Читать книгу Am Sandpass - Andreas Nolte - Страница 11

12.09. – 10 –

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Ralph wartete wieder auf den Feierabend. Noch ein Stempel auf die Briefe, dann konnte er sie abheften. Den Ordner ins Regal, neben all die anderen Ordner. Es gab sie in unterschiedlichen Farben: Blau für Materialbeschaffung, grün die Verkäufe, rot waren Mahnungen. Im Laufe der Jahre hatte Ralph auf diese Weise einige Reihen gefüllt. Manchmal betrachtet er sie voller Zufriedenheit wegen all der Arbeit, die erledigt war; manchmal aber quält ihn der Gedanke an all die Lebenszeit, die er schon damit vertan hat.

Der Werkstattmeister kam zu ihm: „Hallo Chef. Ich mach dann mal Feierabend heute.“ Die Hände schon gewaschen, den Arbeitsanzug behält der Mann auf der Heimfahrt immer an; er ist stolz auf seine Arbeit. Die Mappen mit den Autoschlüsseln und den Diagnosen legte er auf den Tisch. „Bin mal gespannt, was meine Frau heute gekocht hat“, sagte er.

„Kocht sie jeden Abend für Sie?“

„Das will ich wohl meinen. Bei euch Deutschen ist es ja so, dass der Mann nicht nur das Geld verdienen muss, sondern auch noch die Küche putzt.“ Die Familie des Werkstattmeisters stammt aus Ägypten.

„Na ja.“ Ralph versuchte zu lachen. „Es ist halt nicht so einfach.“

„Wisst ihr was?“ sagte der Werkstattmeister, „ihr macht die Sache noch komplizierter, als sie so schon ist.“

„Was?“

„Das mit Mann und Frau. Nix für ungut, Chef. Ich bin dann mal weg.“

Als Ralph nach Hause kam, ging er zum Kühlschrank. „Ist hier nichts?“ rief er. Er erwartete keine Antwort, aber seine Frau rief aus dem Wohnzimmer zurück: „Ich hatte heute keine Zeit. Mach dir ein Spiegelei.“

Seine Frau hatte wieder Schule; sie und Danny essen dann immer dort. Ralph kochte sich Nudeln. Eine Büchse Mais dazu, Speck anbraten, Pesto, nach zwanzig Minuten hatte er sich ein akzeptables Gericht bereitet. Er ging damit ins Wohnzimmer, wo seine Frau Kopien sortierte. Im Fernsehen liefen die Nachrichten, manchmal schaute sie kurz hin. Nichts Neues in der Welt, außer den üblichen Katastrophen: Krieg, Korruption, Intoleranz, alles weit weg von hier.

„Findest du nicht, dass Daniel zum Eigenbrötler wird?“ sagte seine Frau. „Er hängt immer vor dem Computer. Es kommen ihn auch keine Freunde mehr besuchen.“

„Erst vorletztes Wochenende waren doch zwei da. Ich habe sie lachen hören.“

„Ja, aber selten.“

„Ich hatte in seinem Alter auch keine Freunde.“

„Ja, da siehst du: Heute hast du ja auch keine Freunde.“

„Es fehlt mir nichts. Es hat mir auch damals nichts gefehlt.“ Ralph wandte sich wieder dem Fernseher zu. Natürlich war das gelogen; wie gern hätte er damals Freunde gehabt. Aber heute fehlt ihm das wirklich nicht mehr. Vielleicht ist auch alles nur eine Illusion.

„Das ist ja auch dein Problem“, sagte seine Frau.

„Das ist gar kein Problem. Ich möchte jetzt fernsehn.“ Er wandte ihr die Schulter zu.

Ralph hörte, dass sein Sohn in die Küche kam und den Kühlschrank öffnete. „Is hier nix?“ rief er.

„Ich hab hier noch was übrig“, rief Ralph zurück.

„Was denn?“ Danny kam und schaute in den Topf. „Schmeckt das?“

„Natürlich nicht“, antwortete er. „Du musst es halt probieren.“

Danny holte sich einen Teller und setzte sich zu ihm.

„Hast du schon die Hausaufgaben gemacht?“ fragte die Mutter.

Danny sah fern.

„Hörst du?“

Ohne vom Bildschirm aufzuschauen, sagte er: „Nur du kommst auf die Idee, uns gleich am Anfang so viele Hausaufgaben zu geben.“

„Was meine Kollegen machen, ist mir egal. Ich finde es wichtig, dass man gleich vom ersten Tag an in die Routine zurückkommt.“ Eine Weile sagte sie nichts, dann fing sie wieder an: „Du hast dich ja gleich neben die Neue gesetzt: Freddy.“

Danny aß weiter. „Schmeckt gut“, sagte er zu Ralph gewandt.

„Habt ihr euch gut verstanden? Ist sie nett?“

Vater und Sohn riefen gleichzeitig: „Ich will fernsehn!“

„Da sind wir mal ausnahmsweise zusammen, und ihr Männer müsst fernsehn!“

„Du hattest ihn angemacht“, erinnerte Ralph sie. Ein Familienleben; ob es an irgendeinem Ort der Welt auch anders geht? Wenn sie jetzt noch etwas sagt, bin ich weg.

Sie sagte aber eine Weile nichts, und als sie später wieder anfing, reagierte er einfach nicht. „Ich geh dann mal ins Bett“, sagte sie schließlich.

Er könnte ihr folgen. Es könnte sich ja noch mal etwas ergeben zwischen ihnen in dieser Nacht. Nein, wahrscheinlich ist sie zu müde, und ich bin dann wieder nur frustriert. Ralph sah also noch etwas fern. „Musst du nicht ins Bett?“ fragte er seinen Sohn.

„Ja.“ Danny blieb aber sitzen.

Nach einer Weile sagte Ralph: „Dann geh mal.“

„Ich bin zu müde.“

„Wir sind alle müde.“ Ralph schaltete den Fernseher aus, Danny ging ohne Protest Zähne putzen.

Auch eine der alltäglichen Lügen, dachte Ralph, ich bin ja gar nicht müde. Etwas frische Luft täte gut, ein Spaziergang durch die Nacht. Draußen war es schon frisch, sodass er den Mantel anzog. Ob sie noch immer ihre Mahnwache halten?

Gegenüber der Nummer 17 standen sechs Leute, Haraldson war auch dabei. In einer Tonne brannte ein Feuer, das Holz hatten sie dahinter gelagert; sie erwarten wohl kältere Zeiten. Das Transparent war in den Boden gesteckt, nicht mehr ganz straff gespannt; SICHERUNGSVERWAHRUNG konnte nur noch lesen, wer wusste, worum es ging. Die Männer hatten jeder eine Flasche Bier in der Hand, es hatte mehr mit Lagerromantik zu tun als mit Protest. Sie riefen auch nichts mehr, sie standen herum und plauderten miteinander.

Ralph überlegte, ob es nicht besser wäre umzukehren. Da entdeckte ihn Haraldson und winkte ihn herbei: „Kommen Sie doch!“

Ralph beeilte sich nicht. Noch bevor er die Männer erreichte, hatte Haraldson ein Bier für ihn geöffnet und streckte es ihm entgegen. „Schön, dass sie gekommen sind. Wir können jede Unterstützung gebrauchen.“

„Fürs Bier?“ fragte Ralph und deutete zum Kasten.

Haraldson lachte: „Das schaffen wir schon alleine. Prost.“ Er stieß seine Flasche an Ralphs und nahm einen kräftigen Schluck. Ralph trank kurz. „Haben die sich schon blicken lassen?“ Er deutete zum Haus.

„Nein, ist immer dicht.“

„Ist überhaupt jemand da?“

Haraldson zuckte mit den Schultern. Dann sagte er: „Aber darum geht`s ja gar nicht. Wir wollen ein Zeichen setzen!“

Wofür? – Ralph sagte aber: „Das ist wohl wichtig.“

„Ja, dass so einer“, und dann wiederholte Haraldson die ganze Geschichte über Kaczek, die Ralph kannte, so gut wie jeder andere in Sabel. Alles war damals, vor fünfzehn Jahren, wochenlang in der Zeitung ausgebreitet worden. Ralph nickte ein paar Mal, irgendwann hatte Haraldson alles erzählt, und als er nach einer Pause begann, die Geschichte erneut vorzutragen, trank Ralph den letzten Schluck aus seiner Flasche und sagte einfach mitten hinein in die Rede: „Danke fürs Bier. Ich muss dann mal.“ Er hielt Haraldson die Hand hin.

„Schade, ich hätte Ihnen noch so viel erzählen können. Na ja, kommen Sie doch bald noch mal vorbei.“

„Werd ich.“ Ralph wandte sich zuerst in die Richtung, aus der er kam. Als die Männer ihn nicht mehr sehen konnten, bog er ab und ging weg von zu Hause, ohne Ziel. Niemand war mehr auf der Straße, hinter den verschlossenen Gardinen der Häuser wechselte das Licht, manchmal im Takt, manchmal abrupt; die Leute sind am fernsehen, und ich? Alles läuft in der Spur, jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr, und am Ende sind wir tot. Er spürte, wie ihm der Gedanke den Atem nahm. Er packte den Schlüsselbund in seiner Manteltasche. Als er ihn herauszog, eine Schlüsselspitze zwischen den Fingern, ging er ganz nah an den parkenden Autos vorbei; so nah, dass die Spitze den Lack zerkratzte. Es gab ein hässliches Geräusch. Seltsam genug löste sich da der Krampf in seinem Kopf. Er fühlte die Erschöpfung, wie nach Sex. Auch die Ernüchterung danach.

Er kratzte an fünf oder sechs Autos entlang, dann ließ er den Schlüssel wieder in die Manteltasche fallen. Ein Gedanke erschreckte ihn: Hatte das Mädchen letztens nicht doch bemerkt, was er da tat? Wie war noch gleich ihr Name? Er spürte, dass eine Sehnsucht in ihm steckt, genau wie damals, da war er so alt wie dieses Mädchen heute; und wie sehr hatte er sich damals ein Mädchen erträumt! Auf dem Schulhof hatte es eins gegeben, Tanja war ihr Name; er hatte sie nie angesprochen. FREDDY. Ja, das ist ihr Name; immer wieder musste er an das Mädchen denken; bin ich etwa verliebt?! In eine 13jährige? Ich bin doch nicht so einer wie dieser Kaczek, auf den jetzt Haraldson aufpassen muss!

Ralphs Hand war verschwitzt von all diesen Gedanken. Er ging schneller, merkte gar nicht, wohin. Er war am Stadion angelangt. Der große Platz lag im Dunkeln. Bei Sportveranstaltungen wird der Platz von vier großen Masten beleuchtet. Am Rand erkannte er das Wohnmobil, das er vor ein paar Tagen hierhin fahren sah. Eine Laterne brannte auf dem Tisch. Ein Mann saß dort und las. Es war aber zu weit weg, um Genaueres zu erkennen. Dass es Fremde überhaupt hierhin verschlägt.

Er versuchte, seine Gedanken auf Banales zu lenken; zum Beispiel auf die Gründe, die Touristen dazu verleiten könnten, länger als eine Nacht in Sabel zu bleiben: Sehenswürdigkeiten? Die Neugier zu erfahren, welch seltsame Wesen in dieser abgeschiedenen Gegend leben? Wird Sabel überhaupt in irgendeinem Reiseführer erwähnt? Nicht dass ihn die Antworten auf diese Frage sonderlich interessiert hätten, aber es war eine Methode, nicht länger an Freddy zu denken.

Als seine Gedanken sich beruhigt hatten, ging er nach Hause und schlüpfte neben seine Frau ins Bett.

Am Sandpass

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