Читать книгу Till Türmer und die Angst vor dem Tod - Andreas Klaene - Страница 6
Deichnacht
ОглавлениеDie Luft war warm, ungewöhnlich sommerlich für diese Jahreszeit. Till war von einem Schulfreund zum 35. Geburtstag eingeladen worden, auf einem ehemaligen Bauernhof direkt hinter dem Deich. Die große Scheune mit ihren uralten Balken war zum Festsaal herausgeputzt. Unter ihrem mächtigen Dach duftete es nach Heu und verlockender Weiblichkeit, vor dem offenen Holztor nach Barbecue und salziger Meerluft. Die Stimmung kam an diesem Abend wie eine schleichende Flut daher. Unmerklich umspülte sie die große Gesellschaft. Sie riss Leinen los und zog hinaus, was da war. Keiner schien sich zu fragen, wohin er trieb. Man ließ sich einfach mitreißen, genoss die Ziellosigkeit eines von den Wellen getragenen Treibholzes.
Auch Katrin ließ sich mit der Menge treiben. Als Till sie entdeckte, behielt er sie wie ein nächtliches Leuchtfeuer im Blick. Er musste nicht lange auf sie zusteuern, er kam im Handumdrehen bei ihr an. Die beiden hatten viel mehr Themen als Möglichkeiten, sie alle in dieser aufgedrehten Gesellschaft zu bewältigen. Tanzend verwandelten sie alles um sich herum zum rotierenden Nebel. Der Raum, die Menschen verschwammen zu farbigen Linien, dann zu einer bedeutungslosen Fläche, auf der nur sie existierten. Es war schon weit nach Mitternacht. Aufgefordert von Zuccheros mediterraner Stimme bewegten ihre Körper sich im Takt der sanften Rhythmen. Sie gingen auf Tuchfühlung und blieben dort. Till legte seine Hände um Katrins Hüften, und sein Mund touchierte ihre Wange, als wäre es nicht zu vermeiden gewesen. Der letzte Akkord war noch nicht ganz verklungen, als Katrin seine Hand nahm.
»Komm!«, sagte sie in einer liebevollen Klarheit, als wäre alles, was nun passieren würde, eine diskret abgemachte Sache. Sie gingen durch die hohe, weit offen stehende Scheunentür nach draußen, vorbei an ein paar Gästen, die um den runden Grill geschart im nächtlichen Schwarz standen. Sie hatten die längst schlummernde Glut für ein paar restliche Steaks noch einmal in Gang gebracht. Das Flackern der Holzkohle warf rotes Licht auf ihre müden Gesichter, die nicht so aussahen, als würden sie das Paar bemerken, das neben ihnen aufgetaucht war und sogleich in der Nacht verschwand.
Den letzten schwachen Lichtschein, der aus der Scheune drang, hatten sie bereits ein paar Meter hinter sich gelassen. Vor ihnen musste die lange gepflasterte Hofzufahrt liegen. Davon gingen sie jedenfalls aus, weil sie Stunden zuvor aus dieser Richtung gekommen waren. Doch jetzt versteckte sie sich wie ein schwarzer Schlund, in den sie sich ohne ein Wort vorsichtig tapsend hinein begaben. Sobald sie eingetaucht waren, streckte Till seine Hand nach Katrin aus und bemerkte, dass ihre schon nach ihm suchte. Er nahm sie, und seine Handfläche und jedes Glied seiner Finger waren dabei hellwach. Sie umschlossen die kleine Hand behutsam wie eine Form, aus der anschließend eine Bronze gegossen werden sollte.
Langsam schlichen sie durch die Dunkelheit. Fast blind hatten sie sich bereits so weit vom Hof entfernt, dass Musik und Stimmen verschwanden. Nur Füße waren noch zu hören, wenn sie vom gepflasterten Weg abkamen und die Steinchen im Gras zum Knirschen brachten.
Dann hielten sie kurz inne, sahen sich an und erkannten lediglich einen Scherenschnitt ihres Gegenübers, der sich kaum vom Nachtschwarz abhob. Aber mit jedem Meter, den sie gingen, gewöhnten sich ihre Augen mehr an das spärliche Licht. Bald hatten sie keine Mühe mehr, die Richtung zu halten. Der zunehmende Mond warf einen schwachen Schimmer silbern auf die Pflasterung. Er zeigte ihnen krumme, schwarze Stämme, die als skurrile Gestalten links und rechts von ihnen patrouillierten.
Sie erreichten das Ende des Weges, kamen an einer kleinen asphaltierten Feldstraße an, die sich quer vor ihnen erstreckte. Unmittelbar hinter ihr erhob sich die ewig lange Deichlinie im schwachen Mondlicht.
Mitten auf der schmalen Fahrbahn blieben sie stehen. Till schloss Katrin nun einfach in seine Arme, und ihr Körper schmiegte sich an seinen, als hätte er schon lange auf diese Nähe gewartet. Als seine Lippen, wie zuvor beim Tanz, ihr Gesicht streiften, drückte sie ihn so innig, als wollte sie ihn nicht mehr loslassen. Er schloss sie in seine Arme. Einen Moment lang standen sie stumm auf dem Asphalt. Sein Mund berührte ihr Ohr.
»Mitten auf der Straße, nur die Dunkelheit schaut zu! – Das fühlt sich nach Freiheit an.«
»Ja. – Aber da ist noch jemand.«
»Wer sollte schon hier sein?«, fragte er, ohne seinen Mund von ihrem Ohr zu wenden.
»Die Weite. Sie ist bei uns. Ich kann sie fühlen.«
»Komm, wir holen uns mehr davon.«
Katrin sah ihn an. Eine Strähne ihres Haars wehte über seinen Mund. Dann zog er sie über die Straße bis zum Zaun am Fuß des Deiches.
»Wohin willst du?«, flüsterte sie, als könnte sie der nächtlichen Einsamkeit noch nicht so recht trauen.
»Dorthin, wo sie unendlich ist, die Weite.«
Ein Schotterweg führte schräg auf die grasbewachsene Anhöhe. Nach ein paar Metern endete er vor einem eisernen Gattertor. Das Mondlicht ließ die hüfthohen Gitterstäbe deutlich erkennen. Till tastete über das Metall, er wollte das Tor öffnen, aber der Deichschäfer hatte es verriegelt.
»Macht nichts«, sagte er, legte seine Hände auf das glatte Eisen, stemmte sich hoch und kletterte hinüber. Katrin wollte es ihm gleich tun, raffte ihr Kleid, schwang ein Bein übers Tor, und sobald sie auf der breiten Stange saß, hob er sie herüber. Ihre Hände griffen nacheinander, und sie stürmten übers Gras geradewegs auf den Deichkamm zu.
Oben angekommen blickten sie gen Westen, dorthin, wo die Nordsee sich noch in der schwarzen Nacht versteckte. Es herrschte eine seltene Stille, in der nur ein lauer Wind, der vom Meer herüberkam, leise den Ton angab.
»Schade, die Flut ist noch nicht da«, sagte er, während er nah hinter Katrin stand und sie ihren Kopf an ihn lehnte.
»Macht nichts«, sagte sie leise, »das Meer ist ja trotzdem da, so oder so. Immer, auch wenn wir es nicht sehen.« Sie drückte sich an ihn, und Tills Finger glitten über ihren Leib. Dann hob sie ihre Arme, legte ihre Hände in seinen Nacken, und er umfasste zärtlich ihr Gesicht. Eine Weile standen sie einfach da, ganz still, und schauten in die Finsternis, in deren Ferne das winzige Licht eines Schiffes zu erkennen war.
Als er dann ihren Nacken mit seinem Mund berührte, rangen ihre Hände nach allem, was von ihm greifbar war. Wie ein Sturm fuhren sie unter seine Jacke. Ihre Körper sanken hinab, erreichten das Deichgras wie zwei Athleten ihr gemeinsames Ziel. Till küsste Katrins Mund, dann mit liebender Hast ihre Schultern und ihren Leib, bis ihre Stimme ihn unterbrach.
»Gleich kommt die Flut, Till, sie kommt«, hörte er sie sagen und fühlte eine urplötzliche Windstille mitten im Orkan. Was sie gesagt hatte, begriff er wie eine liebende Forderung, eine, der er nicht entkommen konnte und wollte.
Einen Atemzug lang hallten in Till die Gespräche wider, die er mit ihr an diesem Abend gehabt hatte, und er ahnte, mit dieser Frau gegen den Strom schwimmen zu können.
Ein plötzlich herannahendes Geräusch durchdrang die Deichstille. Es kam näher. Sie lauschten, hörten ein tiefes, dumpfes »Rott-Rott-Rott«. Katrins Atem stockte.
»Was ist das?« flüsterte sie.
Lauschend hob er den Kopf. »Müssen Ringelgänse sein«, sagte er und schaute in das Schwarz des Himmels. »Klingt jedenfalls so. Aber die sind verdammt spät dran. Müssten schon längst weg sein.«
»Weg? Wohin?«
»Zur Paarung nach Lappland und in irgendwelche arktischen Gewässer. – Und dann bleiben sie zusammen.«
Sie legte ihre Hände auf seinen Rücken, zog ihn an sich heran. Wie in tosender See schwangen ihre Körper im Takt der Brandung. Till hatte das Gefühl, mit allem was er war, immer tiefer in Katrin zu ankern. Aber noch in derselben Nacht riss der Anker los.
Till blickte noch immer auf die glänzenden Fliesen in der Hoteltoilette, als suchte er in den grauen Fugen nach einem Weg zu der Stimme am Fenster, die ihn so in Aufruhr gebracht hatte. Gleichzeitig dachte er an Katrin, daran, wie sie sich ihr Kleid auf dem Deich überzog und ihn umarmte. Dann hörte er ihre Stimme, mit der sie leise und fasziniert sagte: »Absolute Nähe in absoluter Weite.« Aber sie hatte ihm noch mehr zu sagen. Nämlich, dass sie übermorgen nach Somalia fliege. Für einige Jahre. Im Dienst von Ärzte ohne Grenzen.
Er blickte wieder auf das Fenster. Dann drehte er sich um und hörte noch im Weggehen, wie die Unbekannte sagte: »Ich weiß, was zu tun ist. – Tut mir leid, Ute, muss jetzt wirklich los.«
In der Hotelhalle meldete sich sein Verstand. Der flüsterte ihm, dass er eine ziemlich lächerliche Figur darstellte. Also zwang er sich, nicht in Laufschritt zu geraten. Sein Blick zielte auf den Ausgang. Er ging forsch, dachte ganz kurz daran, nach rechts zu seinem verlassenen Gast zu sehen, ließ es aber sein. Draußen bog er um die Ecke, und sobald er die Fensterfront des Hotels hinter sich hatte, erlaubte er sich einen kurzen Sprint bis zur hinteren Ecke. Dort stoppte er. Seine Augen suchten nun an der roten Klinkerfassade das Fenster, hinter dem er soeben noch gestanden hatte.
Sofort war er sich sicher, das richtige gefunden zu haben. Eine junge Frau stand etwa dort, wo er kurz zuvor durchs Fenster diffus zwei Gestalten erkannt hatte. Das musste Ute sein. Sie hatte sich etwas von der Hauswand entfernt, stand nun auf dem gepflasterten Parkplatz und winkte jemandem zum Abschied. Till konnte gerade noch sehen, wem ihr Gruß galt. Am Straßenrand leuchteten die gelben Lichter eines kirschroten Minis auf. Eine kleine, zierliche Frau von vielleicht Mitte dreißig winkte zurück. Er wollte sich schnell einprägen, was er sah. Ihr volles dunkles Haar bedeckte halb ihre Schultern. Das Rot ihres Kleides war fast das gleiche wie das ihres Autos. Der schimmernde Stoff bedeckte nicht einfach ihren Körper, er hantierte sanft an ihren grazilen Formen. Dann schlug die Wagentür zu, und die Frau wurde wieder zu dem, was sie schon einmal war: nur eine Stimme hinter Glas, die in ihm etwas in Aufruhr brachte. Während die Unbekannte ihren Mini in Bewegung setzte und nichts als eine Parklücke hinterließ, wartete Till darauf, dass ihr Autokennzeichen zum Vorschein kam. Aber sie verschwand sogleich in der nächsten Seitenstraße, und was er erkennen konnte, war nur der erste Teil des Schildes: »AUR – S«.
Nun stand er da an der Hausecke wie jemand, der unmittelbar nach einem mitreißenden Film wieder in seine Realität zu springen hatte. Als er zur Seite blickte, sah er noch einmal die Frau, deren Name Ute sein musste. Sie drehte sich um und folgte einer Gruppe festlich gekleideter Leute, die alle auf den hinteren Eingang des Hotels zusteuerten. Till hatte das Gefühl, noch einen Versuch starten zu müssen. Wie, davon hatte er keine Ahnung, er wusste nur, dass er diese unbekannte Ute jetzt nicht aus dem Blick verlieren sollte. Bevor sie, der Gruppe folgend, das Haus betrat, war er direkt hinter ihr. Er hörte, wie weitere Gäste ihm folgten, und sah sich im Strom einer Herde, die gemeinsam einem Ziel entgegenstrebte, das wohl nur er nicht kannte.
Mitgezogen von den anderen landete er in dem Saal, aus dem schon während seines Treffens mit Grossanter Feststimmung zu hören war. Ob der noch in der Lounge saß, wusste Till nicht, weil er über den Seiteneingang in den Saal gelangt war. Aber das interessierte ihn jetzt auch nicht. Er hatte damit zu tun, die unbekannte Frau zwischen den vielen Menschen, die im Eingangsbereich standen und sich mit einem Glas Sekt in der Hand unterhielten, nicht aus den Augen zu verlieren. Er schob sich nah hinter ihr durch die Menge, so nah, dass er den Duft ihres kurzen blonden Haares in der Nase vernahm.
»Hey, wo hast du sie gelassen?«, fragte ein Mann in ausgelassener Stimmung, als er Ute entdeckte.
»Wen, Sarah?«
»Natürlich Sarah«, antwortete er, als könnte an diesem Ort nur das Fehlen einer einzigen Person von Relevanz sein.
Ute winkte ihn näher zu sich heran und sagte dann so, als sollte es nicht jeder hören: »Sie ist zurück nach Pewsum.«
»Wie, was will sie denn ausgerechnet jetzt zu Hause? Ich bin doch hier!«
»Sie ist nicht nach Hause. Ihr Handy hat sich gemeldet, ihr Diensthandy.«
»Ja und? Heute feiern wir, da hat dieses Ding doch nichts zu melden.«
»Das sieht sie aber anders. Kannst ihr ja helfen, damit sie schneller wieder hier ist.«
Der Mann verdrehte die Augen und winkte ab. »Um Gottes Willen! Das würde mich umhauen«, sagte er, ging weiter und verschwand in der feiernden Gesellschaft.
Was Till da gehört hatte, war für ihn bei aller Rätselhaftigkeit wie ein überraschendes Geschenk. Nun hatte er ganz beiläufig immerhin Vornamen und Wohnort herausbekommen. Aber was nutzte ihm das, ihm fehlte das Werkzeug, mit dem er die verschweißte Verpackung seines Geschenks aufreißen konnte. Einen kurzen Moment überlegte er, ob er Ute in ein Gespräch verwickeln sollte, schlug sich das aber sogleich aus dem Kopf. Hier, wo er nicht dazugehörte, war das nicht die passende Vorgehensweise. Aber dass sie ausgerechnet in Pewsum, diesem besonderen Nest in der Weite ostfriesischer Küstenlandschaft, wohnte, gefiel ihm. Und das nicht nur, weil er diesen Ort von Aurich aus in einer guten halben Stunde erreichen konnte. Der Hinweis auf Pewsum war für ihn wie die erste kleine Skizze eines Planes, der ihn irgendwann zu seinem Ziel führen könnte.