Читать книгу Die Liebesbotschafterin - Andreas Menne Peter - Страница 4
Erster Brief
ОглавлениеMichael betrat die Festungsanlage durch den großen Torbogen. Er hatte seinen Fotoapparat mit. Eine Digitalkamera. Weniger, um Kunsthistorisches zu fotografieren, als vielmehr, um Architektur und Landschaft aufzunehmen, vor allem da, wo sie miteinander verschmolz. Er hielt sich abseits der Touristengruppen. Er hätte an einer der Führungen teilnehmen können, aber er fühlte sich immer in seiner Freiheit eingeschränkt, wenn er in vorgegebenen Bahnen über ein Areal gelenkt wurde. Die Uhr zeigte halb elf. Für eine Anlage wie diese eine ruhige Zeit. Nur vereinzelt liefen die Besucher über den großen Platz und durch enge Nischen. Die Weitläufigkeit und Stille bremste die Leute aus, machte sie aber nicht im Mindesten interessierter. Die Temperatur war noch erträglich. Michael schlenderte durch das historische Ensemble und ein lauer Wind strich ihm übers Gesicht. »Von irgendwo hier kann man sicher die Stadt gut sehen«, dachte er sich. Der Pflasterstein war holprig und man musste aufpassen, dass man sich nicht die Knöchel verknackste, aber er hatte flaches Schuhwerk an und genug Zeit mitgebracht. Die Gebäude warfen lange Schatten, da die Sonne noch recht tief am Himmel stand. Durch ein schmales Gewölbe sah er den Horizont. Von dort hinten musste man einen guten Ausblick haben.
Mittlerweile war er ganz allein. In diesen Teil der Festungsanlage hatte sich noch niemand verirrt. Offensichtlich wiesen die Lagepläne, die am Eingang verteilt wurden, nicht explizit auf eine Sehenswürdigkeit hin oder es hatte einfach noch niemand geschafft, sich bis dorthin durchzuarbeiten. Michael passierte den Durchgang und augenblicklich erfasste ihn eine frische Böe. Er genoss den Wind, der durch seine Haare strich, und schloss einen Moment die Augen, dann trat er an die Brüstung und blickte über die Stadt. Wahrlich keine Schönheit, aber von hier oben war es interessant, sie zu beobachten. Wenn Menschen wie Ameisen wirkten, dann verloren sie jegliche Bedrohlichkeit. Es war, als blickte man in ein Spielzeugland, dachte er. Über den Main fuhr ein Ausflugsdampfer. Nicht viel los. Ob sich dieses Gewerbe überhaupt noch lohnte? Michael drehte ab und ging die Brüstungsmauer entlang, bis er an eine Ecke kam, die wieder vom Hang weg führte. Der Weg war weitläufig und würde vermutlich irgendwo im Ostflügel der Anlage enden. Außerhalb der Festungsmauer war die Böschung grün bewachsen und vereinzelt standen Bäume herum. Gar ein kleines Wäldchen hatte sich hier gebildet. Zu seiner Überraschung stand dort draußen eine steinerne Bank. »Aber wie kommt man dorthin?« Er blickte die Brüstung entlang, doch nirgends war eine Treppe auszumachen. Schließlich lehnte er sich über die Mauer. Sie war hier vielleicht zwei Meter hoch, bis sie in den unregelmäßigen, begrasten Hang überging. Die Stille und Abgeschiedenheit lockte ihn. Sicher hatte dort lange niemand mehr gesessen. Von außen war es viel zu weit vom Tal bis zu dieser Stelle zu gelangen und sicherlich über Privatgrund. Aber wenn er hier von der Mauer sprang, wäre er in null Komma nichts dort. Er schwang sich auf die Brüstung und ließ die Beine außerhalb baumeln. Nun wirkte es höher als gedacht, aber das war wohl immer so. Mit den Füßen voran versuchte er sich langsam abzulassen. Als er mit gestreckten Armen von der Brüstung hing, löste er den Griff und hoffte gut aufzukommen. Das war leider nicht der Fall. Der unregelmäßige Boden ließ ihn sofort straucheln und er schlitterte ein Stück hangabwärts, bevor er sich wieder fing. Er rieb sich die Hände und begutachtete seine Kleidung. Außer ein paar Grasflecken und einem verstauchten Knöchel ging es ihm verhältnismäßig gut. Er lief die wenigen Schritte bis zur Bank und ließ sich dort nieder. Ein wirklich ruhiges Plätzchen und man musste nicht damit rechnen, dass alle naselang jemand vorbeikam.
Er machte es sich bequem und rutsche noch ein Stück in seinem Sitz zurück. Dabei gerieten seine Finger in die Ritze zwischen den beiden Steinen. Die Bank war als Zweisitzer konstruiert worden und zwischen den Quadern war ein schmaler Spalt. Er kam in Berührung mit etwas Weichem, Biegsamen. Vielleicht wuchs Gras zwischen der Bank hindurch, aber das war kaum möglich, denn ein weiterer, durchgehender Stein bildete eine Bodenplatte. Jeder andere hätte es wohl dabei belassen und sich keine weiteren Gedanken gemacht. Wahrscheinlich hatte jemand einfach seinen Abfall in die Bankritze gesteckt, wie das häufig geschah, aber Michael war ein neugieriger Mensch, also lugte er in die Dunkelheit zwischen den beiden Steinblöcken. Er sah ein kleines Plastiktütchen. »Ob hier jemand Drogen versteckt hat?«, dachte er und blickte sich suchend um, als müsste jemand da sein, der gleich seinen Anspruch darauf anmeldete. Schließlich bohrte er mit den Fingern in dem Felsspalt herum. Er bekam das Tütchen aber nicht zu fassen. Er brauchte ein Werkzeug.
Sein blick glitt über das Grünland um ihn und er beschloss, unter einem der Bäume nachzusehen. Irgendwo hier lag sicher ein abgebrochener Ast, der ihm weiterhelfen könnte. Schon nach kürzester Zeit wurde er fündig. Ein Stück Holz, das schmal genug war, um in die Ritze zu passen, aber nicht zu labil, als dass es abbrechen würde. Er ging zurück zur Bank und setzte sich in seine vorherige Position, das war am einfachsten. Er fummelte mit dem Stab zwischen den beiden Steinquadern herum und das Tütchen begann sich zu bewegen, aber er bekam es nicht zu fassen. Stattdessen schob er es so immer weiter in die Ecke, wo es noch schwieriger wurde, heranzukommen. So suchte er ein zweites Ästchen, mit dem er das Objekt greifen konnte. Zusammen mit dem ersten hatte er eine Art Pinzette, kniff das Tütchen links und rechts zusammen und zog es mit einem Ruck nach oben. Es fiel unter leisem Knistern auf die Bank.
Michael warf die Äste weg und begutachtete seinen Fund. Es war tatsächlich ein kleines Plastiktütchen. Ein Druckverschlussbeutel. Darin befand sich aber kein weißes Pulver, sondern eine Notiz auf weißem Papier, das sorgfältig zusammengelegt worden war. Er öffnete den Verschluss und zog langsam den Zettel heraus, als könnte er zu Staub zerfallen, wenn er nicht vorsichtig war. Dabei wirkte das Papier gar nicht sonderlich alt. Es war nicht verwittert oder dreckig, aber das lag wohl an der Tüte. Er nahm den Zettel in die Hand. Das Papier war fest und zart. Vorsichtig zog er es auseinander. Es war achtmal gefaltet und aus dem kleinen Zettelchen wurde ein halber DIN-A4-Bogen. Die Notiz war handschriftlich verfasst worden, mit einem feinen, blauen Stift. Michael hätte auf ein Mädchen getippt, aber die Schrift konnte auch einem lyrischen Jungen gehören. Er begann zu lesen:
Wer hätte gedacht, dass diese Nachricht jemals jemand finden würde? An diesen Ort verirrt sich sonst niemand und kein Mensch guckt nach, was in einer »Sofaritze« ist.
Interessant, dass du es getan hast. Die Frage ist: Was wirst du als Nächstes tun? Diesem Hinweis folgen 20 weitere. Wenn du sie alle findest, findest du mich. Aber ich will dich warnen, das ist keine Schnitzeljagd. Nichts für Abenteurer. Du findest am Ende weder einen Schatz, noch ein Patentrezept für Erfolg. Wenn du deinen Spaß haben willst, leg den Zettel wieder zurück. Du wirst nicht finden, was du suchst.
Wenn du es ernst meinst, dann stellt sich die Frage, ob du mit mir auf einer Wellenlänge bist. Wenn nicht, wirst du die weiteren Botschaften nicht finden. Wahrscheinlich nicht mal die nächste.
Der zweite Hinweis befindet sich in dem Ort, der den Namen der Symbolfarbe beinhaltet, die für die Antwort auf die folgende Frage steht:
Was ist das Wichtigste im Leben?
Dein Herz ist deine Festung.
Dein fragendes Gesicht würde ich jetzt gerne sehen. Es sei denn, du guckst immer so, dann lieber nicht.
Michael ließ das Pergament sinken. Sein Blick glitt in die Ferne. Aber nicht, um irgendetwas zu beobachten, sondern weil er versuchte, den Inhalt des Schreibens zu erfassen. Machte sich da jemand einen Spaß? Gab es tatsächlich weitere Hinweise? Und wie alt war das Papier? Vielleicht hatte der Schreiber längst vergessen, dass er hier eine Nachricht hinterlassen hatte. Komisch, noch vor einer Minute war er ein nichtsahnender Tourist gewesen und jetzt mitten in einem großen Versteckspiel. Na ja, nicht ganz ahnungsloser Tourist. Schließlich war es ihm vielleicht gar nicht erlaubt, die Festung auf diesem Weg zu verlassen und ob er sich hier auf Privatgrund befand, wusste er auch nicht. Egal. Er steckte den Zettel ein und kletterte über die Brüstung zurück auf die andere Seite. Es war Mittag geworden und er würde erst einmal etwas essen. Denn schließlich war er ja hier, um sich zu erholen und nicht, um sich den Kopf zu zerbrechen. Er musste sich aber rasch eingestehen, dass er nicht so einfach loslassen konnte. Immer wieder ging ihm das Schreiben samt Rätsel durch den Kopf.
Der zweite Hinweis befindet sich in dem Ort, der den Namen der Symbolfarbe beinhaltet, die für die Antwort auf die folgende Frage steht:
Was ist das Wichtigste im Leben?
Der Satz war so sperrig formuliert, dass Michael drei Anläufe brauchte, bis er überhaupt verstand, was die Frage war. Zunächst mal: Was ist das Wichtigste im Leben? Na ganz klar »Liebe«, dachte Michael. Symbolfarbe? Die Symbolfarbe der Liebe war »rot«. Das ist ja einfach. Unbewusst lief er zurück durch den Torbogen. Dabei wollte er sich doch hier etwas am Kiosk holen, aber er konnte auch in die Stadt fahren. Er setzte sich ans Steuer seines alten Volvo und dachte weiter über das Rätsel nach. Ein Ort mit »rot«. Es gab sicherlich viele Orte mit dieser Bezeichnung im Namen. Er müsste im Internet recherchieren. Er entschied sich in die Stadt zu fahren und ein Internetcafé aufzusuchen. Bei der Gelegenheit könnte er auch etwas essen.
***
Geistesabwesend schob er sich den Rest eines Schokodonuts in den Mund, den er sich in einer Bäckerei am Straßenrand gekauft hatte. Zuerst hatte er nach einem Ort mit »rot« gegoogelt, was ihm unendlich viele Treffer einbrachte, die – schlimmer noch – häufig in keinerlei Verbindung mit dem Ortsnamen standen. Also suchte er nun eine Ortssuche. Es gab so viele Seiten im Internet, etliche Suchmaschinen, warum nicht auch eine, welche die Namen von Städten und Gemeinden durchforsten konnte? Tatsächlich stieß er auf eine solche, aber das Ergebnis war niederschmetternd: Es gab unzählige Orte mit der Bezeichnung im Namen, selbst in der näheren Umgebung waren es Dutzende. Hohenroth, Rothenbuch, Rothenfels ... So würde er nicht weiterkommen. Er nahm wieder den Brief zur Hand. Vielleicht hatte er ja was übersehen. Da: Dein Herz ist deine Festung.
In Rothenbuch gab es ein Jagdschloss, aber die Burg Rothenfels kam einer Festung näher. Aber meinte sie es nicht vielleicht doch nur im übertragenen Sinne? Übertragen auf was?
Er entschied sich für Rothenfels. Das hieß, er entschied sich, zuerst Rothenfels anzusteuern und danach Rothenbuch und danach ... würde er weitersehen.
Er gab den Namen des Zielortes in sein mobiles Navigationsgerät ein.
»Meine Güte«, dachte er sich, »wie leicht es heute ist, bestimmte Dinge zu erfahren.« Das System errechnete eine 42 Kilometer lange Route. Geschätzte Dauer bis zur Ankunft: 45 Minuten. Michael machte sich auf den Weg.
***
Er war noch nie über diese Straßen gefahren, kannte die Orte und Landschaften nicht. Schon seltsam, wenn er bedachte, wie vertraut er mit mancher Region war, in der er gerne seinen Urlaub verbrachte, aber schon fünf Kilometer von seinem eigenen Zuhause konnte er sich fremd vorkommen. Er wohnte in Schweinfurt, war selbständiger IT-Kaufmann und dieses Wochenende sollte eigentlich sein persönlicher, kleiner Freizeittrip werden. Er hatte vor, sich spontan ein Hotelzimmer zu nehmen, wo auch immer er sich gerade befand. Nur kein Stress. Jetzt kam alles anders. Er konnte jederzeit damit aufhören, das wusste er. Aber er konnte auch nicht, das war ihm ebenfalls klar. Er würde sich solange fragen, was hinter dieser Sache steckte, bis er sie gelüftet hatte.
Das Gebiet wurde ländlicher, aber die Straßen waren gut ausgebaut. Irgendwann erreichte er eine Kleinstadt: Marktheidenfeld. Er dachte kurz darüber nach, ob er anhalten sollte, um sich zu orientieren, aber er würde den Weg zurück schon wieder finden, notfalls auch ohne Navi. Es ging weiter über eine Mainbrücke und durch das nächste Dorf. Dann erreichte er die Ausfahrt Rothenfels. Er las »Rothenfels« und »Bergrothenfels« auf dem Schild und beschloss, nun doch einmal anzuhalten.
Rothenfels war eine Stadt, Bergrothenfels ein Ort. Sicher, auch eine Stadt war in gewissem Zusammenhang ein Ort, aber hatte sie nicht geschrieben: »in dem Ort«? Ja! Ein Irrtum war somit ausgeschlossen.
Er startete den Motor und fuhr den Berg hinauf. Nach einer Minute hatte er die Ortseinfahrt erreicht. Da wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie es nun weitergehen sollte. Sie hatte nichts davon geschrieben, was nun zu tun sei.
Er hielt innerorts an einem Parkplatz, um sich zu vergewissern. Nichts! Hatte er sich doch im Ort geirrt? Müsste ihm der Hinweis ins Auge springen? Quatsch. Welcher Hinweis sollte so markant sein, dass ihn nicht schon längst jemand gefunden hätte? Vielleicht die Burg! Möglicherweise gab es an der gleichen Stelle wieder eine Bank mit einem Hinweis. Nein, der Hang war zu steil an dieser Seite. Hatte er sich im Ort geirrt? Sollte er nach »Hohenroth« fahren? Aber was sollte ihm dort auffallen, was es hier nicht auch gab? Er dachte verschiedene Szenarien durch. Was war der bedeutsamste Punkt in einem Ort? Der Marktplatz! Aber ein Dorf hatte für gewöhnlich keinen Markt.
Etwas resigniert stieg er wieder ins Auto, schließlich kam ihm ein Gedanke. Er fuhr zurück zum Ortseingang, vielleicht war das deutlichste Symbol für ein Dorf das Ortsschild.
Er passierte es und fand kurz darauf eine Einfahrtschneise, wo er anhalten konnte, dann lief er zu dem Schild und blickte zu ihm auf, als müsse sich dort ein Hinweis befinden. Schließlich schüttelte er den Kopf und lehnte seine Arme resigniert auf die Leitplanke. Er befand sich unterhalb der Burg und vor seinen Augen lief ein schmaler Bach in einem tiefen, ausgebauten Flussbett. Vielleicht hatte es einst als Schutzgraben für die Burg gedient. Er sah das schmale Rinnsal, auf einem der Steine war mit Farbe ein rotes Herz gemalt. Michael starrte darauf, zunächst gelangweilt, dann alarmiert.
Ein rotes Herz? Das konnte Zufall sein. Rot, die Farbe der Liebe ... na, der Zusammenhang war nun wirklich sehr weit hergeholt. Einem inneren Impuls folgend schwang er schließlich die Beine über die Leitplanke und stieg hinab in den Graben. Das Wasser reichte ihm nicht mal bis zu den Knöcheln, so konnte er trockenen Fußes durch das Flussbett waten. An der anderen Seite machte er vor dem Herz halt. Es befand sich gut einen Meter über dem Boden auf einem der Quader aus rotem Sandstein.
Michael kratze sich an der Lippe und blickte die massive Mauer an. Schließlich berührte er den Stein. Er saß locker! Sein Herz machte einen Sprung. Mit beiden Händen begann er ihn aus seiner Fassung zu rütteln, bis er den Brocken in der Hand hatte. Wenn jetzt jemand käme, würde der ihn noch wegen Sachbeschädigung oder gar Diebstahls belangen, aber es herrschte bis auf den Lauf des Baches Totenstille. Michael blickte in die nun entstandene Lücke. In ihr lag ein kleines Plastiktütchen mit einem Zettel. Eilig nahm er es heraus, setzte den Stein wieder an seine ursprüngliche Stelle und kletterte hinauf zu seinem Wagen. Im Auto wischte er den Dreck von dem Tütchen und prüfte sorgfältig, ob es trocken war, damit keine Nässe ins Innere geriet und die Schrift verwischte. Dann begann er mit zittrigen Händen den Zettel zu entfalten. Er war genauso groß wie der erste, aber diesmal dichter beschrieben. Er begann zu lesen.