Читать книгу Am Sandpass - Andreas Nolte - Страница 9
10.09. – 8 –
ОглавлениеÜberm Bett in ihrem Zimmer hingen Bilder zur Erbauung: Sonnenblumen von van Gogh, Seerosen von Monet. Schule hat wieder begonnen; für Freddy ist es nicht das erste Mal, dass sie in eine neue Schule kommt: Neue Gesichter, neue Regeln, neue Gemeinheiten.
Als sie nach dem Duschen in die Küche der Familie kam, war niemand da. Sie hatte Hunger und nahm sich Wurst, Käse, Marmelade, Senf aus dem Kühlschrank. Sie kannte Selbstversorgung seit sie in den Kindergarten ging. Aber irgendwie– auf der Fahrt nach Sabel vor zwei Wochen, als sie sich ausmalte, wie es da wohl wäre, wo sie hinfuhr, da hatte sie gedacht, sie käme in eine richtige Familie, wo sich die Mutter um die Kinder kümmert: Ihnen Brote schmiert, ihnen geeignete Kleidung rauslegt, ihnen– MUSS MAN DIR ETWA NOCH DEN HINTERN PUDERN? hatte ihre Mutter gerufen, als Freddy einmal erwähnte, was in anderen Familien so üblich ist. Aber hier in Sabel– Freddy war enttäuscht.
Ihre Tante kam in die Küche. Sie war im Nachthemd, die Haare standen wirr. „Mor`n“, knurrte sie. Sie blickte desorientiert umher: „Kein Kaffee?“
„Soll ich dir einen machen?“ fragte Freddy.
Die Tante knurrte wieder; es hieß wohl GERN.
„Bist du sonst nicht so früh auf, Tante Carla?“
„Lass endlich die TANTE weg. Ich bin noch nicht so alt!“ Sie setzte sich und starrte vor sich auf den Tisch, während Freddy ihr Kaffee machte.
„Kommen die beiden nicht?“
„Schon. Irgendwann.“
„Ich glaub, da duscht jemand“, sagte Freddy.
„Kann nur Suse sein. Und der Kaffee?“
Freddy stellte ihr den Becher hin. „Und wo ist Felix?“ fragte sie.
„Hat ja`n Wecker.“
„Na, hoffentlich hört er ihn.“
„Wird wohl.“ Nachdem Carla den Kaffee getrunken hatte, wurde sie umgänglicher. „Was isst du denn da für Brote? Wurst mit Marmelade? Käse mit Marmelade? Du hast ja einen seltsamen Geschmack.“
„Die meisten haben den Geschmack, den sie gezeigt bekommen. Mir hat ja niemand was gezeigt“, antwortete Freddy.
„Typisch.“
„Wie?“
„Na, typisch für meine Schwester, dass sie sich nicht darum kümmert.“
Freddy antwortete nicht.
Carla lachte: „Na, sie ist da wie ich.“
Freddy war es, als löse sich der Boden unter ihren Füßen und sie starre in einen Abgrund.
„Was starrst du so?“ fragte Carla. Als Freddy weiterhin schwieg, bemerkte sie ihren Fehler: „Ist es–? Entschuldige bitte. Ich hab nicht mehr daran gedacht.“ Dann sagte sie noch einmal: „Entschuldigung. Tut mir Leid. Deine Mutter war da aber wirklich wie ich.“
„Mutter war okay“, sagte Freddy. Sie aß weiter.
„Ich wollte nichts gegen deine Mutter sagen.“
„Sie war halt krank und im Bett.“
„War es so schlimm?“
„Nicht die ganze Zeit. Wo muss ich denn gleich hin?“
Carla gab ihr den Brief von der Schule: „In die 8b, wie Felix. Soll ich mitkommen?“
„So?“ Freddy zeigte auf das Nachthemd.
„Ich bin in einer Minute fertig.“ Carla deutete an aufzustehen.
„Nicht nötig.“ Freddy machte sich für die Pause ein Senfbrot mit Marmelade. „Ich geh jetzt.“
Carla hatte sich zurück auf den Stuhl fallen lassen: „Tut mir Leid. Morgens ist nicht meine Zeit.“
„Ist schon okay.“
Felix kam lärmend aus seinem Zimmer: „Warte auf mich! Ich muss nur noch grad ein Brot essen.“
„Ich warte in der Schule“, antwortete sie und ging.
Die Schule, ein altehrwürdiges Gebäude, die einzelnen Klassen müssen sich vor dem Unterricht in Gruppen auf dem Schulhof aufstellen. Freddy dachte, niemand kennt mich, so könnte ich auch ganz jemand anders sein.
Einige Schüler standen schon an dem Schild der 8b. Sie schwatzten miteinander; jeder, der hinzutrat, wurde laut begrüßt. Von ihr nahm niemand Notiz. Nur ein Junge, der stand auch allein dort. Ein dicker Junge mit roten Pausbäckchen. Er aß sein Butterbrot. Hat so ein ehrliches Gesicht; mit Sicherheit ist er derjenige in der Klasse, der an allem Schuld hat, egal was passiert. Und passiert nichts, ist er es auch Schuld. Jede Klasse hat so einen. „Muss man hier jeden Morgen stehen?“ fragte sie ihn.
Der Junge schaute auf: „Ja. Wir singen die Hymne und dann gehen wir in die Klassen.“ Er zeigte zum Flaggenmast, wo die Fahne der Republik schlaff herunterhing.
„Komische Sitten“, sagte sie.
„Seit zwei Jahren machen wir das so. Es soll der Disziplin dienen.“
„Wo ich herkomme, interessiert man sich nicht so sehr dafür.“
„Wo kommst du denn her?“ Der Junge schlang den Rest seines Brots hinunter, als würde er gleich verhungern.
Sie antwortete: „Aus New York.“
„Dann bist du ja Amerikanerin. Du klingst aber nicht so amerikanisch.“
„Meine Eltern sind Diplomaten.“
„Aber die Hauptstadt ist doch Washington. In New York gibt es keine Botschaften.“
„Was du nicht alles weißt! Sie waren bei der UN.“
„Aber in Amerika, ist da der Fahnenappell nicht üblich?“
„Du weißt ja gut Bescheid. Warst du schon mal in Amerika?“
„Muss ich nicht. Ich hol mir die Welt ins Haus.“
„Macht ja jeder.“
„Und wieso bist du jetzt hier?“
„Meine Eltern vertreten seit Neuestem unser Land in Afghanistan. Das ist zu gefährlich für mich, sagen sie. Deshalb muss ich jetzt hier bei meiner Tante leben. Wie heißt du denn eigentlich?“
„Afghanistan. Da möcht ich auch mal hin.“
„Ist sehr heiß dort. In jeder Beziehung. Und, wie heißt du?“
„Daniel. Du kannst mich aber auch Danny nennen. Und du?“
„Freddy. Nur Freddy.“
„Okay, Freddy. Gleich ist es soweit.“
Inzwischen standen rund zwanzig Schüler an dem Schild. Die Jungs gegelt, die Mädchen bemalt, mit Phone und Schmuck, gepierct, gezackt, getan; genau wie dort, wo sie herkommt. Felix kam angerannt, gerade bevor die Lehrerin sich vor der Klasse aufstellte. Die Schüler standen in Fünferreihen, wie bei der Armee.
Der Direktor erschien und sprach etwas. Danach richteten sich die Blicke auf die Flagge, und über Lautsprecher wurde die Hymne gespielt. Man sang oder tat so, und am Ende ging jede Klasse ihrem Lehrer hinterher. „Das war jetzt alles?“ fragte Freddy.
„Hast du mehr erwartet? Wir sind ja nicht in Amerika.“
„Sollen wir uns nebeneinander setzen?“ fragte Freddy.
Er sah sie erstaunt an, dann lächelte er: „Ja, gerne! Ich möchte allerdings vorne sitzen, wenn du nichts dagegen hast.“
„Das ist mir egal.“
Die Klasse hatte eine neue Lehrerin bekommen, eine Frau mit strenger Frisur und hohem Busen. Sie sagte: „Ich bin Frau Johanson. Falls mich jemand noch nicht kennt.“
In der letzten Reihe wurde gekichert. Frau Johanson schaute scharf dorthin, augenblicklich verstummten die Schüler. Sie sagte: „Falls mich jemand noch nicht kennt: Es gibt exakt eine Aufforderung. Beim zweiten Mal bekommt derjenige eine Menge Arbeit: Toiletten, Hof, Küche. Damit wir uns gleich richtig verstehen!“
Sie nahm die Anwesenheitsliste von ihrem Pult. Jeder musste aufstehen, wenn sein Name genannt wurde. Danny neben ihr hieß wie die Lehrerin: Johanson.
„Frederike Zazo.“ Sie war die Letzte auf der Liste. In dieser Klasse würde sie bei allem die Letzte sein. Sie stand auf: „Sie können mich Freddy nennen.“
„Du bist neu hier.“ Frau Johanson wandte sich an die anderen: „Wer erklärt Freddy die Regeln in der Schule?“
Niemand meldete sich. „Dann tu du es“, forderte sie Danny auf.
Er begann: „Gebot 1: Du sollst Ordnung halten. Gebot 2: Du sollst Streitigkeiten friedlich beilegen.“ So ging das fort bis Gebot 10: Du sollst keinen Kaugummi unter die Tische kleben.
Als Danny fertig war, verteilte die Lehrerin die Liste für die Materialien, die sich jeder im Geschäft zu besorgen hatte. Bei Frau Johanson würden sie Geschichte und Englisch haben. „Sind noch Fragen? Good. Let`s start the lesson. Who wants to tell us about her or his holiday?“
Nach dem Unterricht ging Freddy ein Stück mit Danny. „Bist du verwandt mit Frau Johanson?“ fragte sie.
„Gewissermaßen. Sie ist meine Mutter.“
„Da hast du`s ja gut.“
„Kann man nicht so sagen.“ Er erklärte ihr, dass er im Zweifelsfall immer die schlechtere Note bekommt. „Sie will sich keinem Verdacht aussetzen.“
„Ich verstehe.“
„Und außerdem kann ich ihr keine Geschichten erzählen. Sie kennt immer schon die volle Wahrheit.“
Sie fragte, wieso die Schule die Schüler disziplinieren wolle, wo doch bestimmt alles friedlich sei hier auf dem Land.
„Es hat Fälle von Vandalismus gegeben.“
„Was denn?“
„Was man so kennt: Graffitis, zerkratzte Autos, brennende Papierkörbe. Nichts Besonderes.“
„Da kenn ich wirklich anderes“, sagte Freddy; was nicht stimmte; in Wirklichkeit kannte sie das auch nur von YouTube: Brennende Häuser, brennende Städte, brennende Menschen.
„Die Disziplinierung ist lächerlich“, sagte Danny, „solange die Herrschenden nicht bereit sind, Verstöße zu sanktionieren. Nur dann werden sich solche Formalia durchsetzen lassen.“
„Wie meinst du?“
„Na ja, die Lehrer müssten schon den Rohrstock schwingen. Dann würden wir ganz andächtig auch der langweiligsten Zeremonie folgen. Wie es früher mal war.“
Freddy dachte: Von diesem Jungen kann ich noch was lernen.