Читать книгу Till Türmer und die Angst vor dem Tod - Andreas Klaene - Страница 8

Entdeckung

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Ihm war völlig klar, dass seine Chance, die Frau im roten Mini zu finden, nur minimal war, andererseits erschien sie ihm als zu groß, um sie nicht zu nutzen. Ein Blick auf die Armbanduhr sagte ihm, dass er noch zwei Stunden bis zum nächsten Termin hatte. Also könnte es klappen. Etwa fünfunddreißig Minuten würde er für die Hinfahrt brauchen. Dann bliebe ihm immerhin noch fast eine Stunde Zeit für seine Suche.

Von Aurich aus steuerte er seinen in die Jahre gekommenen Benz Richtung Nordwesten bis zu dem kleinen Ort Upgant-Schott. Dort bog er links ab und fuhr geradewegs Richtung Meer. Vor ihm tauchte das Fischerdorf Greetsiel mit seinen zwei Windmühlen und den alten Bürgerhäusern auf.

Er spielte für einen Augenblick mit dem Gedanken, in den Ort zu fahren. Es war schon immer so, dass er sich von diesem Greetsiel angezogen fühlte. Das hatte mit den kleinen, rot gepflasterten Straßen zu tun, deren uralte Fassaden noch viel von den Circsenas erzählten, jenen Grafen, die hier ihre Häuptlingsburg hatten. Das hatte aber auch mit dem kleinen Hafen und seinen Krabbenkuttern zu tun, an dessen Kaimauer es nach Grenzenlosigkeit roch.

Er hatte keine Zeit, sich auf die Erzählungen der alten Backsteinhäuser einzulassen. Aber das war nicht schlimm, denn die Strecke, die nun vor ihm lag, gehörte zu seinen Lieblingstouren. Er steuerte über die schmale Störtebekerstraße Richtung Süden. Wie der lange Riemen einer Peitsche, die Freibeuter hier vergessen hatten, durchschnitt sie die Weite grüner Felder und Wiesen. Links und rechts, bis zum Warfendorf Pilsum, breitete sich das Grün wie ein gebügeltes Tuch auf einer riesigen Tafel aus. Rechts, in weiter Ferne, ragte der kleine Pilsumer Leuchtturm mit seinen gelben und roten Streifen aufmüpfig in den Himmel.

Nach ein paar Kilometern sah Till Manslagt vor sich liegen. Es kam ihm ungewöhnlich vor, nicht hundert Meter weiter links ins Dorf abzubiegen und Casjens’ Reiterhof anzusteuern. Aber seine schwarze Stute stand heute nicht auf dem Programm, und jetzt war auch keine Zeit, mit Enno über Jupp und das Begräbnis zu reden.

Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, Enno telefonisch bis zum Abend hingehalten zu haben. Er sah auf die Uhr hinter dem Lenkrad, meinte, gut in der Zeit zu sein, trat aber dennoch tiefer aufs Gas. Er musste über sich selbst lachen, als er merkte, dass er es ausgerechnet auf Höhe von Manslagt so eilig hatte. Schließlich wusste er, was man sich über dieses Dorf erzählte. Dort sollten die Frauen vor fast tausend Jahren ihre Männer erschlagen haben, und angeblich bedeutete Manslagt nichts anderes als Mord.

Wieder drängte sich der Gedanke an Enno ins Gehirn. Was er auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte, schien hier, ein paar hundert Meter von seinem Hof entfernt, lauter, vehementer zu klingen. Es ließ sich nicht einmal vom Gedudel des Autoradios übertönen. Aber sobald Manslagt zu einem winzigen Bild im Rückspiegel geworden war, wurde auch Ennos Nachricht ganz klein und immer leiser, bis nur noch das Schnurren des Motors zu hören war.

Ein Wegweiser sagte ihm, dass es nur noch vier Kilometer bis Pewsum waren. Ein Hinweis, der auf ihn wie ein Wecker wirkte, der ihn schrill aus dem Traum in die Aufmerksamkeit riss. Ihm wurde klar, dass seine Aktion völlig sinnlos wäre, wenn er seine Augen nicht ab sofort auf Rot eichte. Aber nun machte ihm sein Realitätssinn zu schaffen. Er hielt ihm vor, seine Zeit auf Suche nach einem ganz bestimmten roten Fahrzeug nur zu vergeuden. Die Frau, die Sarah heißen und in Pewsum zu Hause sein sollte, war womöglich verreist. Vielleicht stand ihr Auto für ihn unsichtbar in einer Garage. Sein Verstand kannte aber auch eine positive Denkart: Dieses Dorf war so überschaubar, dass es überhaupt nicht unwahrscheinlich war, fündig zu werden. Erst recht zu dieser Stunde. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor sechs, und die meisten hatten bereits Feierabend. Wer also heute mit dem Auto unterwegs war, dürfte mittlerweile wieder zu Hause angekommen sein.

Sobald Till das gelbe Ortsschild vor sich sah, schaltete er einen Gang herunter. Am liebsten wäre er von nun an im Schneckentempo weitergefahren, um links und rechts die Parkstreifen und Hofeinfahrten zu kontrollieren, aber das ging nicht. Die Autos, die er im Rückspiegel sah, gebärdeten sich wie gereizte Verfolger, die drauf und dran waren, sein gedrosseltes Tempo mit einem Tritt ins Hinterteil zu ahnden. Er beschleunigte dennoch nicht, zuckelte über die Manningastraße geradewegs Richtung Ortskern und versuchte, die ungeduldige Meute hinter sich zu vergessen.

In diesem Moment meldete sich sein Handy. Er ließ es auf der Mittelkonsole liegen, warf nur einen genervten Blick aufs Display. Was er dort sah, war eine Überraschung. Allerdings keine, die ihn beflügelte, denn Grossanter war es, der gerade versuchte, ihn hier oben in der Krummhörn aufzuspüren. Till hatte schon befürchtet, diesen Mann nicht mit einem Kaffee loszuwerden. Typen wie er, dachte er, haben leider zu oft die Erfahrung gemacht, mit Penetranz ans Ziel zu kommen. Er rührte das Handy nicht an und sehnte sich mit jedem Ton mehr sein Schweigen herbei.

An einem kleinen Kreisverkehr bog er rechts ab, und endlich hörte das Klingeln auf. Als er sich wieder ganz auf seine Suche konzentrierte, wurde ihm bewusst, dass sie lediglich auf Hoffnung und Zufall basierte. Es war also egal, welche Straßen er abklapperte. Jede konnte die richtige sein.

Wie einem inneren Kompass folgend schlug er einen engen Bogen um den Kern des uralten Warfendorfes. Vorbei an prächtigen Villen fuhr er langsam über die Burgstraße auf den Drostenplatz. Sein Blick scannte sämtliche entgegenkommenden und parkenden Autos, und er fragte sich, was es wohl war, das ihn zu dieser Stelle zog. War es der alte Baumbestand, dessen mächtige Kronen Vögel jeglicher Art anlockten, und nun auch einen so komischen wie ihn? Er ließ sein Auto über die rote Pflasterung mit ihren Kreismustern bis vor einen der borkigen Stämme rollen und stellte den Motor aus. Vor ihm erhob sich die Häuptlingsburg der Manningas mit ihrem gelben Gemäuer. Er stieg aus, ging ein paar Schritte auf das Gebäude zu. Ein schwarzer Graben umringte die Burg, machte sich vor ihr breit wie ein muskulöser Türsteher. Die Sonne hatte seine dunklen Arme mit dem Spiegelbild des gelben Herrschersitzes tätowiert.

Als Till über das Wasser schaute, landete sein Blick auf einer Reihe hoher Linden. Zwischen den hinteren Stämmen parkte ein rotes Auto. Es war so klein, dass es in sein Suchraster passte. Die Bäume versuchten, es unter ihren Schatten zu verstecken.

Nun hatte er es eilig. Eng schlängelte er sich am weißen Lattenzaun eines Hauses vorbei, weil die vorbeifahrenden Autos mehr Platz brauchten, als die mittelalterlichen Stadtplaner gedacht hatten. Endlich konnte er den Wagen genauer erkennen. Er sah seine linke Seite. Ja, es schien tatsächlich ein Mini zu sein. Doch nach ein paar weiteren Metern wurde ihm klar, dass er umkehren konnte. Der Wagen hatte ein Hamburger Kennzeichen.

Halb Pewsum schien an diesem frühen Abend auf den Beinen zu sein, aber Till registrierte die vielen Radfahrer und Fußgänger kaum. Seine Augen schienen nur dann mit dem Gehirn zu korrespondieren, wenn sie auf ein rotes Auto trafen.

Mit Selektionsblick machte er sich auf den Weg über die Burg­straße in die Jannes-Ohling-Straße. Er merkte, wie schnell ihm die überschaubare Größe des Dorfes über den Kopf wuchs, da die Zeit bis zu seinem Termin so spürbar schrumpfte. Ihm fiel ein, dass er unbedingt noch etwas für sein Frühstück am nächsten Morgen einkaufen musste. Darum wollte er noch einige Straßen fahrend inspizieren und zwischendurch beim nächsten Supermarkt Halt machen.

Till fuhr nun wahllos durchs Dorf. Er verließ die mittelalterliche Welt des Ortskerns, schlich durch moderne Siedlungen, vorbei am Sportplatz und über die Philipp-Reemtsma-Straße bis zum Friedhof, wo Grabsteine das Ende Pewsums markierten.

Genau dort tauchte Jupp wieder in seinen Gedanken auf, dieser gutmütige hagere Mann mit seinem ewig schlecht rasierten Gesicht. – Ewig? Auf seinem inneren Film erkannte er, dass das nicht stimmte. Manchmal war sein stoppeliges Kinn ganz glatt. Und zwar immer sonntags. Till fragte sich, warum ihm das nicht eher aufgefallen war, viel früher, als Jupp noch lebte. Das wäre für ihn ein Anlass gewesen, diesen Mann noch genauer zu betrachten, zum Beispiel herauszubekommen, was Sonntage ihm bedeuteten. Auf diesem Hof waren sie wie jeder Tag, weil Pferde nach Kontinuität verlangten. Womöglich wechselte Jupp auch nur zum Wochenende seine Unterwäsche. Diese Vorstellung verwarf Till auf der Stelle. Er trug zwar immer seine um die knochige Gestalt flatternde Jeans und sein am Kragen abgewetztes Karohemd, aber er müffelte nie. Jedenfalls nicht nach Mensch, nur nach Stall und nach den Pferden, die er dort versorgte. Und die stanken nicht. Genau wie sie roch Tills größter Kindheitstraum, in dem er sich vor seinem eigenen Pferd stehen sah. Er glitt mit seiner kleinen Hand über die lange Blesse, drückte sein Gesicht auf die weiche, muskulöse Schnauze und war selig, wenn er den Duft, der aus den Nüstern wehte, inhalieren konnte.

Jupp müssen sie wohl etwas bedeutet haben, diese winzigen Unterschiede in der Monotonie der Zeit. Vielleicht verzauberten sie seinen ständigen Gleichschritt heimlich in Walzerrhythmen. Jetzt bewegte er sich nicht mehr. Also konnte auch er nichts mehr bewegen. Nie mehr. Till fragte sich, ob das stimmte, ob von Toten wirklich nichts mehr ausging, und er spürte, dass er mit dieser Frage nichts zu tun haben wollte. Sie stand plötzlich wie ein Gespenst vor ihm in einem dunklen Raum, in dem es keinen Lichtschalter gab. Dann sah er Jupp leblos dort liegen, aber es war nicht der Mann, den er kannte. Der Tod hatte seine Persönlichkeit geplündert und nur die miese Kopie eines Menschen liegen lassen. Diese Vorstellung erinnerte Till aber nicht nur an Jupp, der erst jetzt, nach seiner Existenz, so richtig in ihm zu leben begann. Sie rief ihm mit schriller Stimme ins Bewusstsein, dass auch er irgendwann zur toten Kopie seiner selbst werden würde.

Der Verkehr hatte sich beruhigt. Till musste also nicht mehr ständig auf der Flucht vor drängelnden Autofahrern sein. Mit Luchsaugen hatte er bereits mindestens zwei Dutzend Straßen durchschlichen. Rote Autos fuhren und standen überall, aber das, was er suchte, verbarg sich.

Immer häufiger schaute er auf die Uhr. Am liebsten hätte er seinen Abendtermin abgesagt oder zumindest verschoben.

Stattdessen gab er Gas, fuhr auf der Manningastraße Richtung Ortsausgang und kam zu einer breiten Einfahrt. Sie führte auf den großen Parkplatz genau jenes Supermarktes, den er an anderen Tagen im Vorbeifahren gesehen hatte.

Am hinteren Ende angekommen, nahm er ein Stück Schimmelkäse aus dem Regal und bat die Verkäuferin, zehn Scheiben Gouda für ihn zu schneiden. Till sah auf ihre Hände, die in weißen Einweg­handschuhen steckten und den gelben Käselaib ans rotierende Messer der Schneidemaschine pressten. Die Frau sah so aus, als hätte sie außer dem Käse auch noch das Leben im Griff. Sie funktionierte. Bestimmt, so dachte er, ebenso zuverlässig wie das blitzend rotierende Messer. Das tat nach Kräften alles, was die Hände der Frau von ihm verlangten. Er malte sich aus, wie die scharfe Stahlscheibe mit Fingern und Knochen fertig werden würde und spürte plötzlich ein Verlangen nach Szenenwechsel.

Till drehte sich um, schaute mit einem Blick, der keinerlei Ziel hatte, in die langen Gänge. Erst als ein paar Schritte vor ihm eine Frau mit ihrem Kind zwischen den Reihen auftauchte, vergaß er das Messer, das hinter ihm seine Arbeit tat. Ihr Einkaufswagen war bis an den Rand mit Waren gefüllt, und ihre Tochter thronte mittendrin. Er musste unweigerlich lächeln. Die Kleine sah es und lächelte zurück. Zuerst ganz spontan, dann verschämt. Er wollte ihre Scham vertreiben, zwinkerte ihr zu und erreichte damit, was er partout nicht wollte. Das Mädchen lehnte sich über die Brüstung des Wagens – wie eine, die unmittelbar vor ihrem akrobatischen Auftritt stand. Noch ein schneller Blick zu Till, und schon schob sie ihren kleinen Oberkörper weiter über den Rand, hielt sich fest und ließ ihn ganz langsam an der Außenseite so tief sinken, dass das Blut ihrem hellen Gesicht Farbe gab.

Die junge Frau schien nichts von dieser Vorführung mitzubekommen. Ihre Augen hafteten mit der Ruhe einer Eule mal auf dem Einkaufs­zettel, der zwischen ihren Fingern klemmte, mal auf dem Regal. Sie reagierte auch nicht, als ein Apfelsaftpaket aus dem Wagen auf den Boden klatschte. Schlagartig lebendig wurde sie, als Till danach schnappte und es in den Wagen legte.

Sie sah ihn mit einer freundlichen Quirligkeit an, die er bei so einem Eulenmenschen nie vermutet hätte, sagte auch etwas zu ihm, irgendetwas, das auf gewiss herzliche Weise ihren Dank ausdrückte. Doch was, das bekam er nicht mit. Er registrierte, dass hinter ihr eine andere Frau auftauchte, eine, die gerade dabei war, nicht nur seinen Gehörsinn zu entern.

Dennoch bekam er mit, dass er gerufen wurde, und zwar in einem Ton, der ihm sagte, dass es zuvor bereits einen Ruf gegeben hatte, einen, der nicht bei ihm angekommen war.

»Hallo, junger Mann, Ihr Käse! Oder darf es sonst noch etwas sein?!«

So ganz schien diese Frau das Leben doch nicht im Griff zu haben, wenn sie einen wie ihn, der seine Zeit und das Leben überhaupt tausend Mal hin und her gewendet hatte, wie einen Siebzehnjährigen ansprach. Er hob zum Zeichen, dass er verstanden hatte, die Hand Richtung Käsetheke, ohne sich umzudrehen. Die Frau mit den Einweghandschuhen sollte nicht noch einmal rufen. Er würde schon kommen, jedoch nicht auf der Stelle.

Inzwischen war die Frau, die soeben einiges in ihm durcheinander gebracht hatte, zwischen den Regalen verschwunden. Diese Tatsache brachte ihm nicht gerade Ausgeglichenheit. Er machte kehrt, schnappte sich den Gouda, der in weißem Papier griffbereit auf der Glasfläche lag, warf der Verkäuferin ein verlegenes Lächeln und ein schnelles »Danke!« zu, schenkte der Mutter und ihrer kleinen Akrobatin im Vorbeieilen ein charmantes Gesicht und machte sich zielstrebig mit seinem Wagen davon.

Till schob bis zur nächsten Kreuzung, blieb stehen, schaute links und rechts und entschied sich für rechts. Beim Halt an der nächsten Kreuzung das Gleiche. Wieder bog er rechts ab, schob noch schneller durch den langen Gang, bugsierte an Männern und Frauen vorbei, die in den Weiten dieses Warenwaldes offensichtlich nicht auf ra­sante Fahrer gefasst waren. Manche standen plaudernd da, als befänden sie sich mitten im Wald und packten gleich ihr Picknick aus. Eine dickliche Frau, die ihn kommen sah, riss ihren mitten im Weg dümpelnden Einkaufswagen an ihren Leib. Als er im Vorbei­ziehen ein Wort des Dankes fallen ließ, sah sie ihn begeistert an wie einen Marathonmann, der noch die Kraft aufbrachte, sie trotz aller Erschöpfung in der Zielgeraden zu grüßen. Von solchen Frauen ging etwas Rührendes aus, etwas, das ihn auch durchaus erwischte. Aber nur wie ein kitzelnder Streifschuss.

Im nächsten Augenblick machte er eine Entdeckung, die in seinem inneren Maschinenraum alles auf Stopp stellte: Sarah war endlich wieder aufgetaucht und schlenderte suchend an den Regalen entlang.

Für Till hatte dieser Moment aber etwas Unwirkliches. Jetzt, wo er sie klar vor Augen hatte, bekam er Zweifel. Er fragte sich, ob es wirklich sein konnte, dass er sie mit nur einer einzigen Suchaktion gefunden hatte. Und noch ein anderer Gedanke fing an, in ihm zu wabern: Er hatte sie doch nur ein paar Sekunden lang hinter dem Lamberti-Palais gesehen. Reichte solch eine Minisequenz, um einen Menschen Tage später zwischen anderen klar identifizieren zu können?

Er war sich so gut wie sicher, dass diese Frau Sarah war, obwohl sie nun nicht im festlichen Kleid vor ihm aufkreuzte und obwohl sie ihr dunkles Haar in diesem Supermarkt ganz anders trug. Jetzt hatte sie es zusammengebunden, und auch das schwarze Shirt, das nun weit ihren Oberkörper umspielte, hinterließ eine andere Atmosphäre als das Bild, das er in Erinnerung hatte. Hingegen das Rot einer scharfen Chili-Schote, das sich als Jeans um ihren Po und ihre Beine schmiegte, das schien eindeutig ein Merkmal der Frau zu sein, die er hinterm Hotel in Aurich viel zu schnell aus den Augen verloren hatte.

Till hatte es jedenfalls überhaupt nicht mehr eilig. Er schob seinen Wagen in ihre Richtung, musste auf dem Weg dorthin noch einiges in seinem Kopf klären.

Was ihm jetzt, während er dieser Frau mit jedem Schritt näher kam, am meisten zu schaffen machte, war seine eigene Rolle. Er dachte an das, was er hier veranstaltete, und hielt sein Verhalten nicht gerade für erwachsen. Till kam sich geradezu pubertär vor. Er entlarvte sich als einen, der kopflos Stunden seines Arbeitstages investierte, um eine Frau aufzuspüren, die er nicht kannte und die bei näherem Hinsehen zur Enttäuschung mutieren konnte. Und schlimmer noch: Er musste daran denken, wie Hunde sich gebärdeten, männliche, wenn sie den Duft einer läufigen Hündin in der Nase hatten: Nichts konnte sie aufhalten, sie liefen zielstrebig der Nase nach. Ohne Gehirn. Auch über jede Schnellstraße.

Nein, dieses Bild passte nicht, dachte er, nicht zu ihm, und schob es mit dem Einkaufswagen aus seinem Gedankenweg. Im Grunde hatte er doch gar keine Ahnung, wie er die Frau, die mittlerweile direkt neben ihm immer nach weiß Gott was suchte, einschätzen sollte. Wenn ihre Stimme die richtige wäre, das wusste er, könnte sie der Himmel sein, der in Eichendorffs Gedicht die Erde küsste.

Ohne es geplant zu haben, verhielt Till sich nun ganz automatisch wie sie: Er suchte. Was, das wusste er noch nicht. Aber sein Hin-und-her-Geschlendere sollte sie wissen lassen, dass sie beide etwas gemein­sam hatten. Wenn zwei unter Vielen ihre Gemeinsamkeit entdeckten, konnte sie das zusammenbringen. Zumindest wäre das ein Grund, etwas zueinander zu sagen.

Er blickte ratlos auf zahllose Deoflaschen, Aftershaves und Zahncremes, die sich akkurat wie Soldaten bei einer Militärparade präsentierten. So, als könnte er mittlerweile nicht mehr daran glauben, auf eigene Faust fündig zu werden, schaute er kurz zu ihr hinüber. Sie ließ sich jedoch nicht stören, konzentrierte sich auf ihre eigenen Besorgungen. Dann hörte er, wie sie etwas sagte. So, als würde sie mit sich selbst sprechen. »Ich könnte es ja wissen.«

Er schaute sie an. »Hm? – Meinen Sie mich?«

Nun blickte Sarah ihm so offen und freundlich ins Gesicht, als wäre selbstverständlich er gemeint. »Was könnten Sie wissen?«

»Wo Sie finden, was Sie suchen.«

»Aha, das ist ja nett«, sagte er, und seinen Augen war anzusehen, dass er ihr Angebot noch viel netter als nett fand. »Aber Sie scheinen ja selbst auch noch nicht fündig geworden zu sein.«

»Ich weiß aber, dass es hier direkt vor mir steht. Stehen muss! Ich meine, in diesem Regal.«

»Ach so, Sie stecken also auch in dem Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht?!«

»Manchmal guckt man halt mit dem falschen Auge.«

Als er nicht sogleich reagierte, sondern lediglich in ihre Augen blickte und sich versucht sah, zumindest ganz kurz einmal mit sämtlichen Sinnen in dieses Blau zu tauchen, hakte sie nach. »Also, wollen Sie jetzt davon profitieren, dass ich mich hier auskenne?«

Till hatte das Gefühl, schon längst profitiert zu haben. Er sah ins Regal, griff sich dann etwas linkisch an den Kopf und meinte: »Was für die Haare suche ich.«

»Sehen Sie, ist doch gut, dass Sie mich gefragt haben. Sie sind näm­lich gerade daran vorbeigelaufen.«

Und schon ging sie zwei, drei Schritte in die entsprechende Richtung. Till folgte ihr. Nun war er sich so gut wie sicher, dass diese Frau Sarah war. Jedenfalls klang sie wie die, die er hinterm Fenster im Lamberti-Palais belauscht hatte. Obwohl, das sanft Eindringliche, das ihn beim ersten Mal so elektrisiert hatte, konnte er jetzt nicht heraushören. Doch das irritierte ihn kaum, schließlich musste sie ihm ja nicht eindringlich klarmachen, dass es höchste Zeit für sie war, aufzubrechen und sich um jemanden zu kümmern, der irgendwo allein herumlag.

Als er nach dem Shampoo griff, hörte er hinter sich eine andere Stimme.

»Hey Sarah, schön, dass ich dich sehe! Hab ich da richtig gelesen, dass du am Samstag auch dabei bist?«

Die beiden Frauen umarmten sich flüchtig und Sarah fragte: »Du meinst in der Kulturremise?«

»Ja klar. Also, wenn du da bist, komme ich auf jeden Fall nach Aurich.«

»Das finde ich ganz toll, wenn du auch dabei bist, Biggi.«

»Klar, sowas darf ich mir doch nicht entgehen lassen. Was wird’s denn diesmal von dir geben?«

Doch auf diese Frage rückte sie keine Antwort heraus. Mit einem charmanten Lächeln und einer verneinenden Handbewegung sagte sie: »Wird nicht verraten.«

Till hatte sich während des Gesprächs bemüht, so auszusehen, als gäbe es auf seiner Einkaufsliste im Kopf noch ein paar Dinge abzuhaken. Für einen Augenblick dachte er, die beiden Frauen würden sich im nächsten Moment voneinander verabschieden, aber es kam anders: Sie schoben nun gemeinsam durch den Laden und gerieten dabei erst so richtig ins Gespräch. Er blieb auf Abstand hinter ihnen, konnte dabei ihrer Unterhaltung nicht mehr folgen, bekam aber etwas mit, was er merkwürdig fand. Er beobachtete, wie Sarah beiläufig ganze fünf Dosen Rasierschaum und drei Packungen Aftershave in ihren Wagen legte. In seinen Augen war das ein beachtlicher Vorrat – jedenfalls für eine Frau, und erst recht für eine, von der er dachte, dass sie solo lebte. Erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass sie in seinen bisherigen Vorstellungen trotz aller Attraktivität ausschließlich als Single existierte. Aber warum eigentlich? Hatte er etwa unbewusst jede mögliche Partnerschaft wie einen Schaltungsfehler in seiner Kopfzentrale korrigiert, bevor er anfing, im kompletten Nervensystem sein Unwesen zu treiben?

Er zog an den Frauen vorbei und hielt Sarah sein Shampoo wie einen Siegerpokal lächelnd entgegen. Sie winkte ihm in bester Laune zu, und er entschied, diesen Tag als Erfolgstag zu verbuchen. Der Versuchung, einen männlichen Grund für ihren seltsamen Hamstereinkauf zu suchen, widerstand er nach ein paar unangenehmen Überlegungen.

Till Türmer und die Angst vor dem Tod

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