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„Erzähl mir nix …“

Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen“, hieß es noch beim Hamburger Romantiker Matthias Claudius. Das ist knapp zweihundertfünfzig Jahre später auch noch so, bloß hört den Heimgekehrten keiner mehr zu. Diesen Eindruck jedenfalls hatten Susanne und Herbert, als sie von zwei Wochen Bergwandern in Tirol zurückkamen.

Sie, die Dozentin an einer kirchlichen Fachhochschule für Sozialwesen, und er, der graubärtige Betriebsrat in einem Hightech-Konzern, waren alt genug, um sich noch an die gefürchteten Dia-Abende der Siebziger- und Achtzigerjahre zu erinnern. Fünfhundert Bilder aus St. Peter-Ording, von einem glühend heißen Dia-Projektor „an die Wand geworfen“, der sonor summte und bei jedem Bildwechsel klackerte wie eine Billardkugel. Dazu reichte man Käse-Igel mit Salzstangen. Zu trinken gab es Eierlikör oder süßen Weißwein. Eine damals populäre Methode, mit der man Freunde und Verwandte in kollektiven Tiefschlaf versetzen konnte.

Vorbei, vorbei. Zum Glück.

Susanne und Herbert, zurück aus Tirol, waren aber noch jung genug für ein geradezu kindliches Mitteilungsbedürfnis. Stets darauf hoffend, dass es Freunde und Verwandte interessieren würde, was sie dort zwischen Stein und Schnee so alles erlebt hatten.

„Also allein schon der Anblick“, fing Herbert an, als er in der Warteschlange der örtlichen Postagentur zufällig seinen Freund Wolf-Rüdiger vor sich entdeckte, „treibt dir den Puls höher. Die weißen Gipfel zum Greifen nah und …“

Die „Postagentur“ – was früher mal ein richtiges Postamt gewesen war, hatte sich zu einem Gemischtwarenladen mit Briefmarkenspender gewandelt.

Gestresste Geschäftsleute, die eilige Einschreiben oder größere Geldbeträge loswerden wollten, und Sekretärinnen mit schweren Paketen in der Armbeuge warteten hier gewohnheitsmäßig hinter Kindern, die Kaugummis kauften und Sammelbildchen auswählten. Oder, noch nerviger, sie warteten hinter Teenagermädchen, die Sim-Karten verglichen.

„… und dann lässt du den Lärm der Straßen und Dörfer hinter dir, bist in einer stillen Welt unterwegs, die Luft ist …“ Herberts Augen leuchteten beim Erzählen.

Wolf-Rüdiger sah den Stapel Briefumschläge durch, den er in der Linken hielt, und unterbrach ihn: „Hm hm … solange keine Bulldozer neue Sommer-Rodelbahnen planieren oder Schneekanonen die Skisaison vorbereiten. Alpiner Tourismus erfordert ja in den milden Wintern ganz neue Umstrukturierungen …“

Herbert verstummte kurz, versuchte es aber noch einmal: „Und dann die Wiesen und Almen, die Matten, die Blumen! Hin – rei – ßend, sag ich dir! Susanne ging gleich am ersten Morgen …“

„Nicht echt auf die Dreitausender, oder?“ Wieder unterbrach ihn Wolf-Rüdiger, kniff die Augen zusammen und nahm die Postangestellte hinter dem Tresen ins Visier wie ein Jäger das Wild.

„Nein, aber gesehen haben wir alle. Die Gipfel Österreichs, bei strahlendem Sonnenschein! Vielleicht nicht so pittoresk wie das Matterhorn, aber …“

„Zweitausendvier“, nickte Wolf-Rüdiger.

Eine Dame vor ihm drehte sich um.

„Viertausendvier. Das Matterhorn ist viertausendvierhundert Meter hoch, mein Herr.“ Sie lächelte und nickte belehrend.

„Ich weiß“, antwortete Wolf-Rüdiger, „aber zweitausendvier waren wir dort. In Zermatt, meine ich. Mit den Kindern damals noch.“

Es entstand eine Pause.

Die Frau mit den Matterhornkenntnissen blieb den beiden Männern zugewandt stehen, sodass Wolf-Rüdiger auf ihrem türkisblauen T-Shirt das Wort „St. Thomas“ lesen konnte. St. Thomas. Mit Palme und Möwe daneben. Er fragte nicht, wo das ist.

Herbert versuchte es ein drittes Mal: „In einer unserer Übernachtungshütten gab’s nur zwei Steckdosen. Für die Kaffeemaschine und für die Stehlampe. Aber alle Wanderer wollten ihre Smartphones aufladen. Tja, Pech.“

Die Dame mit dem T-Shirt aus St. Thomas rückte zum Tresen vor und verlangte Briefmarken.

„Ach, die Frau Stockmüller. Na, wieder zu Hause?“, fragte die Postangestellte.

„Ja.“

„Karibik, stimmt’s?“

„Ja. War schön.“

„So soll es sein. Macht sechs Euro zwanzig bitte.“

Mehr war nicht zu sagen.

Wolf-Rüdiger fingerte mit der rechten Hand nach seiner Geldbörse im Jackett und drehte sich ein letztes Mal zu Herbert um: „Also dann.“

Herbert gab auf.

Von der kauzigen Freundlichkeit der Tiroler, der Zartheit alpiner Blumen, vom überwältigenden Panorama der Gletscher, aber auch von den Blasen in den Wanderschuhen, der Atemnot in dünner Höhenluft oder womöglich seinen wunderbaren Gesprächen mit Susanne wollte hier niemand etwas wissen. Nicht mal sein Freund Wolf-Rüdiger. Als der gezahlt und allen Wartenden im Hinausgehen ein „Ciao-und-schön’-Tach-noch“ zugenickt hatte, war Herbert an der Reihe. Er ließ sein Päckchen wiegen, zahlte das Porto und trat auf die Fußgängerzone hinaus.

Nun gut, vielleicht waren Ort und Zeitpunkt ungünstig und eine ausführliche Reise-Erzählung ergab sich ein andermal. Aber – hatte sie sich denn jemals ergeben?

„Urlaubserlebnisse interessieren keinen, weil irgendwie alle irgendwo überall schon mal waren“, meinte Susanne am Abend, während sie grobe Socken auf den Wäscheständer hängte. „Die Fernreisenden können einander jederzeit mit exotischen Details übertrumpfen, und die Pauschaltouristen haben von ihren festgelegten Tagesabläufen in den weltweit gleichen All-inclusive-Hotels kaum was zu berichten. War doch bei uns nicht anders. Weißt du noch, als mich vor Jahren unser englisches Au-pair-Mädchen nach dem Teneriffa-Urlaub fragte: ‚How was it?‘ und ich sagte: ‚Na ja, it went so‘!?“

Susanne prustete vor Lachen über ihren Lapsus von damals. Ihre nüchterne Analyse des allgemeinen Desinteresses an Urlaubsheimkehrern war trotzdem zutreffend. „Oder meinst du, es liegt am Alter?“

Herbert verstand ihre Frage nicht.

„Ich meine: Kleine Kinder und alte Leute erzählen nur von sich, interessieren sich kaum für das, was außerhalb ihres Vorstellungsvermögens liegt, und fragen deshalb auch nicht näher nach.“

Herbert schüttelte den Kopf. „Nein, es liegt am technischen Fortschritt.“

Das wiederum verstand nun Susanne nicht.

„Das Zuhörenkönnen ist dem Zuschauenkönnen gewichen“, erklärte Herbert, „weil du von den Reisenden ja täglich Selfies geschickt kriegst, wo sie gerade sind.“

Susanne hob den Wäscheständer zur Seite und fuhr sich mit den Fingern durch die Haarsträhnen: „Das ist zwar ein bisschen eitel und angeberisch, aber immer noch besser als hinterher Dia-Abende wie früher, stimmt’s?“

Wenn einer mal so richtig „sein Herz ausschütten“ möchte, dachte Herbert Stunden später, kurz vor dem Einschlafen, dann bedeutet das umgangssprachlich, „sein Leid klagen“ zu dürfen. Dann erwartet den Zuhörer eine Litanei aus Problemen, Beschwernissen, Konflikten und Belastungen.

Aber dass er, Herbert, der verkappte Romantiker, gerne mal „sein Herz ausschütten“ würde, weil es randvoll ist mit Freude und Begeisterung – das erwartet niemand. Schade eigentlich.

„Einer der Gründe, warum man in Konversationen so selten verständige und angenehme Gesprächspartner findet, ist der, dass es kaum jemanden gibt, der nicht lieber an das denkt, was er gleich sagen will, anstatt auf das zu hören, was man ihm gerade erzählt“. Das hat François de La Rochefoucauld gesagt. Der war auch Romantiker. Allerdings schon 1664.

Malessa macht Urlaub

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