Читать книгу Die Rückkehr der Dämonen, Teil 2 (Louisville/USA, 1926) - Andreas Parsberg - Страница 7

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Am nächsten Nachmittag bekam sie Besuch von Anna, die sich mit Chloé dringend unterhalten wollte. Sie hatte etwas auf dem Herzen und benötigte den Rat einer Freundin. Da sie allein im Haus waren, lümmelten sie sich auf die bequeme Ledercouch im Wohnzimmer. Chloé servierte kalten Eistee und Schokolade. Henri war noch im Fußballtraining und würde später vorbeikommen.

„Wie heißt er denn?“, fragte Chloé und musste innerlich lächeln. Sie kannte Anna zu gut und wusste, was ihr auf dem Herzen lag.

„Woher weißt du?“, stammelte Anna verwundert.

„Nun sag schon, wie heißt er denn?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Anna.

„Warum weißt du seinen Namen nicht? Woher kennst du ihn?“

„Das ist ja das Problem, ich kenne ihn gar nicht.“

„Das verstehe ich jetzt nicht“, meinte Chloé.

„Ich war gestern mit Lisa im Backstage und da stand er an der Bar.“

Vor Kurzem hatte in Germering eine neue Disko eröffnet. Sie war bereits nach wenigen Tagen zum Treffpunkt der jungen Menschen geworden. Das „Backstage“ wurde zu einem Magneten im Großraum München.

„Hast du mit ihm gesprochen?“

„Nein, eben nicht. Ich habe ihn ständig angeblickt und ermuntert, mich anzusprechen. Aber er tat es nicht! Entweder ist er schüchtern oder er hat eine feste Beziehung“, antwortete Anna.

„Vielleicht bist du auch nicht sein Typ“, erklärte Chloé. „Schon einmal über die Möglichkeit nachgedacht?“

„Natürlich nicht! So ein Fall existiert nicht im Anna-Universum!“

Die beiden Mädchen mussten herzlich lachen. Anna besaß ein natürliches Selbstbewusstsein, das durch nichts und niemanden zu erschüttern war.

„Wie kann ich dir da helfen?“

„Bitte komm mit mir ins Backstage. Vielleicht finden wir gemeinsam einen Weg, damit er mich anspricht. Ich bin genau sein Typ, das weiß ich ganz sicher!“

Plötzlich wurden sie unterbrochen!

Ein merkwürdiges Geräusch drang ins Wohnzimmer, das von Sekunde zu Sekunde lauter zu werden schien.

Plitsch-platsch, plitsch-platsch.

Es hörte sich an wie die näherkommenden Schritte nasser Füße. Chloé erzitterte, die Augen weit aufgerissen, ihr Blick glasig vor Angst.

Plitsch-platsch, plitsch-platsch.

Chloé hörte, wie die Schritte über die Terrasse vor dem Wohnzimmer stapften. Dann sah sie, wie sich der Türgriff bewegte.

„Wer ist das?“, fragte Anna, die alle Mühe hatte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. „Könnte es Henri sein?“

„Nein, er würde an der Haustür klingeln“, antwortete Chloé.

„Hallo?“, rief Anna in Richtung Terrassentür.

Aber sie bekam keine Antwort. Stattdessen rüttelte jemand an der Tür und die Mädchen hörten ein weiteres Geräusch. Wasser tropfte auf den Naturstein-Belag der Terrasse.

„Wer ist da?“, schrie Anna hysterisch. „Antworten Sie! Was wollen Sie?“

Die Antwort ließ Chloé vor Angst erstarren. Sie wurde von einer männlichen Stimme gegeben, von Simon Peel.

Amanda!

In diesem Augenblick horchte Chloé auf. Da war wieder dieses Tröpfeln! Diesmal kam es allerdings nicht von draußen. Simon Peel war im Haus!

Das Geräusch schien aus der Küche zu kommen. Es wurde lauter, immer lauter. Chloé begann zu zittern. Eine feuchtkalte Brise wehte in das Wohnzimmer.

Ich bin hier, Amanda.

Chloé blickte auf. Simon Peel kam den Gang entlang. Von seiner Seemannsjacke tropfte Wasser und auf seinem Gesicht lag ein triumphierendes Lächeln. Er ging mit ausgestreckten Armen auf Anna zu, um sie zu umarmen.

„Nein!“, schrie Chloé. „Anna, pass auf, er ist hinter dir!“

Anna fuhr herum und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Dann kam Simon heran, legte seine nassen Arme um Annas Oberkörper, sodass sie reglos und stumm vor Angst stehenblieb. Er hob ihr Kinn leicht an. Dann presste er seine Lippen zum tödlichen Kuss auf ihren Mund.

Chloé war wie gelähmt und musste tatenlos zusehen, wie Annas Haut langsam kalkweiß und schließlich fast durchsichtig aussah. Über ihre leblosen Arme liefen Wassertropfen und in ihrem blonden Haar tauchten plötzlich Fäden von Seegras auf.

Chloé wich entsetzt zurück, schrie und stolperte über einen Stuhl. Sie kippte nach hinten und krachte mit dem Hinterkopf auf den Boden. Vor ihrem geistigen Auge drehte sich alles, sie sah Sterne, die nicht vorhanden sein konnten.

Wenige Augenblicke später öffnete sie ihre Augen. Dann setzte sie sich auf, fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und rieb sich die Stirn. Das waren ja seltsame Bilder gewesen, dachte sie. Ich habe eben meine Freundin Anna mit dem Seemann hier im Wohnzimmer gesehen. Chloé, Chloé, sprach sie zu sich selbst, du musst mit diesen Tagträumen aufhören.

Sie blickte sich im Wohnzimmer um. Es war niemand anwesend. Nochmals schüttelte sie grinsend den Kopf und stand auf.

Amanda!

Chloé erschrak und riss den Kopf herum. Dort stand er, aufrecht und stolz neben dem Wandschrank. Er lächelte sie liebevoll an, während er die Hände in die Taschen seiner Seemannsjacke schob, und leise auf sie zukam.

„Sie ... ähh, was machen Sie hier?“, stammelte Chloé und zitterte am gesamten Körper.

„Ganz ruhig, mein Liebling“, flüsterte Simon Peel, hob mit den Fingerspitzen ihr Kinn an. „Jetzt bin ich bei dir, und dir kann nichts mehr passieren.“

Chloé ließ sich von ihm aus dem Wohnzimmer, dann durch den Korridor führen. Sie durchquerte wie eine Schlafwandlerin die Küche, und spürte ein unglaubliches Gefühl des Friedens und Wohlbefindens.

Dann entdeckte sie, dass unter dem Küchentisch etwas herausragte: ein paar schlanke Frauenbeine. Als sie näher trat, sah sie eine Frau mit langen blonden Haaren, die ihr bekannt vorkam. Sie lag in einer Wasserlache, die voller Seegras war. Chloé sah auf das Gesicht der Frau hinunter, und plötzlich regte sich in ihr der Funke der Erinnerung. Sie versuchte angestrengt, sich den Namen der Frau ins Gedächtnis zu rufen. Anna? Konnte das ihre Freundin sein?

Amanda!

Chloé blickte auf und Simon Peel öffnete die Terrassentür, die direkt in den Garten führte. Der Nebel draußen glich einer dicken grauen Wand, sodass Chloé nicht einmal den Swimmingpool sehen konnte. Nur das leise Rauschen des Windes war hören.

Die blonde Frau unter dem Küchentisch hatte sie bereits vergessen. Sie konnte nur noch an ein Meer denken, mit seinem friedvollen, kühlen Wasser.

Nach Hause, dachte sie, ich muss nach Hause gehen.

Komm, Amanda.

Chloé trat durch die Terrassentür ins Freie. Sie roch den Duft des Meeres, und hörte das Rauschen von Wellen. Kurz stutze sie, denn in der Nähe von Germering befand sich kein Gewässer. Aber ihre Gedanken wurden sofort unterbrochen, als Simon Peel sie hinter sich herzog.


„Chloé!“

Henri öffnete die angelehnte Haustür des Hauses und stürmte ins Wohnzimmer der Familie Bartenberg. Dort stieg ihm der modrige Geruch von fauligem Seetang in die Nase, und neben dem Wandschrank entdeckte er auf dem Fußboden eine Wasserlache.

„Chloé, wo steckst du?“

Er lief in die geräumige Küche. Draußen war es schon fast dunkel, und so konnte er in der Küche nur Umrisse der Möbel erkennen. Von dort ertastete er sich den Weg zur Terrasse. Plötzlich stieß er mit dem Fuß gegen etwas Weiches. Er stolperte, stürzte auf den Boden und fühlte mit einer Hand kalte, feuchte Haut.

Entsetzt sprang er auf und erblickte die leblose Anna! Die Freundin von Chloé lag flach auf dem Boden, der Kopf in einer Wasserlache. Er zog sie unter dem Küchentisch hervor, und lehnte sie aufrecht an die Wand. Plötzlich begann sie zu husten, und spuckte große Mengen von Wasser aus.

„Anna!“, rief Henri erfreut darüber, dass sie am Leben war. „Wo ist Chloé?“

„Ich weiß nicht“, stotterte Anna noch immer unter einem Schock stehend. „Da kam ein Mann ins Wohnzimmer, dann kann ich mich an nichts mehr erinnern.“

„Ich muss Chloé suchen“, erklärte Henri hektisch. „Kann ich dich allein lassen?“

„Nur ungern, aber geh sie suchen“, antwortete Anna.

Schnell drehte er sich um und lief in den Garten. Dort stand Chloé bereits bis zu den Knien im Swimmingpool der Familie Bartenberg, der völlig verändert aussah. Das Wasser im Pool war von einem grünen, algenartigen Schimmer überzogen, wirkte schmutzig und aufgewühlt. Die Wasseroberfläche bewegte sich leicht, wie der Seegang des Meeres. Alles wirkte völlig irreal und verstörend. Der Swimmingpool sah nicht mehr wie ein Erholungsbecken aus, sondern wie das Meer an einer stürmischen Küste.

Neben Chloé stand ein Wesen, das mit seinen muskulösen Armen und seinem breiten Rücken einem Bodybuilder ähnelte. Ansonsten hatte es jedoch nichts Menschliches an sich. Seine bläulich-grüne Haut war mit Schuppen und Algen überzogen.

„Chloé, komm weg von ihm!“

In diesem Augenblick hörte Henri ein heftiges Fauchen und das Wesen fuhr herum. Bei seinem Anblick wurde Henri blass. Er betrachtete eine Fratze mit leeren, schwarzen Augenhöhlen und langen spitzen Raubtierzähnen.

Mutig stürzte sich Henri nach vorne, sprang in den Pool und versuchte, mit einem mächtigen Stoß das grässliche Wesen wegzustoßen. Als sich das Monster nicht rührte, schlang Henri seine Arme um den schmierigen Hals des Wesens, aber es rührte sich nicht. Schließlich stieß es einen schrillen Schrei aus, packte Henri und schleuderte ihn hoch in die Luft.

Im nächsten Augenblick spürte Henri, wie er kopfüber in den Pool stürzte. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Rücken, als er auf dem Boden aufschlug. Als er wieder auftauchte, Wasser ausspuckte und nach Luft hechelte, spürte er, wie sich eiskalte Hände auf seine Schultern legten.

Das Monster hob ihn aus dem Wasser, schüttelte ihn unter Triumphgeheul wie eine nasse Ratte und schleuderte ihn dann gegen den Rand des Pools. Henri schrie vor Schmerz auf und glaubte, sein Arm wäre gebrochen.

Als er verschwommen sah, wie das grässliche Wesen ihm folgte, blickte er sich hilfesuchend zu Chloé um, die jedoch noch immer völlig im Bann des Monsters stand und mittlerweile schon bis zu den Hüften im Wasser war.

„Chloé, hilf mir!“, schrie er.

Aber sie sah einfach durch ihn hindurch.

Das unheimliche Wesen kam immer näher.

„Chloé!“

Henri versuchte, sich zu ihr zu schleppen, sah aber ein, dass es keinen Sinn hatte. Chloé war wie hypnotisiert. Wenn es mir nicht gelingt, sie innerhalb der nächsten Sekunden ins Leben zurückzuholen, ist alles verloren, dachte er. Ihm blieb nur eine Möglichkeit. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und schrie, so laut er konnte: „Ich liebe dich, Chloé!“

Sofort drehte sich Chloé zu ihm herum. Sie blinzelte und sah Henri verwirrt an.

„Chloé, geh nicht mit ihm. Ich liebe dich!“ Henri schleppte sich näher zu ihr.

„Henri?“, fragte Chloé zaghaft.

In diesem Augenblick stellte sich das Monster zwischen sie. Seine schwarzen Augenschlitze funkelten, als es seinen glitschigen Arm nach Henri ausstreckte.


„Ich liebe dich.“

Henris leises Liebesgeständnis brach den Bann des grässlichen Wesens. Chloé erzitterte und erwachte abrupt aus ihrem hypnotischen Zustand. Als sie merkte, dass sie im Wasser stand, schrie sie erschrocken auf und rannte aus dem Pool.

Dann entdeckte sie Henri, der im Pool stehend wild mit den Armen wedelte. Sekunden später nahm ihr ein großes, mit Algen überzogenes Wesen die Sicht auf Henri.

„Hol die Wiedekopf-Hacke aus dem Gerätehaus!“, schrie Henri und deutete auf das hölzerne Gartenhaus, das neben dem Pool stand. Er versuchte, durch schwimmende und springende Bewegungen aus der Reichweite des Monsters zu kommen. „Chloé, hol die Hacke und töte die Bestie!“

Das grässliche Wesen wandte Chloé das Gesicht zu, und nun sah sie zum ersten Mal seine wirkliche Gestalt, nicht als Simon Peel. Dunkle, bösartige Raubtieraugen funkelten sie an und der fischartige Mund mit den spitzen Zähnen bebte ekelhaft.

„Amanda...“

Chloé schrie vor Entsetzen auf. Mit kurzen Sätzen erreichte sie das Gartenhaus und betrachtete die Gartengeräte ihrer Eltern. Sie erblickte Rechen, Kellen, Bodenschneider, Handspaten, Grabegabeln und am Rand stand die Wiedekopf-Hacke. Dieses Werkzeug benutzten ihre Eltern zum Graben in durchwurzeltem Boden. Die eine Seite der Hacke bestand aus einer kleinen Axt, mit der die Wurzeln gekappt wurden, die andere Seite der Hacke wurde zum Aufbrechen der Erde verwendet.

Sie ergriff das Gartenwerkzeug, drehte sich um und eilte zurück zum Pool. Das grässliche Wesen hatte zwischenzeitlich von Henri abgelassen und schritt durch das Wasser Chloé entgegen. Es streckte bereits seine schwimmhäutige, schuppige Hand nach ihr aus.

„Chloé! Töte es!“, schrie Henri laut und eindringlich aus dem Pool.

Sie holte mit der Hacke in der Hand aus und wollte bereits zuschlagen. In diesem Augenblick verwandelte sich die schuppige Gestalt des Monsters langsam in den gutaussehenden, lächelnden Simon Peel. Die blaugrüne Haut verschwand und an ihre Stelle traten eine grobe Leinenhose und eine Seemannsjacke.

„Amanda“, sagte Simon Peel mit sanfter, liebevoller Stimme. „Denk an unser Schiff, die Lady Lovibond, sie wartet auf dem Meeresboden auf uns. Sie ist unser gemeinsames Zuhause. Komm mit mir, Amanda, komm.“

In diesem Augenblick fiel es Chloé wie Schuppen von den Augen. Sie erkannte, dass sie nicht die Amanda war, die Simon Peel meinte. Eine karmische Verbindung, ein unsichtbares Band, hatte ihn hierhergeführt. Er meinte eine andere Frau, mit der Chloé in irgendeinem Zusammenhang stand, aber selbst nicht war.

Nun war ihr auch klar, was sie zu tun hatte.

„Komm mit mir, Amanda“, lockte Simon Peel lächelnd.

„Vielen Dank, Simon“, erwiderte Chloé. „Aber ich werde dein freundliches Angebot ablehnen.“

Sie holte aus und schlug mit der Hacke zu. Mit der flachen Schneide der Axt traf sie seinen Schädel, und spaltete den Kopf bis zum Halsansatz. Die beiden Kopfhälften kippten zur Seite und landeten auf seinen Schultern. Sein Körper erzitterte und fiel rücklings ins Wasser. Wenige Augenblicke später hatte sich das Wesen komplett aufgelöst, so als wäre ein fester Körper in Salzlauge getaucht worden.

Henri stieg mühsam auf dem Pool, während seine Hand den schmerzenden Arm hielt. Chloé ging zu ihm, legte die Arme um ihn und barg ihren Kopf an seiner Brust. Unter den Nachwirkungen des Schocks zitterte sie am ganzen Körper, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. Das Wasser im Pool hatte sich wieder in seinen ursprünglichen Zustand verändert. Nichts erinnerte an den Anblick, den Henri wenige Augenblicke vorher noch wahrnahm. Das Wasser roch sogar wieder leicht nach Chlor.

„Weine ruhig, mein Schatz. Jetzt ist alles überstanden“, flüsterte Henri beruhigend.

„Er hätte mich fast gehabt, Henri. Ich war irgendwie verhext und glaubte plötzlich, Amanda zu sein. Aber dann habe ich gesehen, wie er dich umbringen wollte, und das ... das konnte ich einfach nicht zulassen. Ich liebe dich doch, Henri.“

Er drückte sie fest an sich.

„Vielleicht warst du in einem früheren Leben einmal Amanda, aber sie ist tot, Chloé. Sie liegt auf dem Meeresboden in einem Schiffswrack. Ihre guten und schlechten Erfahrungen sind mit ihr beerdigt worden. Ein neues Leben, eine neue Reinkarnation bedeutet neue Erfahrungen.“

„Und eine neue Liebe, nicht Simon Peel, sondern Henri Vogt“, ergänzte Chloé, während sie ihn mit tränennassen Augen ansah. „Aus irgendeinem Grund besteht eine Verbindung zwischen ihrer und meiner Seele.“

Henri strich ihr mit seiner unverletzten Hand über den Kopf. Er durfte ihr nicht die Wahrheit sagen. Im Pool hatte er Simon Peel, den Kapitän der Lady Lovibond, erkannt. Aber es war ihm verboten, über die Ereignisse der Spielrunden zu sprechen. Wie gerne hätte er ihr von seiner Reise nach Indien erzählt, auch davon, dass Simon Peel ein netter Kerl war, der ihm im Dschungel das Leben gerettet hatte.

„Ach, wer weiß“, sagte er stattdessen. „Hoffentlich ist dieser Spuk nun endgültig vorbei. Wichtig ist, dass dieses grässliche Wesen verschwunden ist.“

„Ist es das wirklich?“

Chloé sah zum Pool ihrer Eltern. Der Körper von Simon Peel hatte sich zwischenzeitlich komplett aufgelöst.

„Nun, wir werden es bald wissen, Henri“, flüsterte sie und ließ ihren Blick nachdenklich in die Ferne schweifen.

„Anna geht es übrigens gut“, erklärte er, und versuchte so, ihre Laune wieder aufzubessern. „Ich habe sie in einer Wasserlache gefunden, aber sie lebte.“

In Chloés Augen traten Tränen. „Es wäre furchtbar gewesen, wenn Anna etwas geschehen wäre. Ich fühle instinktiv, dass wir beide etwas mit den Dingen zu tun haben, aber Anna ist völlig unschuldig.“

Henri war verwundert. Chloé schien wirklich übersinnliche Fähigkeiten zu besitzen.

„Ich werde Anna nach Hause fahren“, beschloss Henri. „Geh du zwischenzeitlich unter die Dusche. Ich bin in einer halben Stunde zurück.“

„Beeil dich bitte“, erwiderte Chloé, umarmte Henri und küsste ihn noch kurz zum Abschied.

Henri nahm die Hand von Anna, die sich widerstandslos zum Auto ziehen ließ. Nur wenige Minuten später erreichten sie das Mehrfamilienhaus, in dem Anna mit ihren Eltern wohnte. Er brachte sie in den zweiten Stock und verabschiedete sich an der Wohnungstür.

Als er das Treppenhaus herunterschritt, fühlten sich seine Bewegungen mechanisch an. Etwas stimmte nicht, obwohl ihm nicht bewusst war, woran es liegen könnte.

Henri stieg in seinen Wagen, um zurück zu Chloé zu fahren. Nachdem er die Autotür hinter sich geschlossen hatte, war im nächsten Augenblick alles vergessen!

Henri konnte sich nicht mehr an sein Ziel erinnern!


Etwas Starkes und Mächtiges beherrschte sein Denken und Handeln. Es schaltete seinen Willen nicht völlig aus, sondern beherrschte ihn mit suggestiver Kraft. Ab jetzt war er der Sklave einer fremden Macht, die seinen Geist steuerte. Er wurde unmerklich in eine bestimmte Richtung gelenkt. Daher kannte er auch das Ziel seiner Fahrt nicht.

Unmerklich drückte er seinen Fuß auf das Gaspedal. Die Geschwindigkeit erhöhte sich, erreichte die zugelassene Höchstgrenze, steigerte sich noch weiter.

Henri lächelte. Die Fahrt machte ihm Spaß. Er öffnete ein Fenster, da ihm warm wurde. Kühle Luft kam herein und zerzauste seine Haare. Er legte seinen Kopf zurück und lachte. Sein Fuß drückte noch fester das Gaspedal herunter. Das alte Auto machte einen Satz nach vorne.

Mittlerweile verließ er Germering. Es interessierte Henri nicht. Das Auto fuhr auf der Landstraße bereits über 100 km/h. Mehrere Fußgänger zeigten drohend die Fäuste. Henri kicherte nur. Die fremde Macht hatte ihn vollends in den Klauen. Es gab kein Entrinnen mehr. Bäume säumten die Straße, er raste in Richtung Gauting durch den Wald.

Voller Freude und Glückseligkeit steuerte er den Wagen von rechts nach links, teilweise auf die Gegenfahrbahn. Ein Lastwagenfahrer, der mit seinem schweren Brummer entgegenkam, erblickte erschrocken den Kleinwagen auf seiner Straßenseite.

Henri raste direkt auf den Transporter zu!

Der Fahrer hupte wie verrückt und stieg dann voll auf die Bremsen. Das rettete Henri vorläufig das Leben, denn er konnte nur wenige Meter vor ihm das Steuer herumreißen.

Die Reifen protestierten kreischend. Das Heck brach aus. Schleudernd überquerte er die rechte Fahrbahn. Sein Kleinwagen, der in dieser Geschwindigkeit wie ein Geschoß wirkte, raste direkt auf die Bäume am Straßenrand zu.

Durch den starken Bremsvorgang wurde er nach vorne in die Sicherheitsgurte gepresst. Der Schmerz auf seiner Brust wurde unerträglich. Er stöhnte gequält auf und verlor die Herrschaft über das Steuer. Der Wagen schleuderte wild hin und her.

Nur um wenige Zentimeter verfehlte er die Bäume!

Wie in Zeitlupe konnte er erkennen, dass sein Wagen über den Rand einer Böschung schoss. Das Auto hob ab und flog wie ein startendes Flugzeug nach oben, dem Himmel entgegen.

Er rang verzweifelt nach Luft. Der Schmerz hatte ein Stadium absoluter Unerträglichkeit erreicht. Plötzlich spürte er starken Wind, der durch seine Haare strich. Zaghaft blickte er sich um und erstarrte augenblicklich.

Das Auto war verschwunden! Er flog wie ein Vogel in einer Höhe von mindestens einhundert Metern.

Wie war das möglich?

Er stieg immer höher und wurde immer schneller. Plötzlich spürte er, dass er nicht mehr allein war. Er saß auf dem Rücken eines geflügelten Pferdes, das mit seinen gewaltigen Schwingen immer mehr beschleunigte.

Henri glaubte, den Verstand verloren zu haben! Ein Pferd? Mit Flügeln?

Er konnte aber nicht länger darüber nachdenken, denn der Flug wurde immer unruhiger, sodass er sich krampfhaft an der Mähne des magischen Wesens festhalten musste.

Wie lange die Reise ging, konnte Henri nicht sagen. Er war ausschließlich damit beschäftigt, sich auf dem Rücken des Pferdes zu halten.

Aber jede Reise sollte ein Ende haben, auch diese.

Das Pferd wurde langsamer, sank dadurch immer tiefer, bis Henri unter sich wieder den Boden erkennen konnte.

Sie landeten im Nordwesten Griechenlands. Als das magische Wesen sicher stand, schüttelte es sich zweimal kurz, sodass Henri in einem hohen Bogen herunterstürzte und auf dem Boden landete. Im nächsten Augenblick galoppierte das Pferd los, wurde immer schneller, setzte seine Flügel ein und flog davon.

Henri rieb sich den Hintern, der von dem Sturz noch leicht schmerzte. „Was war das denn?“, flüsterte er zu sich selbst.

„Pegasos“, antwortete eine Stimme, deren Ursprung direkt hinter Henri lag. Erschrocken sprang er auf, drehte sich um und blickte in die grinsenden Augen von Sokrates.

Der kleine Mann trug erneut ein weißes Gewand, hielt die Hände gefaltet und blickte Henri neugierig an.

„Hast du die Reise gut überstanden?“

„Das war Ihre Idee mit diesem fliegenden Pferd?“

„Du sagst es so abwertend. Pegasos ist das Kind des Meeresgottes Poseidon und der Gorgone Medusa. Es ist eines der mächtigsten Wesen.“

„Aber nur in der griechischen Mythologie, an die kein vernünftig denkendes Wesen glaubt“, meinte eine ironisch klingende Stimme, die von Henris linker Seite erscholl.

„Der Ägypter glaubt mal wieder nicht an die griechischen Mächte“, erklärte Sokrates und blickte nachdenklich zu Djehuti. Der Hohepriester zuckte lässig mit den Schultern, drehte sich herum und schritt auf einen dichten Eichenhain zu.

„Er ist etwas genervt“, erklärte Sokrates. „Wir warten schon länger auf dich, Henri.“

„Auf mich? Ähh ... ich verstehe gar nichts.“

„Ich habe Pegasus zu dir geschickt, damit er dich abholt und herbringt. Es wird Zeit für die zweite Spielrunde.“

„Wo bin ich hier?“

„Wir sind in Dodona, einem der ältesten griechischen Heiligtümer und Orakel. Ich dachte, dies wäre ein geeigneter Ort, damit du die zweite Steintafel ziehst.“

„Ist nicht jeder Ort dafür geeignet?“, fragte Henri, dem immer noch der Hintern schmerzte.

„Natürlich.“

„Warum dann hier?“

„Ich möchte dir die Bedeutung meines Heimatlandes näherbringen. Manchmal denke ich, die Menschen in Europa haben die geschichtliche Bedeutung von Griechenland vergessen. Es wird nur noch über Geld und Schulden gesprochen.“

„Da haben Sie Recht.“

„Lass mich erkennen, dass am reichsten ist, wer weise ist, und den Göttern am ähnlichsten, wer genügsam ist.“

„Wieder etwas zum Nachdenken.“

„Je weniger Wünsche wir haben, desto mehr ähneln wir Gott“, sprach Sokrates weiter, ergriff Henris Hand und führte ihn in Richtung des dichten Eichenhains.

„Okay, also ich bin hier. Was sollte ich denn über diesen Ort wissen?“

„Vieles, aber ich hoffte auch, dass dieser engstirnige Hohepriester langsam wichtige Zusammenhänge erkennt. Die Gründungssage beschreibt eine enge Beziehung zum Alten Ägypten. Laut einer Variante, die Herodot im ägyptischen Theben hörte, entführten Phönizier zwei Priesterinnen aus Theben und verkauften eine von ihnen nach Libyen, wo sie in der Oase Siwa das Heiligtum des Zeus Ammon stiftete. Die andere Priesterin verkauften sie nach Dodona, wo sie den Kult des Zeus begründet haben soll. Die griechische Mythologie wurde von einer Priesterin aus Theben begründet!“

„Wir haben alle den gleichen Ursprung“, meinte Henri nachdenklich.

„Sag das dem Hohepriester! Für ihn gibt es nur Ägypten. Die größten Probleme der Menschheit beruhen auf ihrer Engstirnigkeit, andere Kulturen und Religionen zu akzeptieren.“

„Stimmt. Warum ist dieser Ort hier etwas Besonderes?“

„Im Heiligtum von Dodona gibt es eine einzigartige Form der Weissagung, die entscheidend für das gesamte Orakelwesen war.“

„Und welche?“

„Es wurden Orakeltäfelchen erstellt. Die Antworten erfolgten dann durch eine Interpretation des Rauschens der heiligen Eiche und des Fluges der heiligen Tauben.“

„Klingt seltsam. Wenn mir das jemand zu Hause gesagt hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Tauben? Was sollen die denn schon sagen?“

„Hier ist einer der Sitze der Götter! Östlich des Eichenhains erhielt Dione, eine Frau von Zeus und Mutter von Aphrodite, einen kleinen Tempel. Westlich der Eiche entstanden kleine Tempel für Themis und Aphrodite. Im Zentrum befindet sich der Zeustempel. Dieser Ort ist etwas Einzigartiges!“

Henri blickte sich neugierig um. Es wirkte nicht so, wie er sich Griechenland vorstellte. Kein Meer, kein Strand, keine Liegestühle. Stattdessen befand er sich in einem breiten Tal und sah im Westen das Tormaros Gebirge. Es wirkte eher wie Österreich auf ihn.

„Wohin gehen wir jetzt?“

„In den Mittelpunkt von Dodona. Dort darfst du im Tempel des Zeus die zweite Tafel ziehen.“

Sokrates gab die Richtung vor. Sie gingen an Büschen, alten Eichen und verstreuten Felsblöcken vorbei und erreichten ein Steingebäude in der Größe von 6 x 4 Metern. Der rechteckige Tempel war durch gleichförmige Quadersteine errichtet worden. Als sie durch den schmalen Eingang ins Innere traten, wurde die Luft merklich kühler und feuchter. Henri spürte, wie ihn eine Atmosphäre aus Macht und Göttlichkeit empfing.

„Kann es jetzt endlich losgehen, ihr beiden Vollidioten?“, schimpfte die unangenehme Stimme von Djehuti, der lässig an einer Säule lehnte.

„Natürlich, mein ägyptischer Freund“, antwortete Sokrates lächelnd und schritt auf einen weißen Marmoraltar zu, der in der Mitte des Tempels stand.

„Ich bin nicht dein Freund“, erwiderte der Hohepriester hochnäsig.

„Stimmt, dieses Privileg musst du dir erst verdienen.“

Sokrates hob seine rechte Hand, murmelte einige fremdklingende Worte, worauf im gleichen Moment die mit Gold überzogene Truhe aus Akazienholz erschien. Er nickte Henri zu und deutete auf die schmale Öffnung am Deckel.

„Du darfst eine Steintafel ziehen, Henri“, meinte er.

„Nun mach schon, du Blödmann! Ich will nicht länger als nötig in diesem Tempel herumstehen“, fauchte Djehuti drängend.

„Das glaube ich dir, Hohepriester aus Ägypten“, meinte Sokrates. „Die Nähe zu Zeus verursacht dir Angst.“

„Blödsinn! Sinnloses Verschwenden von Zeit macht mir Angst. Kein Wunder, dass ihr Griechen so wenig produktiv seid. Bei dem Arbeitstempo!“ Djehuti lachte bösartig und arrogant.

„Muße ist der schönste Besitz von allen.“

„Du blöder Grieche meinst damit eher Faulheit!“

„Der Wind bläst die Säcke auf, die Dummen der Dünkel.“

„Tolle Sprüche, alter Mann“, sagte Djehuti. „Sie interessieren jedoch keine Sau! Lasst uns endlich mit der zweiten Spielrunde beginnen, ich habe Hunger auf frisches Menschenfleisch!“

„Ein gutes Essen bringt gute Leute zusammen“, erwiderte Sokrates. „Ein schlechtes Essen das Gegenteil. Aber wir sollten wirklich beginnen, die Gesellschaft des Ägypters ermüdet meinen Geist.“

Henri schob seine Hand in die schmale Öffnung der Truhe und ertastete die kalten Steintafeln. Er wühlte etwas und zog anschließend eine beliebige heraus. Sokrates nahm sie entgegen und las laut vor:


Waverly Hills Sanatorium

Louisville, USA,

Juni 1926


„Wir treffen uns in Amerika, Dumpfbacke”, sprach Djehuti, wedelte kurz mit seinen Armen und verschwand in einer dichten Nebelwolke.

„Hast du dein Reiseziel verstanden, Henri?“, fragte Sokrates, nachdem der Hohepriester verschwunden war.

„Ja. Ich muss in ein Krankenhaus nach Amerika.“

„Wird wohl so sein.“

„Geht es sofort los?“

„Natürlich, du kennst es doch bereits. Schließ deine Augen und vertrau mir.“

Henri versuchte, sich zu entspannen. Er spürte die kalte Hand des Philosophen auf seiner Stirn, dann drehte sich sein Körper und irrsinnige Glücksgefühle durchströmten ihn.

Dann konnte er gar nichts mehr denken oder fühlen. Ein gewaltiger Wirbel erfasste ihn, der seinen Geist und seinen Körper mit unwiderstehlicher Kraft in sich hineinzog.

Henri hatte die Reise durch die Dimensionen der Zeit angetreten.

Schneller und immer schneller.

Intensiver und noch intensiver.

Er flog durch die Unendlichkeit der Zeit, und landete in einem weichen Blumenbeet, das sich direkt am Rand eines Teichs befand.

Die Rückkehr der Dämonen, Teil 2 (Louisville/USA, 1926)

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