hinter der er einen Saal vermutete. Dumpf drang von dort die Unterhaltung einer größeren Gesellschaft zu ihm herüber, dann Gelächter. Die Tür öffnete sich, ein paar festlich gekleidete Frauen und Männer kamen heraus, gingen lachend durch die Hotelhalle, um vor der Eingangstür eine Zigarette zu rauchen. Till sah sich um, suchte sich einen Platz, von dem aus er durch die große Glasfront die Hotelzufahrt im Blick hatte.

Ein Kellner kam, fragte, ob der Herr einen Wunsch habe. Was Till sich wünschte, konnte dieser Mann ihm nicht geben. Weil er aber so aussah, als ließe er sich nicht davon abhalten, Wünsche zu erfüllen, bestellte Till einen Kaffee. Die überaus galante Bedienung verneigte sich tief. Zu tief, für Tills Geschmack, und sagte, was sein Gast befürchtet hatte: »Seeeeehr gern!« Dieses »Sehr« hatte der Kellner so sehr in die Länge gezogen, dass in Till etwas zu reißen drohte. Er mochte Höflichkeiten, wenn sie ehrlich waren. Wenn nicht, fühlte er sich dermaßen gestochen, dass es ihm schwerfiel, nicht unhöflich zu reagieren.

Zehn nach sechs brummte es in der Seitentasche seines Blazers. Nun war doch noch etwas von Simon gekommen. Eine ziemlich lange Nachricht – für seine Verhältnisse. Wieder wurde die Saaltür geöffnet. Die fröhliche Stimmung von nebenan gesellte sich wie ein Fremdkörper an Tills Seite. Er ignorierte sie, las, was Simon mitzuteilen hatte: »Der Mann hatte und hat nichts. Außer ein unverschämtes Selbstdarstellungstalent. Er hatte auch eine Frau. Eine ganz liebe. Millionenerbin. Ihr Geld hat er an der Börse verzockt. Gesessen hat er auch. Hat als Unternehmensberater Kunden betrogen und das Geld in ein paar Luxusschlitten und jede Menge Reisen gesteckt. Seine Frau ist jetzt mit dem Staatsanwalt liiert, der ihn ans Messer geliefert hat. Kein Witz! Das ist verbindlich. Sollte dir reichen. Halt die Ohren steif, mein Bester, und mach keinen Fehler.«

Für einen Augenblick wusste Till nicht so recht, wie er nun vorgehen sollte. Dann stellte er fest, dass er sich entspannt und sogar erleichtert fühlte. Denn was er erfahren hatte, bewies ihm, dass auf seinen Bauch doch noch Verlass war. Nun wollte er noch eine Zeitlang in seinem Ledersessel bleiben – in der Hoffnung, seinem Gast sehr bald in die Augen sehen zu können.

Fünf vor halb Sieben glitt eine stattliche PS-Eleganz langsam über die Hoteleinfahrt auf den Eingang zu. Ein schwarzer Jaguar. Eine maskuline Gestalt, die im Film prima die Gewinnergesellschaft verkörpern könnte, stieg aus, schritt geradewegs in die Eingangshalle, schwenkte einen kurzen Moment den Blick hin und her, bis er auf Till sicher landete.

Obwohl die Männer sich nie begegnet waren, wussten beide im selben Moment, wen sie vor sich hatten. Tills Gast trat im dunklen Anzug und mit einem Lächeln auf ihn zu und streckte ihm dynamisch die Hand entgegen.

»Marco Grossanter!«, sagte er, und augenblicklich war es wieder da, genau das, was Till schon am Telefon gestochen hatte, diese breite, tiefstimmige Inszenierung.

Till quittierte sie mit einem freundlichen Lächeln, in dem nur seine besten Freunde Ironie entdeckt hätten, und reichte ihm seine Hand. Wie einer, der nun umgehend zur Sache kommen wollte, ließ Grossanter sich auf dem Sessel gegenüber nieder. Sein eigentliches Thema sprach er dann aber doch nicht an, und eine Erklärung für seine Verspätung lieferte er auch nicht. Stattdessen formulierte er lobende Worte über die ostfriesische Küstenlandschaft und die Freiheit, die den Menschen dort mit der Weite schon in die Wiege gelegt werde.

»Sie wissen ja wahrscheinlich, was man sich über unseren Landstrich erzählt«, sagte Till.

Weil der Andere ihm mit fragendem Blick seine Ahnungslosigkeit zeigte, verriet er es ihm. »Dass man hier schon morgens sieht, wer einen abends besuchen kommt. Man hat also viel Zeit, sich auf seinen Gast vorzubereiten.«

Grossanter wollte darauf eingehen, aber Till hatte noch etwas anzuknüpfen. »Auch ich habe übrigens über die Freiheit nachgedacht, nicht nur über die ostfriesische. Wann hat Ihre Frau Sie eigentlich verlassen, während oder nach Ihrer Inhaftierung?«

»Verstehe.« Er kniff die Lippen zusammen. »Daher weht also der Küstenwind. Kompliment. Ich mag es ja, wenn einer nicht mit seinem Wissen hintern Berg hält und klar zur Sache kommt. Aber mit Ihrem Tempo – das muss ich gestehen – haben Sie mich nun doch ein wenig überrascht.«

Es gab eine kurze Unterbrechung, weil der Kellner kam und nun auch der neue Gast einen Kaffee bestellte.

»Kompliment, Herr Türmer«, sagte er noch einmal, diesmal sehr lang gedehnt, und sah Till so freundlich an, als hätte der ihm gerade einen Ball zugespielt. »Sie kommen ja schneller auf den Punkt als ich meine Karten auf den Tisch legen kann.«

»Welche wollten Sie denn gerade ausspielen?«

»Das hier ist kein Spiel«, sagte er ernst. »Da Sie bereits im Bilde sind, will ich Sie nicht mit der Vorgeschichte langweilen. Aber eines muss klar ausgesprochen werden …«

Grossanter beugte sich vor, stützte seine Ellenbogen auf die Oberschenkel und presste die Handflächen zusammen. »Ich habe einen Fehler gemacht, indem ich das Kapital meiner Kunden anders als vereinbart angelegt habe«, sagte er fast flüsternd. »Das ist ein No-Go, und dafür bin ich in den Knast gegangen. Außerdem habe ich dafür finanziell geblutet. Natürlich kann man die Sache auch anders sehen. Wenn das nicht aufgeflogen wäre, hätten meine Kunden Riesengewinne gemacht. Und keinen dieser Saubermänner, das können Sie mir glauben, Herr Türmer, hätte es einen Dreck interessiert, wie ich das gemacht habe. Damit will ich …«

Till stoppte ihn mit erhobener Hand. Er wollte nicht noch weitere Halbwahrheiten hören. Wenn Grossanter zugegeben hätte, mit dem ergaunerten Geld sein Luxusleben finanziert zu haben, wäre das immerhin eine beeindruckende Aussage gewesen. Eine, mit der er womöglich eine Tür bei Till hätte öffnen können. Nun blieb sie zu. Er hatte keine Lust mehr, in diesen Mann noch mehr Zeit zu investieren und machte Anstalten aufzustehen.

»Herr Grossanter, die Details Ihres Delikts spielen hier keine Rolle. Ich möchte Sie bitten, die Angelegenheit mit Ihrer Frau auf andere Weise zu lösen.«

»Moment! Machen Sie sich keine Sorgen, diese Geschichte ist längst völlig clean. Außerdem, mein Auftrag ist nicht irgendeiner. Das werden Sie schon noch feststellen. Da steckt eine Menge für Sie drin, weitaus mehr als Sie kalkulieren. Sie sollten also nicht so vorschnell urteilen, Herr Türmer.«

Till stand auf. Er sah seinen Gast an wie einen, der mit schwerem Gepäck zum Bahnsteig gehechelt kommt und feststellt, dass sein Zug ihm vor der Nase abgefahren ist.

»Herr Grossanter, Sie liefern mir nur Ihre Halbwahrheiten und begreifen nicht, wie unglaubwürdig Sie sich dadurch machen. Glauben Sie im Ernst, dass ich Ihnen helfen kann, wenn ich weiß, dass ich im Grunde nichts über Sie weiß? So kann aus Ihrem Plan nichts werden. Machen Sie’s gut!«

Er ging entschlossenen Schrittes durch die Hotelhalle, bezahlte beim Kellner seinen Kaffee und noch einen zweiten. Dann verschwand er hinter einer Tür.

Mit seinen dunkel glänzenden Marmorwänden bot ihm dieser weite Toilettenraum eine Art eleganter Klausur. Hier gab es keine scheinheiligen Gespräche, hier herrschte konzertante Stille, die durch leise Musik aus unsichtbaren Lautsprechern kam. Er hatte das Gefühl, sich die Hände waschen zu müssen, abzuspülen, was nach seiner Begegnung mit Grossanter an ihm klebte.

Till blieb vor der Wand am Ende des Raumes stehen. Er spürte, wie Gelassenheit sich in ihm ausbreitete. Seine Beine standen fest auf dem polierten Boden, er spürte seine Fußsohlen, genoss das Gefühl, am Pissoir mit jedem Atemzug mehr bei sich selbst anzukommen. Sein Blick haftete entspannt auf dem undurchsichtigen Glas eines auf Kipp gestellten Fensters, durch das das Tageslicht vom rückwärtigen Hotel-Parkplatz zu ihm schien.

Dann schaute er nach unten. Neben seinem rechten Fuß stakste eine Schnake auf ihren langen, zerbrechlich wirkenden Beinen über den dunkel glänzenden Boden. Ein Wesen, das an diesem Ort so fehl am Platz war wie ein Marco Grossanter, wenn er es sich in Tills Wohnzimmer gemütlichen machen würde. Er hob die Zehen an, schwenkte seinen Schuh langsam über das Insekt und senkte ihn wieder, bis es leise unter der Sohle knirschte.

Er war gerade im Begriff zu gehen, als die Stille plötzlich einen ganz anderen Klang bekam. Die Stimmen von zwei Frauen drangen aus allernächster Nähe zu ihm. Er schaute auf das Fenster, konnte die beiden durch das rubbelige Reliefglas schemenhaft sehen. Mit dem, was er dann hörte und belauschte, war inhaltlich zwar kaum etwas anzufangen, und doch scheuchte es sein Gehirn und seine Gefühle auf.

»Du willst doch jetzt nicht im Ernst wegfahren! Hast doch noch nicht mal ein Wort mit unserem Jubelpaar gesprochen.«

»Das muss aber sein«, sagte die andere mit einer merkwürdigen Bestimmtheit, in der allerdings nichts Hartes war. Stattdessen aber eine liebevolle Klarheit. So wie die einer Lieblingslehrerin, für die man sich gerne sogar an die unangenehmste Aufgabe heranmacht.

»Aber jetzt ist doch eh alles vorbei.«

»Wenn’s vorbei ist, heißt das aber nicht, dass alles zu spät ist«, hörte Till von der Lehrerinnenstimme.

»Keine Ahnung, was du damit meinst, ist auch egal, aber ich finde, dass du dir zumindest bis nach dem Essen Zeit lassen könntest.«

»Nein, Ute, ich muss zu ihr. Und zwar jetzt. Es geht doch nicht, dass sie da so allein liegenbleibt. Ich möchte erst einmal einfach bei ihr sein.«

Es war nicht nur Neugierde, die Till beim Belauschen dieses rätsel­haften Gesprächs aufhorchen ließ. Er fühlte sich angezogen von der Frau, die nun gleich mit so unbedingter Bestimmtheit abfahren würde, und in ihm flimmerte die Frage herum, woher diese Anziehung kam? Schließlich kannte er die Frau überhaupt nicht. Ihr Aussehen konnte auch nicht der Grund sein, weil sie für ihn durchs geriffelte Fenster nur als ein diffuser Flecken auszumachen war. Lag es an ihrer geheim­nisvollen Mission, an der liebevollen Klarheit, an ihrer Stimme?

Ja, ihre Stimme war nicht irgendeine. Er kannte dieses Timbre, diese Klarheit und Intensität. Und er ahnte, woher. Ihm kam eine Erin­nerung, die das Rätsel auf der Stelle zu lösen schien. Sogleich mischte sich allerdings die Einsicht dazwischen, dass diese Lösung keine sein konnte. Sie war viel zu unwahrscheinlich. Till blickte zur Seite auf die Marmorwand. Er versuchte, sich nur auf das zu konzentrieren, was er hörte. Bilder rasten durch seinen Kopf. Sie waren etwa drei Jahre alt. Bilder von einem Frühlingsabend und einer Nacht. Von einer Leidenschaft, die so köstlich nach Weite und Unendlichkeit schmeckte und noch in derselben Nacht wie weggesperrt verschwand.

Till Türmer und die Angst vor dem Tod

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