Читать книгу Till Türmer und die Angst vor dem Tod - Andreas Klaene - Страница 9

Pelorus Jack

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»Mein Bedürfnis sie zu berühren ist immer größer geworden. Ich musste sie einfach anfassen«, las Till in seinen Notizen auf einem Auto­bahnrastplatz irgendwo zwischen Utrecht und Amersfoort. Er war ohne Frühstück in Den Haag gestartet, so zeitig, dass der niederländische Verkehr noch schlief. Nun brauchte er einen Kaffee. Er hatte an einer Tankstelle Halt gemacht, einen heißen Pappbecher mit drei Fingern über den Parkplatz jongliert und sich bei weit geöffneter Fahrertür ins Auto gesetzt. Der noch kühle Wind dieses Morgens wehte herein und verwirbelte den Dampf, der blass aus dem Becher züngelte.

Beim Autofahren hatte Till an die letzten zwei Tage gedacht und sich gefragt, ob er wirklich genug aus Marjet de Clerck herausbekommen hatte. Die Zeit mit ihr war in mancherlei Hinsicht intensiv gewesen, aber würden seine vielen Eindrücke und Notizen reichen, um da­raus ein gutes Porträt schreiben zu können? Unmittelbar nach einer Recherche war Till sich diesbezüglich meistens noch nicht so sicher. Er hatte das Gefühl, in Ruhe einmal überfliegen zu müssen, was er mitgeschrieben hatte, erst dann wusste er, was er von seinen Gesprächen zu halten hatte. In der Regel staunte er anschließend über so manche Gedanken oder Formulierungen seiner Gesprächspartner, deren Wert er im Eifer der Unterhaltungen noch gar nicht erkannt hatte.

Er wollte nicht lange auf diesem Parkplatz bleiben. Sei Plan war es, noch vor Mittag zurück in Aurich zu sein. Er musste es schaffen, rechtzeitig in der Kulturremise anzukommen, dort, wo auch die Biggi aus dem Supermarkt in Pewsum sein wollte, um Sarah zu treffen. Im Veranstaltungskalender hatte er gelesen, dass dort am Vormittag eine Ausstellung zur Geschichte der Multiplen Sklerose eröffnet werden sollte. Er wusste nicht so recht, was er sich unter solch einer Präsentation vorstellen sollte, und schon gar nicht, was Sarah dort zu suchen hatte, aber das interessierte ihn auch gar nicht so sehr. Was zählte, war nur, dass es sich um eine öffentliche Veranstaltung handelte, die also auch er besuchen konnte, und dass er sich sicher war, sie dort zu sehen.

Till nippte an seinem heißen Kaffee, während er noch schnell ein paar Seiten seiner Aufzeichnungen las. Ihm gefiel, was er in Den Haag bei Marjet de Clerck notiert hatte, während sie versuchte, ihm begreiflich zu machen, was eine schöne Form in ihr auslöste: »Natürlich hätte ich sie weiterhin rein visuell erforschen können, aber das reichte mir nicht. So eine Schönheit kann ich doch allein mit den Augen gar nicht genug begreifen.«

Als die kleine Frau mit der mädchenhaften Gestalt vor ihm saß und das sagte, verstand er auf einmal mehr, als sie ihm klarmachen wollte. Er begriff, was sie antrieb, als Malerin und vor allem als Bildhauerin zu arbeiten. Es war ihre geradezu brennende Verliebtheit in manche Formen, Bewegungen und Gestalten.

Plötzlich hatte er das Gefühl, zu durchschauen, warum sie es als Künstlerin zu internationalen Erfolgen gebracht hatte: Wenn sie sich für ein Thema oder Motiv entschieden hatte, brannte sie so sehr dafür, dass sie damit verschmolz.

Was die Künstlerin ihm über ihre Faszination für die körperliche Schönheit von Delfinen erzählt hatte, hätte er über die Schönheit Sarahs sagen können: »Ich musste sie einfach anfassen.« Doch was sie für sich bereits umgesetzt hatte, war für ihn bislang nur ein Traum, allerdings einer, aus dem Realität werden konnte. Diese Botschaft hatte sie ihm, ohne es zu wissen, wie in einer pädagogischen Lektion vermittelt. Ihr Unausgesprochenes hatte ihm zu verstehen gegeben, dass Menschen mit Leidenschaft wie Feuer sind. In ihrer Glut konnten sie ihr komplettes Weltgerüst formen, und ihr Lodern war anziehend wie ein warmer Schein in klirrend kalter Nacht.

Lesend hatte Till einen Film eingeschaltet, der nun vor seinem geistigen Auge abspulte, was in den letzten Tagen geschehen war. Er begann mit einer SMS, die er während seiner Suche in Pewsum erhalten hatte. Als er sie Stunden später nach seiner Begegnung mit Sarah las, wehte der unkonventionelle Charme Hollands zu ihm nach Ostfriesland, und er spürte Lust, ihm zu folgen. »Du kannst gerne schon Mittwochabend kommen. Ich koche uns etwas«, hatte Marjet de Clerck ihm geschrieben.

Im allerersten Moment stutzte er wegen der duzenden Formulierung, schließlich kannte er diese Frau aus lediglich zwei Telefonaten. Aber er begriff ihre Art zu schreiben nicht als plumpe Vertraulichkeit, sondern als gängige holländische Umgangsform, die ihm noch nie Probleme bereitet hatte.

In einer weiteren Sequenz seines Films sah er die Frau in ihrem villenartigen Holzhaus, das auf einem Parkgrundstück unmittelbar vor den Toren Den Haags lag. Wieder einmal hatte sie das ganze Reich für sich allein, weil ihr Mann als Flugkapitän für die nächsten drei Tage unterwegs war. In hellblauen Jeans und einem rot-schwarz karierten Hemd stand sie in ihrem riesigen Wohnzimmer an einem schlichten Holztisch. Etwa zwei Dutzend Fotos ihrer Arbeiten lagen wie aus einem Karton geschüttet darauf verteilt. Sie beugte sich darüber, fischte eins nach dem anderen heraus und erklärte Till, was die Bilder in ihrer Eindimensionalität nicht herüberbringen konnten.

Auch dabei ging es sogleich wieder um jene Meereswesen, für die sie schon als Siebenjährige fasziniertes Staunen empfand. Sie hatte sie durch ihren Vater kennengelernt, der damals als Wissenschaftler im Delfinarium in Harderwijk arbeitete.

Sie zeigte Till Fotos von einer Bronzeskulptur, die zwei Delfine in ihren rasant gleitenden Bewegungen darstellten. Außerdem das von einem Relief, auf dem sie wie aus einer Wand hervorbrachen, so, als würden sie im nächsten Moment den Raum mit ihren Körpern überfluten.

»Wie groß muss man sich diese Arbeiten denn vorstellen?«, fragte er.

»Fast lebensgroß«, sagte sie und schien sich dabei schon auf jedes weitere Staunen zu freuen.

»Und wer hat Platz und Geld für derart raumgreifende Kunst?«

»Ein reicher britischer Fernsehproduzent. – Ein sehr reicher«, fügte sie mit einem stillen Schmunzeln hinzu. Dabei sah sie so aus, als überlegte sie, ob die Sonne ihren Auftraggeber über den Geldberg hinweg tatsächlich noch erreichen konnte.

»Willst du sie sehen?«

»Die Delfine? Aber sicher, sehr gern. Wo denn, hier im Atelier?«

»Nein, bei ihm«, sagte sie, entschuldigte sich für einen kurzen Moment und ging aus dem Raum.

Till konnte hören, wie sie in einem der hinteren Räume telefonierte. Was sie in schneller holländischer Sprache sagte und was nur leise zu ihm herüber drang, verstand er nicht, aber ihre Betonung klang so, als würde sie sich mit jemandem verabreden.

Mit einer Jacke unterm Arm und ihrem Autoschlüssel in der Hand kam sie ins Wohnzimmer zurück. Einen Schritt vor ihm blieb sie stehen und sah ihn an, als wunderte sie sich darüber, dass er sich für den Besuch bei den Delfinen noch immer nicht die Badehose angezogen hatte.

»Mach’s nicht so spannend, Marjet! Sag, was hast du vor?«

»Das wirst du gleich sehen«, sagte sie wie eine, die noch mehr als das Angedeutete im Schilde führte.

»Komm, lass uns fahren!«

Sie führte ihn nach draußen, vorbei an Tills Auto zu ihrem langen Volvo und bat ihn, einzusteigen.

»In ein paar Minuten sind wir da«, sagte sie und fuhr forsch wie ein Taxifahrer, der die Zeit im Nacken hatte, Richtung Zentrum. Sie fing gerade an, Till etwas über die Parks der Stadt zu erzählen, als ein Stau vor einer Baustelle auf der Koningskade sie zwang, auf die Bremse zu treten. Sogleich war ihr anzusehen, dass sie nicht bereit war, den erzwungenen Stillstand mit Geduld hinzunehmen. Sie trommelte mit ihren Fingern aufs Lenkrad und suchte links und rechts nach einer Fluchtmöglichkeit. Schließlich griff sie mit einer entschlossenen Handbewegung ihr glattes braunes Haar, warf es über die Schulter, als müsste sie für die nun folgende Aktion alles Störende hinter sich lassen, schoss links aus der Schlange heraus und bretterte über eine Einbahnstraße einem Ziel entgegen, von dem er noch immer keine Ahnung hatte. Während sie unbeirrt Gas gab, stemmte er seine Finger in die schwarze Lederpolsterung, als könnte er sich so den zu befürchtenden Gegenverkehr vom Leib halten.

Als Marjet endlich ungeschoren aus der Verbotszone herausge­kommen war, sah sie zu Till hinüber und sagte mit einem Gewinner­lächeln: »Das hätte mein Mann nie gemacht.«

»Weiß ich«, sagte er und ließ seine Hände nach der Verteidi­gungsschlacht im Sitzpolster auf seinen Knien zur Ruhe kommen.

»Du kennst ihn doch gar nicht?!«

»Aber ich weiß, was er macht.«

»Du meinst, als Flugkapitän kennt man keine Einbahnstraßen?«

»Ich denke, da oben, wo die Freiheit angeblich so grenzenlos ist, muss man seine eigenen Grenzen umso besser kennen.«

»Ist schon klar«, sagte sie mit einer kapitulierenden Handbewegung, »aber wir machen auf der Erde unseren Job, und da läuft man dauernd vor irgendwelche Grenzen.«

»Und wie gehst du damit um?«

»Mit den Grenzen? Ich fliege auch. Manchmal. Mit meinem Flugzeug in Kopf.«

»Und dann fliegst du über Einbahnstraßen?!«

Marjet schmunzelte vor sich hin und sagte: »Nein, das wäre zu langweilig. Im Straßenverkehr muss ich nicht abheben und über Grenzen fliegen.«

»Wo denn?«

»Im Verkehr mit Menschen und auch mit meinen Gedanken. Gedanken sind doch oft wie fremde Verkehrsteilnehmer, die einem die Vorfahrt nehmen und sich einfach in den gewohnten Weg stellen.«

»Oder man hat das Gefühl, dass sie einen überholen.«

Diese Vorstellung schien ihr zu gefallen. Sie schaute lächelnd vor sich auf die Straße und kam zu dem Schluss: »In solchen Fällen, ich meine, wenn meine Gedanken und Träume mal ganz rasant sind, gebe ich Gas, damit sie mir nicht davonjagen. Dann werde ich immer schneller. Das ist auch fast wie Abheben.«

»Und was fühlst du, wenn du dann deine Grenzen überfliegst?«

Über ihre Antwort musste sie nicht einen Augenblick nachdenken. Sie lag ihr so präsent auf der Zunge, als würde sie sich schon lange und häufig mit seiner Frage beschäftigt haben: »Mich! Ich spüre mich, meine Lebendigkeit. Das fühlt sich an, als wenn Leben niemals aufhören könnte.« Till hätte dazu gerne sofort etwas gesagt, aber er kam nicht dazu, weil sie anhielt und ihn mit ihrem Ziel überraschte. Er blickte erstaunt und zugleich fasziniert aus dem Seitenfenster, durch das er direkt auf die weiße Pracht eines Yachthafens blickte: »Wo sind wir denn hier gelandet?«

»Scheveningen«, sagte sie und war sogleich aus dem Auto verschwunden.

»Der Yachthafen scheint mir als Revier für deine Delfine aber kaum geeignet zu sein!«, rief er ihr hinterher, während sie bereits so ziel­strebig über die Planken eines Bootsstegs tippelte, als wäre sie hier zu Hause.

»Stimmt, darum hauen sie auch morgen schon wieder ab. Komm, beeil dich!«

Till war nicht danach, sich zu beeilen. Er genoss das Knacken der grauen Holzlatten unter seinen Füßen und das Wasser, das ihm zwischen ihren Ritzen suggerierte, ihn zu tragen – wohin er wollte.

Kurz vor Ende des Stegs blieb Marjet stehen. Sie sah ihm entgegen und schien gespannt darauf zu sein, wie er nun reagieren würde, denn was da neben ihr im Hafenbecken lag, war nicht irgendein Boot. Das war die Pelorus Jack. Ein nautischer Palast. Etwas, was Till allenfalls aus Jetset-Reportagen im Fernsehen kannte. Dementsprechend sprachlos blieb er stehen und bestaunte einfach die Dimensionen weißer Eleganz, die sich vor ihm aus dem Wasser erhoben.

Marjet wies mit ausgestrecktem Arm auf das Schiff und sagte sichtlich stolz: »Da wohnen sie, meine Delfine. Hier haben sie jeden Tag auf 46 Metern den Himmel der Meere.«

Bevor Till etwas sagen konnte, stand sie schon auf der Gangway, brachte sich mit einem ausgelassenen Sprung an Bord und lockte ihn mit einem Zwinkern zu sich herüber. Zielstrebig lief sie mit ihm im Schlepptau entlang der linken Bordwand vorbei an Bullaugen und großen Fenstern immer weiter Richtung Heck.

Obwohl er auf scheinbar völlig legitime Weise hier an Bord geraten war, kam er sich vor wie ein Eindringling. »Hey, warte mal«, sagte er fast flüsternd, so, als sollte es niemand von der unsichtbaren Besatzung hören, mit deren Aufkreuzen er in jedem Moment rechnete. »Sag mal, ist das wirklich okay, dass wir hier sind?«

»Mach dir keine Sorgen, der Kapitän weiß bescheid. Ich habe mit ihm telefoniert. Vielleicht lernst du ihn noch kennen.«

Am Bug angekommen, breitete sich vor ihnen ein weites Sonnendeck aus. In der Mitte ein blauer Pool, links und rechts davon jeweils fünf weiße Liegen, von denen aus während der Fahrt nichts als wogende Unendlichkeit zu sehen sein würde.

Und wieder stand Marjet erwartungsvoll vor ihm, wie kurz zuvor auf dem Steg.

Als er nichts kommentierte, sondern sich damit begnügte, die Atmosphäre dieser fremden Welt zu schnuppern, sagte sie: »Dreh dich doch mal um!«

Er tat, was sie wollte, und begann im selben Augenblick zu begreifen, warum sie so brannte, wenn sie ihm von ihrer Arbeit erzählte. Über die nahezu komplette Breite der rückwärtigen Bordwand erstreckte sich das Bronzerelief, von dem sie gesprochen hatte. Zwei gigantische Delfine schienen geradezu aus der Wand herauszubrechen. Ihre glatten, eleganten Körper katapultierten sich aus den Wellen. Sie strotzten mit ihrer muskulösen Formschönheit, ragten weit über das blau schimmernde Wasser des Pools hinaus, als würden sie gleich übers Schiffsheck hinaus fliegen und in den Meereswellen versinken.

Till stellte fest, dass er zu nah an dieser Szene stand, die auf ihn Stärke und pure Lebendigkeit ausstrahlte. Er ging ein paar Meter zurück, stellte sich neben den Pool, schaute nun mit Abstand auf dieses explodierende Gesamtbild und schüttelte den Kopf.

»Na, was denkst du«, fragte Marjet fast wie ein Kind, das der Meinung war, schon ziemlich lange auf eine Antwort gewartet zu haben.

»Was ich denke? – Das frage ich mich auch gerade.«

»Dann sag mir einfach, was du fühlst!«

»Hast Recht, das ist leichter.«

»Und, was ist es, was du fühlst?«

»Natürlich eine total beeindruckende Kraft.«

»Und was sonst noch?«

»Schönheit. Leibliche Schönheit. So, dass ich sie betasten möchte.«

»Noch was?«

Till sah sie lächelnd an, wollte sehen, was in ihr vorging, bevor er mit seiner Antwort herausrückte. Er sah ihr an, dass sie genau zu wissen schien, was er meinte.

»Marjet, auch wenn du es vielleicht gar nicht gewollt hast, dieses Bild ist voller Erotik.«

Sie blickte vor sich auf den hellen Boden als würde sie denken: »Hab es mir doch gedacht!« Dann sagte sie: »Und jetzt hast du Lust, mit deinen Händen über diese Formen zu gleiten. Stimmt’s?«

»Klar, ich denke, das möchte jeder normal tickende Mensch. Geht aber leider nicht«, sagte Till, während er den Delfinen mit ausge­strecktem Arm entgegen sprang. »Die sind da oben im Reich der Unberührbaren.«

Als beide nach oben blickten und ihre Hand gegen die Sonne an die Stirn drückten, meinte sie: »Ich habe gleich …«, unterbrach ihren Satz jedoch sofort. Ganz oben, in der dritten Etage der terrassenartigen Schiffsaufbauten, stand ein Mann an der Reling. Er schien von dort aus schon länger beobachtet zu haben, was sich unten vor dem Relief tat. Jetzt winkte er herunter. Marjet winkte zurück und rief: »Hallo Ian, ich zeige meinem Gast gerade die Delfine. Wenn es noch okay ist, gehen wir gleich auch schnell in den Salon.«

»Macht was ihr wollt«, rief er gut gelaunt herunter. »Aber was ihr auch tut, ihr müsst es ohne mich machen. Ich habe hier noch volles Programm.«

»Ist schon in Ordnung«, rief sie.

»Seht nur zu, dass ihr bis morgen früh von Bord seid. Die Pelorus Jack sticht früh in See.«

Marjet winkte noch einmal, und Ian verschwand.

»Das war Ian McStone«, sagte sie. »Ich mag ihn.«

»Kapitän oder Eigner?«

»Der Kapitän.«

»Übrigens, du wolltest mir noch etwas sagen! Wir sind unter­brochen worden.«

»Ja, weiß ich.«

»Du sagtest, du habest gleich …«

»… noch ganz andere schöne Formen für deine Hände.«

»Das klingt gut«, sagte er, und seine Finger gerieten dabei in sanfte Bewegung, als ertasteten sie ein imaginäres Wesen.

Marjet führte ihn durch einen breiten Eingang, der wie ein Maul unterhalb des Reliefs offen vor ihnen lag, in den Bauch des Schiffes. Sie gingen ein paar Stufen hinauf, bis sie auf eine Ebene gerieten, die Till an die nüchterne Eleganz einer Hotelhalle erinnerte. Durch die getönten Seitenfenster sah er auf die benachbarten Yachten. Sie standen hinter der Pelorus Jack, aufgebaut wie ein Hofstaat, der ergebenst auf Order seiner Königin wartete.

Über eine breite Treppe ging es fünf Stufen nach unten. Auf der letzten angekommen, blieb Till stehen. Er hatte das Gefühl, Marjet nicht sogleich folgen zu dürfen. Diese letzte Stufe war für ihn wie der VIP-Platz auf einer Tribüne, denn was er von hier aus sah, war ein modernes Palastambiente, das er wie ein Bild betrachten wollte. Mit jedem Schritt voran würde er selbst zur Requisite dieser Szene werden und deren Ausstrahlung unweigerlich verändern.

Ihm ging es nicht darum, detailliert die Möbel und Accessoires zu betrachten. Er wollte einfach kurz atmosphärisch in sich aufnehmen, was sich vor ihm ausbreitete: rechts über Eck eine Landschaft heller Lederpolster, davor runde Glastische. Ganz hinten links vor einem breiten Panoramafenster ein langer Tisch und Stühle aus maha­gonibraunem Holz.

Till schaute zu der niedrigen, hellen Decke, in deren Glanz sich der Raum spiegelte und aus der heraus unzählige LED-Spots wie ein Himmel voller kleiner Sonnen die Salonwelt mit goldenem Licht beschienen. Was Marjet ihm zeigen wollte, hatte er ganz hinten, in der zweiten Hälfte des Salons, bereits wahrgenommen. Noch ging er aber nicht darauf ein, weil er es erst einmal für sich allein als Teil der Gesamtarchitektur erleben wollte.

Dann ging er langsam weiter. Mitten im Salon blieb er stehen, genau an der Stelle, wo der Himmel mit seinen zahllosen Sonnen zu Ende war und den Augen freien Blick bis hoch zur Decke der zweiten Etage gewährte.

Nun stand die Skulptur direkt vor ihm. Er streckte unweigerlich seine Hand nach ihr aus, wollte ihre glatte Haut, ihre athletischen Formen berühren und versuchte, in Marjets Gesicht zu lesen, ob er es durfte.

»Tu es«, sagte sie mit charmanter Gönnermiene, »auch darum sind wir schließlich hier.«

Till legte seine Hand auf ihren Rücken, ließ sie daran hinuntergleiten, immer weiter, bis zum Ansatz ihrer muskulösen Schwanzflosse. Dann blickte er über die gesamte Länge des schräg nach oben strebenden Delfins und fühlte sich von seiner geschmeidig kraftvollen Grazie regelrecht animiert, sich mit ihm in die Höhe zu strecken.

Marjet setzte sich mit dem Rücken zu einer langen Fensterreihe auf eines der Sofas. Sie lehnte sich zurück, und als Till sich nach ihr umsah, legte sie ihre Hand einladend neben sich auf das Polster. Er blieb noch einen Moment bei dem Meeresriesen. Dann setzte er sich zu ihr, um seine Wirkung aus einem anderen Blickwinkel zu prüfen.

»Er ist zwar im Wasser zu Hause«, sagte er nachdenklich, ohne seine Augen von der Skulptur zu lassen, »aber er sieht so aus, als wäre er auch hier völlig in seinem Element. So, als wäre dieser Raum ein Teil des Meeres, und er derjenige, der jede noch so schwierige Situation des Schiffes in den Griff kriegen kann.«

»Kompliment, Till!«

Er sah sie fragend an und wartete auf einen erklärenden Satz.

»Du hast das Wesen meines Freundes ziemlich genau auf den Punkt gebracht.« Dann zeigte sie zu dem Delfin und sagte: »Das ist nämlich Pelorus Jack.«

»Wie, die Skulptur ist nach dem Schiff benannt?«

»Umgekehrt. Das Schiff hat den Namen des Delfins.«

»Warum, was hat es denn damit auf sich?«

Marjet schlug ein Bein über das andere und begann, ihm die angeblich wahre Geschichte eines außergewöhnlichen Delfins zu erzählen. Er habe Ende des 19. Jahrhunderts in der Cook-Straße gelebt, einer 35 Kilometer breiten Meeresenge zwischen Neuseelands nördlicher und südlicher Insel.

»Damals gab es dort viele Schiffsunglücke, und die Seefahrer fürch­teten diesen Bereich wie den Tod. Konkrete Gründe waren die vielen Untiefen, gefährlichen Strömungen und Felsen unter Wasser. Aber dann entdeckten die Schiffsbesatzungen dort einen außergewöhnlichen Delfin, einen mit ungewöhnlich heller Haut und weißem Kopf. Mit der Zeit fiel ihnen auf, dass er immer dann auftauchte, wenn Schiffe vom Pelorus Sound – das ist einer der ganz langen Meeresarme Neuseelands – auf die Cook-Straße zusteuerten. Außerdem stellten sie fest, dass dort nie ein Schiff in Seenot geriet, wenn dieser Delfin neben einem Schiff her schwamm und es etwa zwanzig Minuten begleitete. Die Seefahrer gaben ihm dann den Namen Pelorus Jack. Manche haben vor der Cook-Straße sogar auf ihn gewartet, um sicher durch die berüchtigte Zone zu kommen.«

Während Marjet erzählte, sah sie Till so an, als würde sie aus seinem Gesichtsausdruck lesen wollen, ob er ihr glaubte. Dann fiel ihr ein, wie sie ihn überzeugen konnte: »Ich glaube, es war 1903, da passierte etwas ganz Schreckliches: Irgendein besoffener Passagier sah Pelorus Jack und schoss auf ihn. Dieser Verrückte hat ihn zwar nicht getötet aber verletzt. Als die Mannschaft das mitbekommen hatte, war sie so geladen, dass sie den Kerl um ein Haar gelyncht hätte. Pelorus Jack versteckte sich dann und tauchte erst zwei Wochen später wieder auf.«

Marjet registrierte, dass er ihr mit höflich versteckter Amüsiertheit zuhörte und durchaus Lust auf noch mehr Seemannsgarn hatte.

»Der neuseeländische Staat ist jedenfalls nicht so ein Zweifler wie du. Nach dieser Attacke hat er im Jahr 1904 dafür gesorgt, dass Pelorus Jack geschützt wurde. Und zwar per Gesetz. Der Staat hat also für ein einzelnes Meereslebewesen ein Gesetz gemacht. So etwas hat es nie zuvor gegeben.«

»Und jetzt ist es diese Geschichte, die ihn unsterblich macht«, sagte Till mit Nachdenklichkeit und Respekt im Ton. So wollte er Marjet zu verstehen geben, dass er ihr wirklich glaubte.

»Nicht diese Geschichte. Das, was er getan hat, macht ihn unsterblich. Wäre er nicht gewesen wie er war, würde keiner seine Geschichte erzählen.«

»Und du wärst nie auf die Idee gekommen, aus ihm eine Bronze zu machen. Eine, die so viel Lebendigkeit zeigt, dass man glauben könnte, das Leben von Pelorus Jack würde nie enden.«

»Ja, da ist was dran. Irgendwie wünsche ich mir immer, dass solch eine Arbeit zu einer Art Momentaufnahme für die Ewigkeit wird.«

»Wie meinst du das?«

»Früher hat dieser Delfin die Menschen mit seiner Freundlichkeit und Treue so berührt, dass er in ihnen lebendig blieb – in ihren Gedanken und Geschichten. Und wenn ich es schaffe, dass mein Pelorus Jack bei den Leuten hier an Bord auch etwas bewegt, dann ist er wirklich unterwegs zur Ewigkeit. – Eine schöne Vorstellung, oder?«

Till stand auf, legte noch einmal seine Hand auf den Rücken des Delfins, als wollte er ein wenig von dessen kraftvoller Ewigkeit in seinen Sinnen mit nach Hause tragen, und sagte lächelnd: »Klar, dieser Gedanke hat was. Aber das ist ja noch nicht alles. Je mehr die Skulptur hier an Bord beeindruckt, desto deutlicher sind deine eigenen Spuren zu sehen.«

»Ich gebe zu, auch das ist ein attraktiver Gedanke für mich. Aber ja wohl für jeden. Wollen wir nicht alle Spuren hinterlassen?«

»Am liebsten schon«, sagte er, während er seinen Blick kurz auf den Teppich des Salons richtete. »Und am besten so tiefe Spuren, dass der Wind sie auch dann, wenn wir nicht mehr sind, noch lange nicht mit Sand verdecken wird.«

Er musste an den alten Mooshammer vom Attersee denken. Der hatte es geschafft, recht tiefe Spuren zu hinterlassen, lauter Erfolgsspuren. Aber wenn es stimmte, was seine Tochter gesagt hatte, reichte ihm das nicht. Womöglich würde er selbst im Tod nicht zur Ruhe kommen, wenn seine Nachkommen anfingen, ihre eigenen Abdrücke im heimatlichen Boden zu hinterlassen. Vielleicht zwang er seine Tochter und ihren Mann deshalb, exakt in seine Fußstapfen zu treten. Er glaubte wohl, dass nur so etwas von ihm über den Tod hinaus für alle sichtbar bleiben würde. Wenn das gelänge, würde er in der Erinnerung des Dorfes lebendig bleiben.

Jupp war ganz anders gewesen. Mehr wie Pelorus Jack. Er hatte einfach getan, was er glaubte tun zu müssen, und das so gut er konnte. Ob auch er sich Gedanken gemacht hatte über das, was von ihm blieb? Wahrscheinlich, aber nicht so, dass Till es mitbekommen hätte. Und schon gar nicht war es bei Jupp in Frage gekommen, seine Spuren für die Ewigkeit zu konservieren.

Marjet stand auf und sagte, während sie ihre Hand beiläufig auf Tills Schulter legte: »Wenn der Wind unsere Spuren nicht wegwehen soll, haben wir eine Menge zu tun. Aber das kann ja auch eine sehr schöne Aufgabe sein.« Sogleich ging sie weiter zur Treppe des Salons und bat ihn, dort auf sie zu warten. Sie wolle sich nur schnell bei Ian McStone verabschieden.

Till kam nun ein Gedanke, der in eine ganz andere Richtung ging. Er überlegte, ob man auch durch das Spuren schuf, was man nicht tat, was man unterließ, obwohl man es hätte tun sollen. Ihm wurde klar, dass er gerade dabei war, genau solche in Ennos Bewusstsein zu treten, und zwar, indem er an diesem Tag dort fehlte, wo er eindeutig seinen Platz sah: bei Jupps Begräbnis. Diesen Platz hatte er sich selbst zugewiesen, aber er fühlte auch – zumindest gegenüber Enno – eine gesellschaftliche Verpflichtung, dabei zu sein.

In den letzten Tagen war es ihm recht gut gelungen, sich sein bespritztes Gewissen blitzblank zu denken. Schließlich war es ihm und Marjet gar nicht so leicht gefallen, für ihr Treffen eine gemeinsame Lücke in den Terminkalendern zu finden. Darum hatten sie alles Not­wendige für ihre Begegnung bereits vor Wochen festgezurrt. Im selben Moment, als Till von Jupps Tod und der anstehenden Beerdigung gehört hatte, hatte er seinen Besuch in Den Haag für sich als etwas Unumstößliches erklärt.

Aber was hieß das schon, unumstößlich, wenn das Leben eines nahestehenden Menschen eingestürzt war? Er musste sich selbst gestehen, dass es in diesem Fall durchaus möglich gewesen wäre, sich mit Marjet auf einen späteren Termin zu verständigen. Sie hätte garantiert Verständnis dafür gehabt.

Jetzt, wo sie ihn mit diesem Geständnis allein gelassen hatte, wurde sein Denken zu einem bösen Reptil. Zielstrebig schlängelte es an ihm empor, geradewegs Richtung Hals, um im nächsten Moment das eigentliche Geständnis aus ihm herauszuquetschen. Ja, verdammt nochmal, er hatte gekniffen. Er hatte Jupp nicht besucht, als er noch lebte, und auch heute war er nicht bei ihm, als er mit seinem Sarg in die Erde hinabgelassen wurde. Allein dieses Wort Sarg. Natürlich landete alle Welt in diesen finsteren Behältnissen. Aber was hatte er mit der toten Welt zu tun? Erst wenn jemand aus dem eigenen Dunstkreis gestorben war, tauchte der Sarg in seinen Gedanken auf. Dann ritzte diese allerletzte Unterbringungsmöglichkeit mit ihrer markanten Form das Antlitz des Grusels in ihn hinein. Er merkte, dass er all diese Gedanken schleunigst beerdigen sollte. Eine Ahnung sagte ihm, was geschehen würde, wenn er es nicht täte: Sie würden ihn in die dämmrige Nebellandschaft seines eigenen Ichs ziehen, in eine Gegend, deren Schluchten und Sümpfe er sich nie genau angesehen hatte, und die er auch gar nicht kennenlernen wollte.

Marjet war es, die für ihn diese Beerdigung übernahm, indem sie plötzlich wieder im Salon auftauchte und sagte: »So, ich habe alles erledigt. Hast du noch einen Wunsch? Sonst können wir meinetwegen wieder fahren.«

Till hatte noch einen Rest Kaffee in seinem Becher. Er kippte die lauwarme Brühe herunter, warf sein Notizheft hinter sich auf die Rückbank und machte sich über Amersfoort und Zwolle auf seinen Weg zurück nach Aurich.

Till Türmer und die Angst vor dem Tod

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