Читать книгу Till Türmer und die Angst vor dem Tod - Andreas Klaene - Страница 7
Verdrängter Anruf
ОглавлениеAls das Telefon klingelte, war wieder einmal keine Rufnummer im Display zu sehen. Genau wie beim Anruf eine Viertelstunde zuvor. Aber diesmal wurde nicht nach dem zweiten Klingelton aufgelegt. Till sah auf das Display, wartete noch ein paar Sekunden, bevor er abhob. Er hatte Erfahrung mit Anrufern, die sich nicht zeigten. Die meisten zögerten noch, sich ihm anzuvertrauen. Manche gestanden ihm später, irgendwie froh darüber gewesen zu sein, dass er nicht abnahm. Sein Anrufbeantworter kam ihnen gerade recht. Sie wollten erst einmal nur die Stimme hören, um dann zu entscheiden, ob sie vor diesem Mann ihre Hüllen fallen lassen konnten.
Die Frau am anderen Ende nannte eilig ihren Namen. Zu eilig, als dass Till ihn hätte verstehen können. Aber er hakte nicht nach, ließ sie noch ein wenig hinter ihrem Vorhang stehen.
»Ich schlage mich schon arg lange mit dem Gedanken herum, Sie um einen Brief zu bitten, Herr Türmer. Ihre Konditionen sind nicht das Thema. Ich habe mir die angesehen, die sind für mich akzeptabel«, sagte sie und verriet mit der Melodie ihrer Sätze ihre österreichische Herkunft. »Mir ist das alles sehr unangenehm, aber wenn ich sehe, was Sie im Internet so schreiben und wie Sie vorgehen, das gibt mir Vertrauen. Und darum hab ich gedacht, jetzt überwind ich mich einfach.«
»Na ja, einfach ist es für kaum jemanden, wenn er mich zum ersten Mal anruft«, sagte Till. »Höre ich da etwa heraus, dass Sie aus Österreich anrufen?«
»Ja«, sagte die Frau mit einem traurigen Lächeln in der Stimme, »das lässt sich wohl nicht verheimlichen.«
»Ist doch gut so, das klingt hier oben im Norden wie Urlaub. Wenn sie mögen, erzählen Sie mir, worum es geht. Sie brauchen mir vorerst auch keinerlei Namen zu nennen.«
Mit dieser kurzen Erklärung schien sich ein Riegel vor der Frau zu öffnen. Ihre Sätze stolperten zu Till herein.
»Es geht um meine Ehe. Vielleicht sind Sie meine letzte Rettung. Mein Mann hat einfach alles hinter sich gelassen, unseren ganzen Betrieb, ja, und auch mich.«
»Den Betrieb und Sie?! Das klingt nach zwei Katastrophen. Welche setzt Ihnen im Moment am meisten zu?«
So, als hätte er mit dieser Frage einem Schlitten auf verschneitem Gipfel einen Tritt verpasst, geriet die Frau sofort in Erzählfahrt. Innerhalb von ein paar Minuten drang der Stoff für eine ganze Familiensaga an sein Ohr. Da gab es für ihn kaum ein Durchsteigen, und statt sorgfältig mitzuschreiben, kritzelte er nur noch einzelne Wörter in sein Notizheft. Die Reihen füllten sich mit Begriffen wie Hotelerbin, Pflicht, Geliebte, Dreiecksbeziehung.
Ihm war klar, dass sein Gespräch so nicht weitergehen konnte. Er musste die Frau unterbrechen, ihr seine Fragen stellen, doch dazu war es noch zu früh. Er ließ sie erzählen, war in diesem Moment nicht auf sachliche Informationen aus. Till lauschte der Frau wie er auch italienischen Opern lauschte, deren Text er nicht verstand. Er brauchte nicht den Blick auf die Bühne, konnte mit geschlossenen Augen zuhören, einfach den Klang zu sich kommen lassen. Stimmen und Melodien verrieten ihm auf ihre Weise ihre Charaktere.
Plötzlich merkte die Frau, dass sie ihrem Zuhörer einen Haufen Puzzleteile auf den Tisch geworfen hatte, statt ihm ein Bild zu malen. Während sie sich dafür entschuldigte, als hätte sie sich selbst bei einer peinlichen Dummheit erwischt, musste er schmunzeln. Er dachte daran, was Österreicher auf quasi jede Entschuldigung sagten, egal ob sie ihnen schmeckte oder nicht. Genau das sagte er hörbar amüsiert auch: »Passt schon!«
Anschließend fiel es ihm leicht, herauszubekommen, was er wissen wollte. Sie konzentrierte sich auf seine Fragen und präsentierte ihm ihren Film aus über fünfzehn Ehejahren. Till schrieb mit, blickte auf seine Notizen und sah eine Frau, die einst mit vierundzwanzig ihre erste Liebe geheiratet hatte. In seinem Heft stand knapp formuliert, dass sie Erbin eines angesehenen Hotels am Attersee war. Ihr Mann war Meisterkoch, der auch das Hotelmanagement gelernt hat und mit seiner Frau zusammen das große Familienunternehmen führte. Das Paar hatte zwei Töchter, die Ehe verlief angeblich jahrelang gut, bis ihr Mann sich in eine andere Frau verliebte. Die Anruferin konnte nicht verstehen, warum er keinerlei Versuche startete, die Ehe zu retten. Sie hielt die Dreiecksbeziehung nicht mehr aus, er zog zu seiner Geliebten. Weil ihr Mann jedem persönlichen Gespräch aus dem Weg ging, hatte sie ihm einen langen Brief geschickt, auf den er allerdings nicht einging.
Till glaubte, dass die mitgeschriebenen Lebensfragmente durchaus die Wahrheit skizzierten, jedoch nicht die wesentliche. Er versuchte, Licht auf die Zeit zu richten, als es noch keine Geliebte gab. Er wollte wissen, ob das Leben der Anruferin damals in etwa das war, was sie sich zu Beginn ihrer Ehe erträumt hatte. Er fragte auch nach den Zielen, die ihr Mann sich vor langer Zeit gesetzt hatte, nach erfüllten Träumen und nach dem Scheitern.
Dabei trat Schritt für Schritt, geradezu schleichend, eine weitere Figur auf diese Ehebühne. Erst als sie nicht mehr zu übersehen war, stellte die Frau sie vor. Sie sprach von ihrem Vater und nannte ihn »den alten Mooshammer.« Aus ihrem Mund klang das, als würde sie einen Titel nennen, den jeder im Dorf mit Achtung über die Lippen brachte.
»Mein Vater, das muss man ihm einfach lassen, hat das Hotel als junger Mann ganz langsam aus dem Nichts heraus aufgebaut. Angefangen hat das alles mit einem Kiosk bei uns unten am See. Mein Vater sprühte ja immer schon vor Unternehmergeist. Er hat halt in finanziellen Angelegenheiten das richtige Fingerspitzengefühl. Und als Wirt, im Kontakt mit Gästen, da ist er eh unschlagbar.«
»Gut, das war früher, aber mittlerweile leiten Sie und Ihr Mann doch das Haus.«
»Ja und nein. – Eigentlich ist er ja schon längst Pensionist, aber er ist halt einer, der auch mit achtzig noch täglich Vollgas gibt.«
»Was heißt das?«
»Sie können sich so einen Mann gar nicht vorstellen! Wenn der bei uns die Stiegen hinaufgeht, nimmt er grundsätzlich zwei Stufen auf einmal. Der ist körperlich total fit. Und im Kopf sowieso.«
»Wie ist es denn für Sie, täglich einen so erfolgreichen und immer noch so agilen Vater an der Seite zu haben?«
»Eigentlich muss man ja froh sein. Was er tut, macht er gut. Jedenfalls so gut wie immer.«
»Eigentlich?«
»Ja, man würde halt schon manches gern anders machen, aber das ist ungeheuer schwer. Mein Vater ist halt der Mooshammer«, sagte sie traurig. »Und Sie müssen wissen, dieser Name ist in unserer Gegend wirklich etwas wert.«
»Und wie ist es mit Ihrem Namen beziehungsweise mit dem Ihres Mannes?«
Als wäre es die Selbstverständlichkeit schlechthin, sagte sie: »Ich bin ja auch eine Mooshammer. Und mein Mann ist auch einer – geworden. Ich meine, er hat unseren Namen angenommen. Ist halt besser für so ein Traditionsunternehmen.«
»Sie sagten, Sie würden gerne manches anders machen. Wer, Sie oder Ihr Mann?«
»Mein Mann. – Herrschaftszeiten, eigentlich wir beide – aber darüber mag ich gar nicht mehr sprechen.«
»Weil Sie das beide schon zu oft mit Ihrem Vater versucht haben und gescheitert sind?«
»Ja«, sagte sie mit gesenkter Stimme, als müsste sie sich unterm Tisch verkriechen, damit niemand sehen konnte, wie eine Mooshammer sich mit so einer Aussage erniedrigte.
»Frau Mooshammer, ich will jetzt keine Details, aber mögen Sie mir kurz beschreiben, wie Sie das Unternehmen führen würden, wenn Sie könnten wie Sie wollen?«
»Bei meinem Vater hat die Betreuung der Gäste absolute Priorität. Das ist ja auch ganz wichtig. Aber mein Mann ist eben anders.«
»Pardon, ich möchte wissen, was Sie anders machen würden, wenn Sie könnten!«
Während Till fragte, klingelte sein Handy. Es lag direkt vor ihm auf dem Schreibtisch. Als er den Namen Enno Casjens im Display las, wusste er sofort, dass dieser Anruf nichts Gutes zu bedeuten hatte. Enno war kein Telefonierer, es sei denn der Deich oder irgendein Genick war gebrochen. Eine Ahnung sagte Till, dass mit dem alten Jupp etwas passiert sein musste. Er stellte das Handy stumm und schob es von sich, bis an den Rand der Glasplatte. Für ein paar Augenblicke war er kaum bei der Sache, als die Frau vom Attersee ihm erklärte, worin ihr Mann und ihr Vater sich so sehr unterschieden.
»Mein Mann kann auch gut auf Leute zugehen und sich hinter der Theke auf alle Themen einlassen, aber es fällt ihm schwerer als meinem Vater. Mein Mann hat seine Stärken in der Küche und im Management. Darum sollte die Gästebetreuung vor allem meine Sache sein. Ich kann das und ich mag das auch.«
»Wo ist das Problem?«
»Das Problem ist, mein Vater erwartet von meinem Mann, dass er alles so macht wie er. Da er das so nicht kann und auch nicht will, ist er in seinen Augen ein Versager.«
Weil Till sich noch Notizen machte, gab es eine Stille, die die Frau bald mit trauriger Stimme brach: »Was meinen Sie denn, was ich machen sollte? Ich wünsche mir so sehr, dass alles wieder wird wie es mal war. Aber wie soll das gehen, wenn keiner redet!?«
Till sagte nichts, er brauchte noch ein paar Sekunden, um festzuhalten, was er gehört hatte, dann: »Frau Mooshammer, ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Aber sagen Sie mir, bevor wir einen Termin für ein weiteres Gespräch machen, was möchten Sie mit Ihrem Brief erreichen?«
»Können Sie mir denn helfen?«
»Das hängt von Ihrem Ziel ab.«
Da die Frau am anderen Ende der Leitung nachzudenken schien, sagte Till: »Vielleicht ist es in diesem Moment nicht ganz einfach, klar zu sagen, wohin die Reise gehen soll. Ich schlage Ihnen vor, dass wir uns heute in einer Woche noch einmal unterhalten. Für die Zwischenzeit habe ich eine Hausaufgabe für Sie. Eine ganz kleine. Und versuchen Sie bitte, dabei auszuschalten, dass Ihr Mann Sie verlassen hat. Denken Sie an früher! Und dann stellen Sie sich bitte folgende Fragen: Was hält einer wie mein Vater von meinem Verhalten als Tochter, Ehefrau und Unternehmerin? Was halte ich von mir, wenn ich an meine einstigen Pläne denke und daran, was daraus geworden ist? Und dann noch eine andere Aufgabe: Versuchen Sie bitte einmal, in die Haut Ihres Mannes zu schlüpfen. Ich glaube, Sie finden sich darin ganz gut zurecht. Sie kennen die Potentiale, die er mitgebracht hat, Sie kennen seinen einstigen Tatendrang, und Sie wissen, was er früher an Ihnen geliebt hat und für welche Eigenschaften Sie ihn verehrt haben. Führen Sie sich das bitte vor Augen. So offen wie möglich. Wenn es Ihnen recht ist, erzählen Sie mir in einer Woche, was Ihnen dazu eingefallen ist. Ich stelle Ihnen anschließend weitere Fragen. Sie werden dann bald wissen, in welche Richtung der Brief zu zielen hat.«
Nach diesem Gespräch blickte Till auf sein Handy, das immer noch stummgeschaltet vor ihm lag. Er zog es langsam zu sich heran, so als käme er nicht drum herum, sich nun mit einer scharfen Tretmine zu befassen. Enno Casjens hatte es nicht nur klingeln lassen, dieser einsilbige Mann hatte es auch für nötig befunden, eine Nachricht in die Mailbox zu sprechen.
Till wollte aber noch nicht hören, was Enno ihm zu sagen hatte. Er wollte zuerst zu Jupp, allerdings nur in seinen Gedanken. So stand er nun an dessen Krankenbett, blickte auf die verarbeiteten langen Finger des Mannes, die tatenlos neben seinem Körper auf dem weißen Bett lagen. Sie dort in diesem Zustand zu sehen, tat ihm nicht gut. Er überlegte kurz, ihm ins Gesicht, in die Augen zu schauen, aber dieser Gedanke machte ihm Angst. Wie würde er jetzt aussehen, dieser Mann, über den die Leute schon vor Wochen gesagt hatten, es stehe schlecht um ihn?!
Am liebsten hätte Till auf dem Absatz kehrt gemacht, aber das konnte er vor sich selbst nicht vertreten. Stattdessen verlegte er Jupp in den Reitstall, dorthin, wo er ohnehin nicht wegzudenken war. Hier sah er ihm gern in die Augen. Er hatte sogar das Gefühl, sie aufmerksam in den Blick nehmen zu müssen, denn sie erzählten ihm mehr über diesen hageren Alten, als der in seiner Schweigsamkeit über die Lippen brachte.
Für Till war es ein immer wiederkehrender Reiz, diesen Jupp zu beobachten. Das machte er häufig, wenn er seine Rappstute auf die Koppel geführt hatte. Anschließend nahm er sich etwas Zeit, lehnte sich auf die Holzstangen der Umzäunung und genoss es, ihr zuzusehen, wie sie mit anderen im donnernden Galopp über die Weide preschte. Seitlich davon, bei den zwei großen Stallgebäuden, tauchte Jupp immer irgendwann auf. Er gehörte zu dieser Hofanlage wie die 200 Jahre alten Eichen, die mit ihren hohen borkigen Stämmen wie Garanten für Verlässlichkeit dastanden. Keiner wusste, wo er seine Wurzeln hatte. Sein Zuhause war ein winziger Anbau, der wie angeklebt neben dem rechten Hauptstall stand. Niemand, der auf diesem Reiterhof verkehrte, hatte ihn jemals betreten. Auch Till nicht. Allenfalls Enno Casjens, der ebenfalls nicht viele Worte machte. Hundert Schritte entfernt wohnte er mit seiner Frau in einem alten, mächtig daliegenden Bauernhaus, von dem aus er die Stallgebäude und den wesentlichen Teil seines Besitzes im Blick hatte. Einen so schweigsamen Mann wie Jupp fragte niemand so leicht nach seiner Vergangenheit. Allen auf diesem Hof schien klar zu sein, dass die Geschichte seines langen Lebens viel zu umfangreich war, als dass sie in seine wenigen Wortbrocken gepasst hätte.
Während Till darüber nachdachte, fiel ihm Sarah ein, die Frau vom Parkplatz des Lamberti-Palais. Er fragte sich, warum sie ihm gerade jetzt in den Sinn kam. Vielleicht, weil er auch über sie so gut wie nichts wusste? Sie und Jupp, zwei Gegensätze. Ihm wurde in diesem Moment klar, wie sehr er den Mann mochte. Der hatte es nicht nötig, sich wortreich zu erklären. Was andere von ihm dachten, kümmerte ihn nicht. Er machte sich nicht wichtig, sondern war es einfach. Er ruhte in sich, war zufrieden, wenn er still aufpassen und mitbekommen konnte, wo Hand anzulegen war.
Kurz stellte Till sich vor, wie es wäre, wenn auch Sarah mit Worten geknausert hätte. Er wäre nicht auf sie aufmerksam geworden. Was sie draußen vor dem Toilettenfenster gesagt hatte, war in ihm noch fast wortgetreu vorhanden: »Nein, Ute, ich muss zu ihr. Es geht doch nicht, dass sie da so allein liegenbleibt. Ich möchte jetzt einfach bei ihr sein.« Er hatte keine Ahnung, wer die Frau war, für die sie auf dem Fest alles stehen und liegen gelassen hatte. Aber diese Frage beschäftigte ihn auch nicht.
Er dachte daran, dass Jupp sich ebenso verhalten hätte. Allerdings ohne so eindringlich warmherzige Worte.
Er blickte auf sein Handy, dann fiel ihm auf, dass er Jupp noch nie hatte rennen sehen. Der Mann bewegte sich fort wie ein Trecker, den man gedrosselt hatte. Aber mehr Tempo brauchte er nicht, er kam auch so immer rechtzeitig dort an, wo man ihn brauchte. Für gewöhnlich sogar, bevor sein Chef oder die vielen Freizeitreiter nach ihm riefen. Weil er da war, wusste Enno Casjens immer, dass auf seinem Hof alles seine Ordnung hatte. Er sah von sich aus, wann er die Pferdeboxen auszumisten hatte, sorgte im Winter auch nachts dafür, dass in eingefrorenen Pferdetränken das Wasser wieder fließen konnte, und immer war er es, der die Gerten fand, die Reiter im Sand des Paddocks verloren hatten. Jupp hob sie auf, ließ sie in seiner Wohnung verschwinden und rückte sie mit stillem Vergnügen wieder heraus, sobald ihn jemand fragte, ob er nicht zufällig eine gesehen habe.
Obwohl Till sich Zeit gelassen hatte, seine Mailbox abzuhören, spürte er nun Ungeduld, als die Automatenstimme ihm in gewohnter Langsamkeit mitteilte, dass er eine Nachricht erhalten hatte. Dann endlich die Stimme von Enno. Diesem Mann war es bislang nie in den Sinn gekommen, sich einer Mailbox mitzuteilen. Nun hatte er es doch getan. Aber nicht in seiner ihm vertrauten plattdeutschen Sprache. »Hier ist Casjens. Enno! – Ich wollte dir sagen, dass Jupp nu tot ist. Und dann noch, ob du wohl kommen kannst? Wegen Beerdigung und dem ganzen Kram. Du kennst ihn doch am besten. – Danke! Wiederhören!«
Till saß da, fühlte sich von Traurigkeit gepackt und stierte mit zusammengekniffenen Lippen an die Wand. Ennos Worte klangen in ihm nach: »Du kennst ihn doch am besten.« Diesem Satz war kaum zu widersprechen. Zu Jupps Lebzeiten hätte er sich über ihn gefreut. Doch jetzt hatte er eine andere Bedeutung. Jedenfalls für ihn. Dieser Satz brüllte ihn wie ein Hooligan an. Er hielt ihm entgegen, was er unwiederbringlich versäumt hatte. Und noch schlimmer: auch das, was er selbst für seine Pflicht gehalten hatte. Was der Bauer da sagte, traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, obwohl er genau wusste, dass Enno ihm nichts vorwerfen wollte. Aber mit diesem Schlag stürzten alle Argumente ein, die er in den letzten Wochen vor sich aufgetürmt hatte. Argumente, hinter denen er sich versteckt hatte, wenn seine innere Stimme ihn drängte, den kranken Jupp zu besuchen, und er es nicht tat.
Er hob die Hände, verschränkte sie hinter dem Kopf und ließ sie sogleich mit einer Ladung trauriger Wut auf die Schenkel klatschen. Wie aus einem Ventil entwich ihm das Entsetzen über sein eigenes Verfehlen mit einem einzigen Wort: »Verdammt!« Ganz kurz dachte er noch über eine logisch klingende Rechtfertigung seines Verhaltens nach, die sich aber unterm Strich so oder so schlicht wie unterlassene Hilfeleistung anfühlen würde. Dann schüttelte er den Kopf wie ein Richter, der jede Erklärung seines stammelnden Angeklagten nur noch für blanke Lüge hielt. Till dachte an Grossanter, Mooshammer und die vielen anderen, deren Namen ihm längst nicht mehr auf der Zunge lagen. Für sie alle hatte er seine Zeit mit Verstand und Einfühlungsvermögen zur Verfügung gestellt, hatte ihnen geholfen, Ratlosigkeit und Verzweiflung in lebenswerte Perspektiven zu verwandeln. Jupp hätte mit solchem Aufwand nichts anfangen können, aber mit Tills schlichter Anwesenheit eine Menge.