Читать книгу Am Sandpass - Andreas Nolte - Страница 10
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ОглавлениеSelbstverständlich fährt Suse ab sofort mit dem Auto zur Schule. Selbstverständlich nimmt sie ihren kleinen Bruder nicht mit.
Es war keine weite Strecke, fünf Minuten. Als sie an der Schule vorfuhr, waren schon alle Parkplätze belegt. Sie schaute zum Hof, aber niemand beachtete sie. Soll ich mal hupen?
Die Schelle ertönte, zehn Minuten bis zum Unterricht. Suse fuhr einmal um den Block. Kein Parkplatz, noch fünf Minuten. Eine weitere Runde, endlich fuhr jemand weg. Noch eine Minute! Sie musste 300 Meter im Sprint zurücklegen. Außer Atem erreichte sie den Schulhof.
Der Direktor war schon auf dem Posten und hielt alle Klassen im Visier. Kurz traf sein stechender Blick Suse, dann begann er mit seiner Rede. Das Übliche: Pflichten, Hürden, Leistung– schon tausendmal gehört. Darauf die Hymne. Sie schielte zur Parallelklasse. Jakob stand in der Mitte, er sang mit– in seiner Klasse sind ja all die braven Schüler.
Später im Klassenraum: „Frau Suse, wie oft muss ich Sie noch auffordern mitzusingen?“ Wenn der Lehrer schlechte Laune hat, redet er sie immer so an.
„Herr Matuscheck“, antwortete sie, „ich bin jetzt volljährig und muss nicht mehr mitsingen.“
„Ich möchte Sie an die Schulordnung erinnern. Die gilt auch für Sie.“
„Aber die Sache mit der Hymne dient doch nur zur Disziplinierung der Kleinen.“
„Reden Sie nicht so einen Unsinn! Wenn Sie so freundlich wären, wie die anderen, wenigstens so zu tun als ob.“ Der Lehrer hielt ihrem Blick stand. Da sagte sie: „Na gut, weil Sie es sind.“
Früher, dachte Herr Matuscheck, früher holten die Lehrer bei solch renitenten Schülern schon mal die Rute heraus; war aber auch nicht besser, damals. „Nehmen Sie bitte die Bücher und schlagen Sie auf Seite sieben auf.“
Die Pause kam, Suse stand mit ihren Kumpels auf dem Schulhof; Gundel, Goldie und Gerd heißen sie. „Übrigens“, sagte sie, „ich hab jetzt`en Auto.“
Sie sah Jakob. Er nickte ihr kurz zu, dann drehte er sich schnell weg. PENG, ein Stoß! Genau da, wo ihr Herz ist– ihr Herz gewesen war! DER kann mich doch mal!
„Und? Können wir mal mitfahren?“ fragte Gerd.
„Sollen wir nicht nachher `ne Tour machen?“ fragte Goldie.
Suse war einverstanden. Man würde allerdings noch über die Benzinkosten sprechen müssen. Später. Ihr Vater hält sie nämlich knapp bei Kasse. Sie fragte: „Wohin?“
„Wie wär`s zu den Junkies?“ schlug Gerd vor.
„Du meinst doch nicht etwa die im Oberen Heutal?“ Gundel war ängstlich. Gundel ist immer ängstlich.
„Natürlich“, rief Suse. Es kursierten da so Geschichten über diese Leute. Das klang interessant.
Goldie bemerkte: „Unser Angsthase.“
„Leck mich!“ antwortete Gundel.
Goldie sagte: „Hier gibt`s doch nur einen Junkie. Willst du etwa zu dem?“
„Meinst du den Alten Hemingway?“
„Der ist ja ganz fürchterlich. Der stinkt!“
„Was habt ihr nur mit dem Hemingway?“ sagte Suse, „dann lass uns nach der sechsten ins Heutal fahren.“
Als der Unterricht zu Ende war, packten sie eilig ihre Sachen zusammen. „Wartet draußen, ich komm gleich!“ rief Suse und lief zur Parallelklasse. Aber Jakob war schon weg. „Suchen Sie etwas?“ fragte die Lehrerin.
„Ist–?“ Suse fiel Jakobs Familienname nicht ein. „Ach, schon gut.“
Als sie aus dem Gebäude lief, wäre sie fast über Jakob gestolpert. Er hockte am Ausgang mitten im Weg und zog die Riemen seiner Sandalen enger; hatte er vielleicht auf sie gewartet? Er richtete sich auf.
„Und?“ fragte sie.
„Was: Und?“
„Und; willst du mit?“
„Wohin denn?“
Mit Freunden ins Obere Heutal, erklärte sie.
„Zu den Junkies?“
„Das ist doch geil! Komm mit!“ rief sie laut. „Vielleicht haben die ja auch`en Joint für uns.“
Er überlegte. „Gut“, sagte er dann.
Sie stellte Jakob ihren Freunden vor. Gundel kannte ihn anscheinend schon; Suse bemerkte da einen speziellen Blick zwischen den beiden. Dann sagte sie sich, dass es wohl nichts zu bedeuten hat; in Sabel kennt einfach jeder jeden. „Der mit den längsten Beinen darf neben mir sitzen“, rief sie. Tatsächlich hatte Gundel die längsten Beine; sie ist ein Meter vierundneunzig groß.
Alle unterhielten sich, nur Suse nicht. Sie konnte nichts mehr sagen, sie kam sich mit einem Mal so verlassen vor; viel schlimmer, als wenn sie tatsächlich alleine gewesen wäre; manchmal hat sie solche Momente. Ihr fiel das Benzingeld wieder ein; es ärgerte sie, dass keiner ihrer Freunde von selber auf die Idee kommt, es anzubieten. Bin ich eigentlich blöd?! Etwa so kleinkariert wie mein Vater?
Sie gab Gas, der Wind wehte ihre Haare nach hinten, und sie vergaß ihren Groll. Endlich spürt sie Freiheit! Die Straße führte kontinuierlich bergan, die Landschaft änderte sich. War das Gras unten in der Ebene noch kümmerlich und verdorrt, wächst es hier mannshoch und höher. Will man rechts und links der Straße diese Wildnis durchdringen, braucht man Mut; es sollen schon Leute darin verschollen sein.
Die Straße wurde immer schlechter. Nach 20 Kilometern passierten sie das letzte Haus vor der Wildnis; schon seit vielen Jahren war es eine Ruine. Die Straße war jetzt nur noch eine Schotterpiste. Sie wurde immer schmaler, bis die Gräser darüber zusammenwuchsen; sie fuhren wie durch einen Tunnel. Selbst das Navi fand sich hier nicht mehr zurecht und zeigte Fantasiewerte an: 45 Meter unter dem Meeresspiegel, der Pfeil wanderte durchs Nichts und es hatte aufgehört, seine Anweisungen zu geben.
Suse kurvte, um die größten Schlaglöchern zu vermeiden. Sie fuhren noch weitere 4 Kilometer. „Sind wir hier auch richtig?“ fragte Gundel.
„Solange der Weg nicht aufhört“, sagte Suse. Ihr war egal, ob sie irgendwo ankämen.
Schließlich deutete sich die Siedlung der Junkies an. Über dem Weg hing ein Holzregenbogen. Darauf stand: CASA LIBERTAD.
„Sind das Spanier?“
„Das ist nur so ein Name.“
Der Weg endete an einem Schotterplatz. Dort standen zwei alte Transporter. Sie sahen so aus, als würden sie nur durch bunte Klebebänder zusammengehalten. Aber die Nummernschilder waren gültig. Suse fuhr an den Rand des Platzes. Als sie den Motor ausgestellt hatte, wurden sie von der Stille überwältigt; niemand bewegte sich. Erst als Goldie rief: „Hee, sind wir in der Kirche?“ lachten alle.
Sie stiegen aus und schauten zu den Felsen hoch. Das Obere Heutal wird von drei Seiten umschlossen. Auf den Gipfeln liegt auch im Sommer Schnee, sie sind mehr als 3000 Meter hoch.
„Es ist sehr einsam hier.“ – „Ein bißchen unheimlich, oder?“ – „Aha, das ist also das Ende der Welt.“
„Man darf das Paradies nicht betreten.“ Jakob zeigte auf ein Verbotsschild am Ende des Schotterplatzes.
„Leute, habt ihr Schiss?!“ rief Suse. Sie ging zu dem Pfad, der an dem Schild vorbei führte und im hohen Gras verschwand. Sie schaute sich nicht um, ob ihre Freunde wirklich folgten. Hinter ihr schlossen sich die Gräser wieder. Der Boden federte, er war feucht.
„Anscheinend versickert das Wasser hier nicht direkt.“ Suse erschrak, als Jakob das sagte; sie hatte ihn gar nicht folgen hören. „Kommen die anderen auch?“ fragte sie.
„Na, wahrscheinlich.“
Sie gingen etwa fünf Minuten, dann öffnete sich das Gras. Vor ihnen lagen Gärten, in denen Gemüse wuchs. Kinder waren zu hören, ein Esel, aber sie sahen niemanden. Hinter den Gärten waren die Behausungen in die Felsen gehauen. Überall wuchsen Blumen.
Gundel, Goldie und Gerd kamen auch. „Sollen wir sie wirklich stören?“ fragte Jakob.
„Glaubst du, ich bin so weit gefahren nur für die Aussicht?“ sagte Suse.
„Okay. Aber was wollen wir hier?“ fragte Jakob.
„Dope“, antwortete Suse und ging weiter. Als die anderen wieder zögerten, rief sie ohne sich umzuschauen: „Kommt endlich, ihr Heulsusen!“
Die Wohnhöhlen lagen teilweise übereinander, durch Leitern miteinander verbunden. Sie waren nur mit Fliegenvorhängen verschlossen. Vor der Felswand lag ein Platz mit Bänken und einer Feuerstelle.
Suse zündete sich eine Zigarette an. „Hallo, ist da jemand?“ rief sie. Als sie noch einmal rief, kam von drinnen eine Antwort: „Wer ist da?“ rief eine Frau.
„Besuch!“ antwortete Suse.
Die Frau erschien zwischen dem Fliegenvorhang. Sie trug einen bunten Sack als Kleidung, war vielleicht 40 oder 50 Jahre alt. Sie rief: „Was wollen Sie hier?“ Nicht direkt unfreundlich, eher überrascht.
Aus einer der anderen Behausungen kam eine weitere Frau, auch sie in Säcken gekleidet. Sie war etwas blass um die Nase. „Hee!“ rief sie zu Suse gewandt, „machen Sie die Zigarette aus. Hier ist rauchfreie Zone.“
„Ich dachte–“, fing Suse an. Sie trat widerwillig ihre Zigarette aus. „Diese rauchfreien Zonen breiten sich aus wie ein Krebsgeschwür!“ sagte sie zu ihren Freunden gewandt. Der Frau entgegnete sie: „Und wie rauchen Sie dann Ihre Joints?“
Die erste Frau verzog das Gesicht: „Schön wär`s.“ Sie zeigte auf die Bänke: „Setzt euch doch.“
Die andere antwortete: „Das gibt`s hier nicht mehr. Wir sind drogenfrei, schon lange. Im Übrigen: Haben Sie das Schild am Parkplatz nicht gesehen?“
Die erste Frau kam mit einer Karaffe aus ihrer Wohnung. „Wollt ihr Saft? Setzt euch doch. Ich bin Marianne.“
„Sie müssen jetzt gehn“, sagte die andere. Sie schaute böse zu ihnen hinüber. Marianne stellte Suse und ihren Freunden Gläser auf den Tisch.
Suse setzte sich als erste. Sie sagte zu Marianne: „Danke schön. Ich bin Suse.“ und reichte ihr die Hand. „Das sind meine Freunde.“ Sie gaben Marianne nacheinander die Hand.
Die andere Frau stand da wie vorher, kam aber auch nicht näher, so als gäbe es eine unsichtbare Grenze zwischen den beiden Frauen.
„Es kommt sehr selten jemand her“, sagte Marianne.
„Ja, wir wollten nur einen kleinen Ausflug machen“, sagte Suse. Sie setzte sich. „Ihr lebt hier sehr schön.“
„Ja, die Landschaft ist sehr schön.“ Marianne lächelte nicht mehr.
Suse zündete sich eine Zigarette an. Die andere Frau rief: „Rauchen ist tödlich.“
Suse klappte ihre Zigarettenschachtel ein paar mal auf und zu: „Ach guckt mal, jetzt plappern die alten Schachteln schon ihre Warnung.“
„Komm lass!“ sagte Jakob und legt die Hand auf ihren Arm. Suse schüttelte die Hand ab und rief der Frau zu: „Wussten Sie nicht, dass 100% aller Nichtraucher sterben?“ Sie nahm einen tiefen Zug und blies zu der Frau hinüber. „Leben endet immer tödlich!“
„Hör endlich auf!“ rief Gundel. „Du musst immer das letzte Wort haben!“
Jakob fragte Marianne: „Bei uns heißt es immer, hier würde den ganzen Tag gekifft?“
„Ja, wir waren mal so frei.“
„Du bist doch glücklich hier, oder etwa nicht?“ rief die andere Frau. Marianne zuckte zusammen.
Suse verlor mit einem Mal die Lust. Sie trat ihre Zigarette aus und stand auf. Das Ganze erschien ihr wie schlechtes Theater. „Lasst uns zurückfahren“, sagte sie.
Marianne begleitete sie zum Auto, sie ging hinter Suse: „Sag mal, kannst du mir vielleicht ein paar Zigaretten hier lassen?“
Suse gab ihr die ganze Schachtel; sie hatte genug geraucht für diesen Tag.
„Kommt ihr uns noch mal besuchen?“ fragte Marianne.
„Ja, bestimmt“, antwortete Jakob, „hier ist es schön. Wenn ich helfen kann–.“
„Ja, vielleicht–.“
Suse fuhr auf der Rückfahrt schneller, die Schlaglöcher schüttelten den Wagen. Jakob sagte: „Für Gedankenkontrolle braucht man gar keine elektronischen Hilfsmittel.“
Niemand antwortete. Als sie an der Ruine vorbeikamen, zurück in der Zivilisation, da rief Gundel: „Mach doch mal Musik an!“
„Wer will schon so leben?“ sagte Suse. Sie wollte nach ihren Zigaretten greifen. Als sie ins Leere griff, fügte sie hinzu: „Und dann ist auch noch alles verboten.“
„Es war so schön ruhig da“, meinte Jakob.
Suse setzte die Freunde an der Schule ab. Endlich hab ich meine Ruh!