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Mittwoch, 2. Mai

Immer noch Cap Corse an Backbord, wie ein mahnend erhobener Finger am Nordende der Insel, als wolle er sagen: „da seht hin, dort oben liegt mein Mutterland Frankreich. Vive la France.“ Von dort kommt auch der Mistral.

Macinaggio schon seit dem Auslaufen am Morgen achtern hinter uns. Tagesziel ist St. Florent, das bedeutet einmal um den Fingernagel herum. Ein richtig wolkenloser Segeltag. Tina im Hemdchen auf dem Deck hingegossen. Sonnenbaden. Hautcreme. „Machst du mal, Schatz?“ Das Leben genießen. Kicherndes Wasser unter dem Kiel. Freiwache. Muße für alles und nichts. Soll ich vielleicht jetzt mal fragen..? Heikles Thema. Angst? Schuldbewußtsein, unterdrückte Panik? Eigentlich nicht. Warum auch. Es ist ja auch nur ein vager Verdacht. Vage? Doch schon etwas mehr. Ich setze mich neben mein Sonnenluder auf das Kajütdach.

○○○

„Du, Süße?“

Ja, was ist?“

„Das wollte ich DICH fragen.“

„Wie war das?“

„Was ist mit deiner Blase?“

„Ach das meinst du.“ Tina hebt etwas den Kopf, blinzelt zu mir ´rüber.

„Das meinst du also.“ Sie rollt sich auf die Seite und legt ihren Kopf auf mein Bein. Ihr Blick macht eigentlich jedes weitere Wort überflüssig.

Aber jetzt will ich es wissen, genau wissen. Sie bemerkt es. Sie hebt ihren linken Arm und fasst nach meiner Hand. Wir verschränken unsere Finger wie in einem gemeinschaftlichen Gebet, obwohl sie mit Kirche mehr am Hut hat als ich, jeder aus seinem eigene Grund. Wirklich, wir sind doch schon verheiratet, eigentlich. Was heisst Hochzeit. Hohe Zeit. Die haben wir schon seit dem ersten Tag, an dem wir uns kennenlernten. Höher geht’s einfach nicht. Doch schon, wenn das mit der Schwangerschaft stimmt. Wenn sie sagt, ich sei ihr Liebster, dann heisst das doch nichts anderes als: du bist mein Mann. Hört sich fabelhaft an. Und ich sage dann: du bist meine Süße. Und das bedeutet: du bist meine Frau. Und jetzt sind wir auf unserer Hochzeitsreise. Was soll das: Papiere. Gratulation. Muttertränen. Kumpelgedränge. Blumenstrauß womöglich und sowas wie Brautjungfern in rosa Kleidchen. Was war das gleich nochmal? Wo kriegt man die her? Aha, nur Minderjährige noch. Wenn Du es sagst. Trauzeugen haben wir aber schon dabei, was Chris? Für eine offizielle Zeremonie ist das Schiff aber etwas zu kurz. Alles nur Gerüchte. Wenn überhaupt, dann nur unter Maltesischer Flagge auf hoher See, zum Beispiel. Oder auf ´nem Kutter, auch nur mit einem Standesbeamten. Alles andere ist Seemannsschnickschnack.

Sie sagt : „Endlich alles klar an Bord, Mann?“

„Ja, Frau, jetzt schon.“ Ihre Ohren leuchten rot auf. Heisere Stimme, etwas vibrierend. Hüsteln.

„Du hättest es als erster wissen können, Du warst doch so nah dran.“

„An was?“

„Na, an mir.“

„Wie, an dir?“

„Hast du dich nie gefragt, ich meine, seit wir zusammen wohnen, warum ich so anhänglich bin?“

„Bemerkt hab´ ich das schon. Hat mir auch gut gefallen. Ich dachte, es wäre die neue Umgebung. Deine Eltern zu Besuch. Das französische Menü, das wir zusammen für sie gekocht haben. Und wie dir dann übel geworden ist. Zuviel Ingwer. Aber davon mal abgesehen. Klar, daß dich das angemacht hat, nach der Studentenbude, unter dem Regiment der Concierge mit Blockwart-Mentalität. Ist doch normal. Mein Gott, war das ein männerfeindlicher Drachen. Weisst du noch?“

„Das schon. Aber auch das andere.“

„Was andere?“

„Überleg´ doch mal. Was hat dich denn so wild gemacht?“

„Mmh, tja..“

„Ihr Männer. Weisst du´s wirklich nicht? Keine Idee?“

„Ehrlich gesagt, nein.“

„Jedes Baby könnte es erklären, wenn es schon sprechen würde.“

„Jetzt versteh´ ich garnichts mehr, sorry.“

„Was machen denn die Babies mit ihren Müttern, oder vielmehr an ihren Müttern? Na?“

„Quengeln? Haare zerren? Rumgegrapsche? Ne, jetzt weiss ich’s. Auf dem Schoß rumhopsen, stimmt’s?“

„Oh Gott, wenn ich dich nicht so lieben würde! Die haben doch auch mal Hunger. Und dann?“

Jetzt hat sie mich. Jetzt bin ich es, der rot wird. Ich spüre es genau, knallrot. Liebesrot. Aber nicht, weil ich mich schäme oder verlegen bin. Ganz anders. Ich stelle mir das vor, was sie die ganze Zeit gemeint hat. Und das macht mich toll. Ja, natürlich. Richtig wie weggeflogen wirkte sie, wenn ich ihr Baby war, in dieser Hinsicht. Und das soll ein Zeichen von Schwangerschaft sein? Da bin ich aber früher, noch bevor ich sie kannte, öfter mal Hans im Glück gewesen, in doppelter Weise, sozusagen. So ist das also. Davon werde ich ihr aber nichts erzählen. Wäre nicht fair. Ist ja auch völlig unwichtig jetzt. Da habe ich, scheint´s, meine orale Phase durch alle Unbilden des Lebens am Leben erhalten können. Schafft auch nicht jeder. Und Tini, wenn ich das bei dieser Gelegenheit mal anbringen darf, hat ihre Nagetierphase auch immer noch nicht abgelegt. Warum? Weil sie gern an mir herumknabbert. Bei meiner Nasenspitze angefangen. Pass doch auf, sei bloß vorsichtig, das tut weh. Männergejammer, obwohl es so gut tut.

Sie hat es gesehen. Ich glühe immer noch. Ganz sicher. Ihr Gesicht strahlt. Auch unsere anderen beiden Hände falten sich ineinander. Sie hat sich dafür zu mir hochgesetzt. Ich kann jede kleine Einzelheit in ihrem glücklichen Gesicht sehen. Ich trinke sie alle, sauge sie in mich hinein, kann nicht genug davon bekommen, von der frechen Nasenspitze, die so schlank in einer unvergleichlich perfekten Linie zu den Augenbrauen hochzieht, so küssenswert die glatte, leicht gewölbte Stirn, die den blonden Haaransatz trägt, das zart blaue Äderchen an ihrer Nasenwurzel, und erst die Augensterne, die blauen, die mich fixieren, leicht verschleiert glücklicherweise, weil ich sonst ihre Strahlung, ihre Ausstrahlung nicht ertragen könnte. Die Iris ist wie der Blick in ein Kaleidoskop, farbig und vielgestaltig, so wechselnd auch in ihrer feinen Struktur. Nein, bitte nicht noch ihren Mund beschreiben. Das halte ich nicht aus. Wie die Lippen unmerklich anschwellen und sich in ihrer vollendeten Form verändern, wenn sie ein Wort bilden wollen, oder auch nur ein Lächeln sich anbahnt.

Das ist die totale Hypnose, die meine kleine Hexe wieder einmal anwendet, und ich bin so hilflos, so süchtig danach, so unendlich voll mit Serotonin und Dopamin. Freudenbringer. Der ultimative Trip. Endogenes Doping praktisch. Tatsächlich, jetzt weiss ich es. Und sie weiss, dass ich es weiss. Und dann spricht sie es aus. Zum ersten mal sagt sie es für mich: „Wir bekommen ein Kind.“ Und für sich sagt sie es auch. Ich höre, wie sie es geniesst, als hätte sie einen Haschkeks gegessen.

Ist sie nicht zum Küssen meine kleine Tini? So cool habe ich sie noch nie erlebt. Immer neue Überraschungen. Frauen eben. Die großen, unbekannten Wesen. Stimmt, der Satz. Kann ich nur bestätigen. Neben mir liegt der immer noch mädchenhaft schlanke Beweis, der schönste, den man sich vorstellen kann. Im November also, genau wie ich. Unfassbar.

„Da könntest du wohl recht haben“, sagt sie, anscheinend zusammenhanglos. Kann sie etwa meine Gedanken lesen? Hatte schon wiederholt den Eindruck. Sie sagt öfter Dinge, die ich überlege, oder die das beantworten, was ich gerade denke. Intuition, Empathie, weiß nicht. Es gibt zum Beispiel Tage, an denen ich mich ermattet fühle, du verstehst schon, so als Mann. Ja, das kann’ s auch in meinem Alter mal geben, kannst mir glauben. Sie bemerkt es wohl, ist ja nicht schwer, lässt mich dann in Ruhe, bietet sich nicht mal vorsichtig an, ganz im Gegensatz zu sonst. Sensibilität. Zurückgezogene Bescheidenheit. Erspart verlegenes Nebeneinanderliegen, heimliches Herumwälzen, soweit das heimlich überhaupt geht. Eben all der Kram, der Ehen kaputt machen kann. Entweder man redet dann drüber (Du, das macht doch nichts, kann immer mal passieren, ist wirklich nicht schlimm, dann halt nächstes mal…so in dem Stil, auch wenn dieses Wort im Zusammenhang nicht besonders geschickt gewählt ist. Anerkanntes, klassisches Ehekiller-Drehbuch). Oder du hast ein Engelswesen neben dir, das jedes Wort überflüssig macht, dessen feinsinniges Verhalten Dir zeigt, dass es alles, was es macht, vielmehr nicht macht, ehrlich meint und fühlt. Das ist ein Stück Paradies, oder wenigsten eine Oase in einer versandeten Situation.

○○○

Mir ist plötzlich alles egal. Ich ziehe sie an mich, lege meine Arme um sie, halte sie fest. Meine Arme wie die Tentakel eines Tintenfisches um ihren Leib geschlungen, sitze ich einfach nur da und staune, wieviel Glücksgefühl auf einmal in einen Menschen hineinpasst. Sechs weitere Arme wären cool jetzt, denn jeder weitere Quadratzentimeter meines Körpers, mit dem ich diese Frau berühren könnte, wäre ein zusätzliches Geschenk.

Sie ist meine Geliebte in erster Linie, mein Mädchen, meine angebetete Seejungfrau. Naja, nicht ganz.. Etwas anderes würde ihr sicher auch nicht schmecken. Ich beschließe, den Blumenstrauß aus der Kajüte zu entfernen. Alles würde ich für sie tun, ab heute für sie beide.

Tini unvermittelt: “du, Schatz, weist du, daß ich deine Unterarme unheimlich sexy finde?“

„Warum das denn?“

„Weil sie so eine ästhetische Form haben. Das passt zu dir. Halt´ mich ganz fest mit ihnen, ja, genau so.“

Schmerzende Muskeln mit der Zeit. Bizepskrämpfe bahnen sich an. Trotzdem: so schön kann Freiwache sein, denke ich. Wind, Rauschen, Sonnentage. Segelstimmung, unzerstörbares Beieinander, befreiter Blick in die Zukunft, keine Verlorenheit mehr, keine schmerzende Ungewissheit, wohin.

Um das noch eben zu bedenken: Die Anzahl der Crewmitglieder auf einmal ungerade, gutes oder schlechtes Omen? Blöde Frage. Oder vielmehr gar keine Frage. Und die anderen? Ich überlasse es Tina, ob, wann, wie, warum, wo. Es ist allein ihre oder unsere Sache. Und was für eine. Bis zum Mond und wieder zurück? Nein, viel weiter reicht mein Gefühl für diese wunderbarste aller Frauen. Wahrschau! Nicht über Bord fallen vor Begeisterung, Papa. Wie das klingt: Papa. Wie es klingen mag aus dem Munde eines Kindes, ihres Kindes, unseres Kindes? Wie soll ich die Zeit bis dahin nur überstehen. Kannst du dich nicht etwas beeilen? Ob mehr Essen da was hilft? Oder anderes? Meine Unterstützung ist dir gewiß.

Ich sage ihr meine Gefühle zum ersten mal so eindeutig, so offen und unumwunden, sozusagen frei ins Gesicht. Tränen. Schluchzen. Aneinander pressen. Sprachlosigkeit unter der lachenden Sonne des Mittelmeers. Das Schiff wiegt uns wie zwei, ich meine drei Babies in einen Erschöpfungsschlaf. So kräftezehrend kann Glück sein. Richtig aufdringliches Glück.

○○○

„He, ihr Klabautertiere, ihr seid dran mit der Wache, auf auf, Reise Reise.“ Kann das sein? Über eine Stunde auf Deck im Tiefschlaf. Sonnenbrand. Salbenverbände auf Rücken beziehungsweise Gesicht. Geht alles vorüber. Matrosenschicksal. Elternschicksal.

Wie einen Fühler streckt das Cap Corse seinen zwanzig Meilen langen Körper nach Norden in das Ligurische Meer hinein. Diese Region wirkt in ihrer Erscheinung anmutiger als das sonst so wilde Korsika. Was haben wir da verschlafen.

Ile de la Giraglia. Klingt eher doch italienisch. Bewegte Geschichte. Rechtzeitiges Erwachen doch noch. Eine Schule Delfine umringt uns, überall gleiten, überraschend jedes mal, dunkle Leiber hoch und verschwinden in Bogensprüngen. Krönung der Vorstellung: unfassbar, wenig später hebt sich an Backbord, nur hundert Fuß entfernt, das Wasser, und ein gewaltiger Walrücken schiebt sich hoch, größer als unser Schiff, majestätisch, grandios. Auf dieses Omen haben wir gerade gewartet. Der dicke Kerl wird der unbekannter Pate für unser Kind sein. Wir sehen uns an und denken das Gleiche. Sentimental? Kitsch? C'est juste notre affaire.

Keine Kamera schußbereit. Konzentration auf das Erleben, nicht auf die Bildtechnik. Außerdem sind wir zwei Zeugen. Glaubhaft. Trotz Glückstaumel und Schwächung durch Sonnenbrand-Schmerzen. Wale sind sehr selten in diesen Gewässern. Das bestätigt uns in der Annahme einer Fügung, die nur uns gilt. Passt alles so gut zusammen. War etwa dieser ganze Törn schon von vorn herein manipuliert? Eine Walkampagne?

Südlich von Giraglia durch, eine gute Meile Distanz zwischen den beiden Inseln. Mit dem Glas Teile der Ruinen der Kapelle San Pasquale. Wenig überzeugend.

Noch so um die zwanzig Meilen runter also bis St. Florent., Luftlinie gerechnet. Bei dem heute vorherrschenden Scirocco heißt das, nach dem Capo Bianco auf Südkurs gegenan kreuzen. Oder unter Motor. Der Gaszug. Risiko. Wie also? Neugier auf den angekündigten glutroten „Cap Corse“, dessen Trauben auf den Rebhügeln von Rogliano reifen. „Ein Spitzen - Aperitiv“, wie unser Gourmetpriester mehrfach versichert. „Das beste Lokal der Welt findet Ihr in Saint Florent. Kein Risiko.“ Kühne Behauptung von Chris. Aber er muss es wohl wissen, denn er war schon mal dort. Und er ist kein Großmaul. Schon bei der gemeinsamen Planung zuhause schwärmte er immer davon. Jetzt kann er den Beweis antreten. Wenn wir dort sind. Wir riskieren. Lustig ist das Matrosenleben. Ohne Probleme Festmachen am Steg. Logbucheinträge korrekt. Abmarsch in den Ort, vierfacher, pardon, fünffacher Hunger im Gepäck.

Lilo kramt mit Mann an Deck Leinen und Segel zusammen. Restlicher Wachdienst. Tina und ich in Hochstimmung. Wir ziehen los. „Nur eine halbe Stunde, sind gleich wieder da, macht´s gut.“ Besichtigung des Hafens und der umliegenden Häuser. Anschließend einige Seitenstraßen. Immer am interessantesten. Eine geöffnete Bank. Gut zum Devisen abheben. Am Südrand der Ortschaft aufwärts die Straße entlang, zweihundert Meter. Nach links runter Aussicht auf eine kleine Bucht hinter der Westseite des Hafens, den Ortsrand begrenzend. Vom Hafen aus nicht zu sehen. Verdeckt durch eine Häuserzeile. Geradeaus, am Ende der Straße, querstehend, ein ummauertes Polizeigebäude. Fenster alle geschlossen. kein Posten. Abendessen vielleicht. Streik eher nicht. Wieder mitten zwischen Geschäftsstraßen. Hübsche Blusen im Schaufenster einer Boutique. Tina schlägt nicht zu. Vernunft. Genügsamkeit. Desinteresse. Undefinierbare Frauenseele.

○○○

Mannschaftsansturm auf das Spitzenrestaurant von Christian. Nicht direkt am Hafen. Keinesfalls. Wir überqueren die Ortschaftsgrenze. Häuser werden spärlicher, jedoch zunehmende Üppigkeit von blühenden Rosen und Geranien. Iris, so blau wie die Augen meiner Süßen. Ich entdecke einen schwarzen Käfer, unglücklich, hilflos, auf dem Rücken liegend. Fußgezappel. Gefährlich nah an einer Ameisenstraße. Du weisst, was das bedeutet, oder?

Glück gehabt, bisher. Man hat ihn noch nicht entdeckt. Oder, die schlechtere Variante, man wartet, bis er sich müde gestrampelt hat. Leichte, fette Beute dann gerade rechtzeitig zur Abendzeit. Letztlich unbefugt, aber von Mitleid angetrieben, greife ich in das Naturgeschehen ein und helfe dem armen Tier wieder auf die Beine. Die Crew mittlerweile weit voraus. Links und rechts des Weges hüfthohes Efeu und Geißblatt, mauerüberwuchernd, duftend, insektenumsummt. Kleine drachenähnliche Flitzer, in Ritzen verschwindend. Eine Smaragdeichechse in schillerndem Grün, ohne Schwanz allerdings. Dennoch bewundernswert. Sonnige Hitze flimmert über dem Weg. Vorbei an einer frisch - grünen Wiese. Ich habe wieder Anschluß gefunden. Schweißperlen. Durst. Schatten unter mächtigen Bäumen am Rand der Wiese, schon beachtlich belaubt für die Jahreszeit. Erholsame Kühle. Braune Ziegen mit langen Bärten zupfen ihr frisches Futter. Weiter vorne, am Ende der Grünfläche, mehrere verrostete Waschbecken als stumme Zeugen einer großen Vergangenheit. Reste eines Campingplatzes. Seitliche Mauern enden, der Weg führt nun auf einen kleineren Querpfad. Rechts davon träumt hinter einer kleinen, steinernen Einfriedung eine bescheidene Kapelle vom Ruhm prächtiger Kathedralen. Unpassend bunte Ziegel auf dem spitzgiebeligen Dach. Der Eingang ist mit Brettern grob vernagelt. Der ganze Bau erinnert mich an griechische Klöster auf dem Peloponnes. In Miniaturausführung, versteht sich. Keine Chance, da rein zu kommen, lieber kunstfreudiger Wanderer. Wir wenden uns nach links, dem grünen Pfad folgend. Ich hole die anderen wieder ein, die sich während meiner Kulturdusche weiter bewegt haben. Chris mit Tini im Gespräch. Doch nicht…? Ne, glaube ich weniger, es wäre zu profan.

Dichte, hohe Hecken umsäumen uns, ab und zu ein Durchschimmern dahinter liegender Wiesen. Wunderschöner Spaziergang, kann man nicht anders sagen, durch die korsische Natur. Süßer Duft kommt mit dem leichten Abendwind von irgend woher. Tiefe Atemzüge in der angenehmen Luft.

Das Spitzen - Restaurant, ich weiß ja, schon zum dritten mal, die Auberge also wird von Roberto geführt. Wie passend, danke, Chris. Sauberes Haus, ganz nett (Schimpfwort entsprechend Tinas Interpretation), wenig geschmackvoll eingerichtet, nach meiner bescheidenen, aber konkreten Vorstellung. Höflicher Empfang an der Bar, der vorsaisonlichen Situation entsprechend. Gratis-Getränk zur Begrüßung. Welche Ehre, was? Man ist freundlich zugewandt, aber keinesfalls servil. Gott sei Dank, das hätte ich nicht ertragen. Entspräche nicht meiner Vorstellung vom Umgang miteinander. Auch nicht der meiner besseren Hälfte. Oder soll ich sagen meiner besseren zwei Drittel? Wie auch immer, wir sind angemeldet, der Kamin brennt eine heimelige Atmosphäre in den eher kargen Raum. Das entgegenkommende Verhalten von Roberto allerdings als Freundschaftsangebot zu interpretieren, wäre völlig daneben. Davon halten mich auch, abgesehen von anderen Überlegungen, meine insgeheimen Beobachtungen ab. Ein überlegenes Augenzwinkern zu seinen Angestellten hier, ein listiger Blick da, überhaupt der fuchsartige Ausdruck gegenüber seinen arglosen Gästen, wenn er sich unbeobachtet glaubt, das ist schon eine deutliche Sprache. Da ich nicht an der Bar sitze und mittrinke, gratis, kann mir das alles nicht verborgen bleiben. Aber wer möchte ihm das übelnehmen. Besonders witzig erscheint mir unter diesem Blickwinkel seine geduldige Bereitschaft, sich mit uns allen fotografieren zu lassen. In solchen Momenten macht er das Gesicht eines Kummer gewohnten Bernhardiners. Bilder also vor seinem Lokal, ein unbedingtes Bedürfnis von Chris. Nur er alleine weiß, warum. Eine hüfthohe Dogge trabt lammfromm um uns herum und stößt mich liebevoll in die Magengrube. Dazu muß er sich etwas herab bücken. Sehr lustig. Auch sein Name. „Fifi,“ ruft ihn Roberto, Betonung auf der zweiten Silbe. Vornehm. Und mit langem „i“. Fifiii. Klingt genau so wie „cherie“, oder „merci.“

Serviert wird ein schmächtiger, aber schmackhafter, zarter Hase, mit Kräutern des Landes gewürzt. Nur Lilo kann ihre Gier nach einer Fischmahlzeit nicht bezwingen und bekommt drei dünne Gräten auf den Teller, an die sich blasse Filets klammern, eben so schwindsüchtig wie der Hase. Sie hat ihre Mahlzeit beendet, ehe wir andern unsere Suppenlöffel aus der Hand legen. Dafür hat sie einen schlank gewachsenen Körper. Den hat Tini aber auch, stimmt’s? Obwohl sie ein Carnivore ist, wie ich. Ab und zu. Carnivore? So was ähnliches wie Kannibale. Nur mit Tieren.

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, das Spitzenlokal. Unsere lange Tafel verläuft parallel zu der von drei Fenstern durchbrochenen Rückwand eines Nebenraumes. Tina und ich sitzen mit dem Rücken zur Wand, physisch, nicht übertragen gemeint. Niemand bedroht uns, nicht wahr, Fifi? Rechts können wir den Kamin brennen sehen. Daneben hat man einen kleinen Tisch platziert. Ein Herr Ochsenfrosch diniert mit seinem verehrten Fräulein Qualle (Entschuldigung, aber der Vergleich trifft es hundertprozentig). Vermutlich das Käfermenü, garniert mit grünen Algen an Senfsoße. Beträchtlicher Altersunterschied, wie so oft bei dieser Konstellation. Aber was geht das mich an. Muß recht heiß sein da am Feuer, Flamme neben Flamme.

Recht voraus, in der Seemannssprache, geht es in den Durchgang zum großen Speisesaal, Essraum sagen wir mal lieber. Dort findet man, nach links gerichtet und dem Ausgang zugewandt, die bekannte Gratis-Bar, gemütlichrustikal mit Strohdachkonstruktion unter der Saaldecke. Rechts gegenüber gehen die Türen für Madame und Monsieur nach außerhalb. Wer weiß, wohin. Nebenräume? Der Wald? Man denke an Versailles in seiner Blütezeit. Auch das ist Frankreich. Napoleon war mal da. Vor oder nach Elba? Da müsste ich erst nachlesen.

Zwischen den beiden wenig diskreten Türen der Stammplatz einer grauenvollen Kommode. Der Anblick hilfreich vor dem Toilettenbesuch. Magen - Darm - Aktivierung garantiert. Gesünder als bestimmte Medikamente. Eine Gesundheitskiste sozusagen. Altes Erbstück von einem Apotheker, würde ich sagen. Auf alle Fälle vorletztes Jahrhundert. Stilmäßig sicher nicht aus Versailles. Aber auch aus Holz. Übrigens, ernst zu nehmende Konkurrenz in Gestalt einer Obst - Gemüse - oder sonstigen Schale auf dem Möbelstück. Passen gut zueinander. Gekonnt abgestimmt. Zur Abmilderung der erregenden Eindrücke eine Foto-Reproduktion aus der Kommodenzeit. Auch zwischen den bewußten Türen. An der Wand. Leider keine Kerzenleuchter. Mangel im Arrangement. Oder im Portemonnaie. Wäre ein stimmungsvoller Altar geworden, um einiges zu opfern. Hinter den Türen selbstverständlich. Il va sans dire, unter kultivierten Menschen.

Das Bild übrigens: zeitgenössische Darstellung einer kopfsteingepflasterten Straße unter großen, in den Kronen sich mischenden Bäumen, viele Menschen unterwegs, zeitgemäß gekleidet. Rechts neben der diagonal durch das Bild laufenden Straße der Verlauf von Häuserfronten, wie man sie heute noch genau so sehen kann, auf Korsika. Das ganze vierzig mal sechzig Zentimeter, schwarz gerahmt. Schon beeindruckend. Ich gebe zu, ich bin eingefangen von der Stimmung auf dem Bild. Es ist mir schon vor dem Essen auf meinem Inspektionsgang aufgefallen, Tina zu meiner rechten, viel „ah“ und „oh“. Wer weiß, warum. Die restliche Crew immer noch zum Aperitif an der Theke. Jawohl, gratis.

In unserem Speiseraum gibt es links noch einen weiteren, langen Tisch, an dem sich zu späterer Stunde zehn hörbar gut gelaunte Gäste niederlassen. Bitte jetzt kein gemeinschaftliches Volkslied. Ein untersetzter, kahlköpfiger Bullentyp, offensichtlich Leithammelrolle wie ich, schwenkt mit seiner Videokamera herum und filmt alles, was beweglich oder auch starr in die Linse passt. Klar, auch Tina muss da hinein, gedankenverloren am Kamin lehnend. Sowas beherrscht sie. Modeltalent. Kann ich irgendwie nachempfinden, so von Mann zu Mann. Sie sieht wirklich unglaublich sexy aus mit ihrer Strubbelfrisur. Kindhafter, unschuldiger Lolitatyp. Wird ihm weiterhelfen, der Streifen, bestimmt. Fleischgesichtiges, entschuldigendes Lächeln in meine Richtung. Sowas von liebenswürdiger Freundlichkeit. Ich bin beeindruckt. Vielleicht nicht ganz so wie er.

Nach Hase, Fisch, Salat und Wein fällt der Rückweg leicht, zunächst. Vorsichtshalber, besser: klug vorausschauend, nehmen wir die Landstraße, die, von Santo Pietro di Tenda kommend, direkt an uns vorbei zieht, runter nach Saint Florent. Der Weg durch die Blütenwildnis scheint in der Dunkelheit nicht empfehlenswert. Blüten sowieso geschlossen um diese Zeit, wie das Restaurant.

Balzende Auerhähne, harte Knackgeräusche, die der Meinigen nicht imponieren würden. Antwort von weit her. Klingt wie das Echolot in „Die Caine war ihr Schicksal.“ Kennst du sicher. Coole Seeschlachten. Ergänzung der Geräuschkulisse durch immer wieder beliebte Gala - Quak - Konzerte aus den Froschkolonien in den Feuchten Wiesen. Einer der stimmungsvollsten Heimwege.

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Robert und Tina

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