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Drogen, erlaubte

Der berühmte Spruch „Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur unpassende Kleidung“ kommt wohl nur jenen locker von den Lippen, die ohne Kinder Urlaub machen. Wenn am ersten Regentag die vielen Stunden in Restaurants und Cafés zu Ende gehen und die „aber nur ausnahmsweise!“ erlaubten Pommes- und Eistüten verputzt sind; wenn am zweiten Regentag die Computer-, Brett- und Kartenspiele im Ferienhaus langweilig geworden sind und Vorlesen oder Kreuzworträtsellösen genervt abgelehnt wird; wenn am dritten Regentag alle kindergeeigneten DVDs bereits zwei Mal geguckt wurden; wenn der Schmink- und Malwettbewerb im Museumsfoyer nicht altersgerecht ist, die örtlichen Spiel- und Sportplätze aber bereits Schlammwüsten sind; wenn das Kind beim Gutenachtkuss traurig sagt: „Mama, wann fahren wir wieder nach Hause?“– dann, ja dann kommt die Stunde der Versuchung. In den gestressten Elternseelen erwacht spätabends das Trostbedürfnis, unvernünftige Dinge zu konsumieren. Mutter futtert hemmungslos Schokolade. Vater leert eine Chipstüte in Rekordzeit. Beide würden am liebsten vor die Tür schleichen und unter dem Vordach in der nassen Kälte mit zitternden Fingern heimlich eine rauchen. Wie früher. Als Rauchen, Knabbern und Naschen noch geholfen haben. Als die beruhigende Wirkung von Nikotin, Cholesterin und Serotonin noch mitleidsvoll toleriert wurden.

Nein, natürlich werde ich hier nicht Suchtmittel verharmlosen. Oder womöglich die leichten ungesunden und die tödlich gefährlichen Drogen über einen Kamm scheren. Dass es professionelle Therapeuten, Reha-Pflegerinnen, Sozialarbeiter und Seelsorger sowie ein Heer ehrenamtlich engagierter Menschen gibt, die in Organisationen wie dem „Blauen Kreuz“ oder den „Anonymen Alkoholikern“ um das Leben von Suchtkranken kämpfen, ist ein großer Segen und verdient jeden Respekt. (Plus mehr Gehalt von Kirche und Staat!)

Aber darf ich mal für ein bisschen mehr Nachsicht werben?

Nachsicht mit denen, die im radikalen Rigorismus der Vegetarier, Veganer, Abstinenzler, Nichtraucher, Marathonläufer und sonstigen Konsequenz-Giganten nicht mithalten können? Die im Urlaub mal Urlaub von der Selbstoptimierung machen? Die sogar Urlaub vom schlechten Gewissen machen?

Ein hoch geschätzter Freund und Kollege von mir, Pfarrer von Beruf, wandert alljährlich im Mai mit ein paar Männerfreunden durchs schöne Frankenland. Ansbach, Erlangen, Bamberg, Kulmbach, Bayreuth und so. Eine fromme Gegend, meist evangelisch-lutherisch, vielerorts konservativ pietistisch geprägt. Städte und Dörfer mit herzensguten Bed-and-Breakfast-Gastgebern, die einem Bibelspruch-Kärtchen aufs Kopfkissen und das Losungsbüchlein auf den Frühstückstisch legen. Franken ist aber auch die Region mit den meisten Privatbrauereien, sagt mein Freund. Das Land mit den leckersten Bieren. Da kennt er sich aus. Seine Wanderroute sei eine „Biersortensafari“, sagt er. Und niemand von Verstand wird diesen Kurzurlaub eine „Sauftour“ nennen, oder?

Von El Arenal auf Mallorca, wo sich am „Balnear No. 6“- Strand jährlich bis zu sechshunderttausend Touristen die Kante geben und nachts in die Briefkästen der Anwohner pinkeln, ist die Frankenbier-Wanderung eines Männergesprächskreises doch Lichtjahre entfernt. Wenn Jürgen Drews und Mickie Krause auf der Ballermann-Bühne Zoten reißen und RTL-Reporter den Teenagern zwanzig Euro zustecken, damit sie sich vor der Kamera zum Affen machen – dann darf man das denjenigen nicht vorwerfen, die auf ihrer Finca im Landesinneren gepflegt einen spanischen Rotwein genießen und zu Hause ohnehin immer beteuern müssen, „Mallorca hat aber auch schöne Strände!“

Ausgerechnet in Israel (koscher essen!, Sabbat halten!) können chronisch Kranke in staatlichen Altenpflegeheimen die letzten Monate ihres Lebens weitgehend schmerzfrei genießen, weil Oma ihre Hanfkekse knuspern und Opa sein Marihuanapfeifchen rauchen darf. Cannabis als schmerzlinderndes Sedativum legalisieren? – Als ein kirchlich engagierter (!) CDU(!)-Gesundheitsminister dies auch für Deutschland vorschlug, wussten seine Gegner in den eigenen Reihen sofort die aktuelle Zahl der jährlichen Herointoten auswendig. Warnten vor „Amsterdamer Verhältnissen“ (wo Hasch konsumieren ausschließlich in den Coffeeshops erlaubt ist, draußen ist es strafbar).

Was soll solcher Alarmismus?

Dass Toleranz nicht lästig, sondern lustig sein kann, erleben wir durch unsere muslimischen Mitbewohner.

Als im Sommer 2015 auf einer österreichischen Autobahn siebzig Geflüchtete in einem Kleintransporter erstickten, vorher schon Tausende in der Ägäis ertrunken waren, das Bild eines toten Dreijährigen am Strand die Welt erschütterte und vor dem Budapester Bahnhof ein Heer erschöpfter Menschen bei vierzig Grad Sommerhitze beinah verdurstet wäre, weil Ungarn ein abschreckendes Exempel statuierte, da beschlossen meine Frau und ich, „eventuell eine christliche Familie aus dem Irak“ bei uns aufzunehmen. Es wurden dann vier, später sechs junge muslimische Männer aus Syrien. Fünf Monate lang. Einer wohnt bis heute bei uns.

„Kann man denen vertrauen?“ – Wir überließen ihnen die Wohnung, fuhren drei Wochen in Urlaub … und fanden, zurück daheim, alles blitzblank und pikobello vor. Verachten die uns als Schweinefleischfresser? Nein. Sie bitten uns nur, ihnen keins zu servieren und kaufen mehr Lamm, als sie es sich eigentlich leisten können. Müssen wir auf Begrüßungssekt für Freunde, auf Wein zum Essen und Grappa zum Kaffee verzichten? Nie. „Ihr kommt auch so in den Himmel“, sagte Bilal einmal, „wir halt nicht. Prost!“, und dann stießen wir mit seinem Mineralwasser an.

Ich persönlich gebe mich im Urlaub einem Rauschmittel hin, das ist selten, aber kostenlos und obendrein völlig ungefährlich. Das gibt es nur in einsamen Weltgegenden, nachdem das nächtliche Rauschen des Dauerregens alle Mitreisenden in Tief- und Langschlaf versetzt hat: frühmorgendliche Stille!

Ohne Verkehrsrauschen in der Ferne, ohne Fleißgeklapper aus der Küche, ohne Rollkofferrattern auf dem Hotelparkplatz. Noch früher als die erste Amsel rausgehen, sich ein halbwegs trockenes Plätzchen suchen und die erhabene Stille der nassglänzenden Landschaft einatmen. Ein- und wieder ausatmen. Bis man das Plitsch und Platsch einzelner Tropfen laut findet. Von Stille im Urlaub kann ich nicht genug kriegen.

Malessa macht Urlaub

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