Читать книгу Am Sandpass - Andreas Nolte - Страница 6
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ОглавлениеSpätestens mit Ankunft am Hotel hatte sich ihre Euphorie verflüchtigt. GRAND HOTEL; die Leuchtbuchstaben überragten das Dach des Hauses. Es kam ihr lächerlich vor; als wärs eines der Traumschlösser von ihrem Bruder, die der sich für seine Modelleisenbahn bastelt.
Der Wohnbereich der Familie lag in einem Anbau hinter dem Hotel. Ihr Vater wünscht es nicht, dass die Familienmitglieder durch die Lobby gehen; meistens wird sein Wunsch ignoriert. Jetzt, wo sie ein Auto hat, wird sie immer von hinten kommen, vom Parkplatz her.
Sie warf ihre Schultasche unter die Garderobe, schlüpfte aus den Boots und wollte gerade weiter zur Küche gehen, als sich Mutter ihr in den Weg stellte: „Schon mal was von GUTEN TAG gehört?“
„Tag. Und, darf ich mir jetzt vielleicht was zu essen nehmen?“
„Räum erst mal dein Zeugs aus der Diele. Überall stolpert man!“
„Okay, okay.“ Sie schob die Boots mit dem Fuß an die Wand und warf die Tasche auf die unterste Treppenstufe: „Nehm ich gleich mit hoch. Darf ich jetzt mal durch?!“ Wie ihr diese ganzen Vorschriften zum Hals raushängen!
Mutter rief: „Hast ein Auto jetzt und bist noch immer nicht zufrieden!“
Suse nahm sich ein Stück Käse, ein Brot, schnitt Tomaten, und wusste die ganze Zeit, dass Mutter ihr dabei zuschaut– weil sie immer noch auf eine Antwort hofft; da kann sie aber lange warten! Suse nahm den Teller und ging zu ihrem Zimmer hoch. „Dass die Teller auch ja wieder runterkommen!“ rief Mutter hinterher.
Was redet die im Plural? „Ich lass nie was oben!“ rief Suse zurück. Sie stieß die Zimmertür mit dem Fuß zu. Ihre Mutter: Eine Hausfrau, immer am nörgeln, nie zufrieden!
Suse setzte sich auf die Fensterbank, einen Fuß auf den Dachziegeln. Unten auf der Veranda lag die Kusine in der Hängematte, ein Glas neben sich, mit einem Strohhalm, als wäre sie im Urlaub. Und ständig diese Trauermiene! Ist die wirklich so traurig?
Suse ging mit dem leeren Teller hinunter. Sie nahm auch älteres Geschirr mit, so viel sie tragen konnte, und stellte es auf der Spülmaschine ab. Mutter rief von nebenan: „Häng noch die Wäsche auf!“
„Könnt ihr euch nicht endlich mal `nen Trockner anschaffen?“
Ihre Mutter steckte den Kopf in die Tür: „Wenn du die noch lange feucht in der Maschine lässt, wird sie wieder riechen. Dann beschwer dich nicht!“
Suse holte die Wäsche aus dem Keller. Mit dem Korb ging sie auf die Veranda. Sie sagte: „Frederike, du kannst auch mal was tun.“ Sie fing an, die Sachen auf die Leine zu hängen. Die Schnüre waren quer über die Veranda gespannt. „Hast du gehört?“ sagte Suse. Sie hängte eine Hose so knapp über die Hängematte, dass sie fast den Strohhalm der Kusine berührt hätte– stört die nicht mal! Suse sagte: „Hast du Bohnen in den Ohren?!“
„Ich heiße Freddy.“
„Dann also: FREDDY. Beweg gefälligst deinen Arsch!“
Nach einer Weile stand Freddy aus der Matte auf und half. Suse fragte: „Bist du wirklich so traurig, oder wie?“
„Traurig?“ fragte Freddy, „was meinst du damit?“
„Na ja, wegen deinen Eltern und dem Unfall.“
„Es ist mehr so– das Geräusch da“, antwortete Freddy.
„Wie meinst du?“
„Weißt du, als sich der Stahlträger ins Auto bohrte, da gab es so ein Geräusch– ein Schaben, wie Metall auf Knochen. Ich hab es immer noch im Ohr. Wenn ich so liege, wie eben.“
„Dann solltest du besser nicht so faul da rumliegen.“ Sie sah ihrer Kusine dabei zu, wie sie die letzten T-Shirts aufhängte. Als Freddy fertig war, fragte Suse: „Hast du da eigentlich gar nichts abbekommen?“
Freddy hob ihren Pony. Auf beiden Seiten der Stirn zogen sich zwei gerade Wunden entlang, sie waren fast vernarbt. „Seh ich nicht aus wie Frankenstein?“
„Na ja, die Narben werden wohl bleiben“, antwortete Suse, „aber sei froh, dass du kein Mann bist. Die bekommen da ganz schnell `ne Glatze.“
Als Freddy zurück in die Hängematte wollte, sagte Suse: „Das ist nicht deine!“ Sie schob ihre Kusine beiseite und ließ sich selber hineinfallen. Vom Tisch angelte sie sich ein Urlaubsmagazin, in dem sie herumblätterte. Freddy wartete einen Moment, dann ging sie.
Sommer, Sonne, Sand und Strand; wie wäre es unter Palmen zu liegen und den ganzen Tag nichts zu tun? Mit dem Auto so weit zu fahren, bis die Straße im Meer endet? Mit Jakob. Sie träumte.
Die Schritte ihres Vaters holten sie aus dem Halbschlaf. Seit einiger Zeit schleifen seine Füße immer über den Boden; aber nur, wenn er glaubt, allein zu sein. Sie bewegte sich nicht. Er stand am Geländer und starrte auf das kleine Stück Rasen zwischen Veranda und Parkplatz. Es war komplett vertrocknet.
Willi Haraldson erwartete nichts mehr; gibt es doch Momente, da ist der Kopf so voll, dass man keinen Gedanken mehr fassen kann. Als sich die Hängematte bewegte, schrak er hoch. Es war seine Tochter; hat sie mich etwa die ganze Zeit beobachtet? Nur lächeln, egal wie schwer es fällt! „Na“, sagte er, „wie war die erste Fahrt in deinem neuen Auto?“
„Ja, schön.“
„Und, wo warst du hingefahren?“
Suse folgte dem Blick ihres Vaters. Aber sie konnte nicht erkennen, ob er da etwas sah, wo er hinstarrte. „Ist das eine Inquisition?“ fragte sie.
Vater wandte ihr den Kopf zu; ein verständnisloser Blick. Sie begriff, dass er seine Frage lediglich aus alter Gewohnheit gestellt hatte und nicht, um sie zu kontrollieren. „Zum Sandpass“, antwortete sie.
Es dauerte etwas, bis er reagierte. Aber als er sich zu ihr umdrehte, lächelte er: „Weißt du, dass ich damals auf meiner ersten Fahrt alleine– da bin ich auch zum Sandpass hoch.“
„So was“, antwortete sie, erstaunt, dass ihr Vater etwas aus seinem Leben erzählt. „Ja, danke auch noch mal für das Auto“, sagte sie.
„Ja, ja. Bitte.“ Er zögerte.
Sie fragte: „Und? Fährst du jetzt auch noch manchmal zum Sandpass?“
„Ich war schon lange nicht mehr– na ja, bei der Probefahrt letzte Woche natürlich. Ich komm so selten hier weg, weißt du. Die Arbeit.“
„Ja, die Arbeit. Ist Arbeit eigentlich immer wie ein Gefängnis?“
„Wie kommst du darauf?“
„Alles, was man so liest– es scheint mir fast so.“
Sein Blick ging durch sie hindurch. Schließlich gab er sich einen Ruck und sagte: „Ja, man könnte fast diesen Eindruck gewinnen.“ Er verschwand durch die Tür.
Nach einiger Zeit wurde sie wieder in ihren Gedanken gestört. Ihre Mutter trat auf die Veranda und sagte: „Du musst mir einen Gefallen tun, ja? Und deinen Bruder abholen.“
„Muss das sein?“
„Die haben eben angerufen. Der Bus kommt später und wir haben einen Termin.“
„Was für`n Termin denn?“
„Einen Termin halt. Ja? Holst du ihn ab? So gegen neun.“
Dass Eltern alles von ihren Kindern wissen wollen, aber selbst nichts verraten! „Wenn`s sein muss“, antwortete sie und nahm ihr Magazin wieder auf.
Es war schon dunkel, als sie zum Großen Markt fuhr. Hier liegen die wichtigsten Gebäude von Sabel: Der Dom, den man anderswo nur Kirche nennen würde; das neue Rathaus, für das man sich auf fünfzig Jahre verschuldet hat; das Gymnasium für die Kinder der besseren Leute; ein anderes gibt es hier sowieso nicht. Es standen viele Eltern herum, die auf den Reisebus mit den Kindern warteten. Alle redeten miteinander. Manche der Leute kannte Suse vom Sehen. Sie hielt sich abseits.
Nach einer dreiviertel Stunde ertönte das Horn, der Bus kam um die Ecke. Sie hatten eine weite Fahrt hinter sich, vom Meer, fast 1500 Kilometer. Suse hatte den Ort bei Google gesucht. Ob sie mitfahren wolle, hatten ihre Eltern sie gefragt; MIT DIESEM KINDERGARTEN?
Sie hätte ihren Bruder fast nicht wieder erkannt, dabei war er nur drei Wochen weg gewesen: Schmutzig, dürr, die Haare lang und schon wieder fünf Zentimeter gewachsen. Ist es passend, so einen dreizehnjährigen Etwas noch zu umarmen? Sie ging auf ihn zu, er lachte und winkte seinen Freunden zum Abschied zu. Sie standen einander gegenüber. Ein kurzer Blick in die Augen, dann war klar, dass sie ihm nur die Hand reichen durfte. „Wie war`s?“ fragte sie.
Er sah ihr neues Auto und fragte: „Ist das deins?“
„Ja.“
„Kann ich auch mal–“
„Nein.“
„Du weißt ja gar nicht, was–“
„Klares Nein.“ Sie war froh, dass wenigstens noch die Dialoge zwischen ihnen in üblichen Bahnen verliefen. Sie nahm ihm das Gepäck ab und verstaute es im Kofferraum.
Er erzählte vom Wasser, vom Strand, wo sie abends immer Feuer gemacht hatten, von den Schiffswracks, die dort bei Ebbe auftauchen. Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie doch hätte mitfahren sollen.
Zu Hause. „Ist niemand hier?“
Suse antwortete: „Die haben irgendeinen Termin. Ach ja, und dann ist jetzt unsere Kusine da.“
„Kenn ich die?“
„Mama sagt, dass wir die mal besucht hatten. Aber ich kann mich nicht erinnern. Du sowieso nicht, da warst du erst zwei oder drei.“
„Wo ist sie denn?“
„Wahrscheinlich in meiner Hängematte.“
Felix ging auf die Veranda. Tatsächlich lag jemand drin. Es war dunkel, nur das Display ihres Phones gab Licht. Die hat aber einen kantigen Kopf! „Hallo“, sagte er, „kennen wir uns?“
Es dauerte, bis sie antwortete: „Ich glaube nicht.“ Sie streckte ihm aus der Matte die Hand entgegen. „Ich bin Freddy.“
Sie hatte eine dunkle Stimme, das gefiel ihm. Er sagte: „Hat dich meine Schwester noch nicht aus der Matte geworfen?“
„Doch.“
„Die macht das immer so.“
Sie stand auf und stellte sich ihm gegenüber. Sie war so groß wie er, trug Shorts wie er und ein T-Shirt. In der Dunkelheit sah es so aus, als wär`s einer seiner Freunde nachts am Strand. „Und, wie gefällt`s dir hier?“ fragte er.
„Ja, wieso nicht.“
Er verstand ihre Antwort nicht ganz; ihr Akzent ist komisch; vielleicht kann sie gar nicht richtig Deutsch? „Ich meine“, sagte er betont langsam, „fühlst du dich gut oder schlecht?“
„Du brauchst nicht mit mir zu reden wie zu einem Idioten!“
„Ich dachte nur.“ Er schaute zu Boden.
„Ach, mein Akzent. Ich kann so gut Deutsch wie du.“ Sie stupste ihn kurz an der Schulter: „Was machst du denn so alles?“
Er zählte auf: Fußball, im Schwimmverein, mit dem Fahrrad, „wenn mein Vater nicht hinter mir her ist wegen der Hausaufgaben. Ach ja, und dann habe ich noch eine Modelleisenbahn. Willst du sie mal sehen?“
„Ja, klar.“
„Ich muss jetzt aber erst mal was essen“, sagte er und ließ sie stehen.