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I. 3 Die Reformation und der Musikeinsatz im Französischunterricht

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Martin Luther (1483-1546) verkörpert den Wendepunkt zwischen Mittelalter und Neuzeit. Er kann nicht nur als theologischer Kopf der Reformation gesehen werden: Es handelt sich um eine durchaus komplexe Persönlichkeit, dessen Bedeutung für die Kultur- und Musikgeschichte unbestritten ist. Seine Bibelübersetzung ermöglichte eine Normierung der deutschen Sprache und damit auch eine weitgehende Verbreitung und Demokratisierung der heiligen Schrift, denn von nun an konnte der einfache (lateinunkundige) Bürger die Bibel in seiner Muttersprache lesen. Luther zielte auf die Volkssprache, wie er 1530 im Sendbrief vom Dolmetschen formuliert:

Man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die Mutter im hause, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet.1

Bei der Verbreitung der Bibelübersetzung Luthers wirkte der Buchdruck als entscheidender Katalysator in der Verbreitung der neuen Religion. Im Folgenden sollen vor allem die Bedeutung Luthers einerseits als Musiker und Komponist, andererseits als Erzieher und Pädagoge sowie die Anwendung seiner Prinzipien für den Sprachunterricht dargestellt werden.

Die Musik und vor allem das Lied nehmen im Bildungswesen der Zeit des Humanismus eine Sonderstellung ein, da sie „[…] in einzigartiger Weise verschiedenartigen Aspekten der Pädagogik, der Religion, der Wissenschaft und der Musikpflege [unterliegen].“2 Wolfgang Niemöller verweist auf das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Fachdisziplin innerhalb der septem artes liberales und künstlerischer, „poetischer“ Ausdrucksform.3 Bis zum 16. Jahrhundert war die Musikausbildung innerhalb des Quadriviums4 eine Art Mischung aus Arithmetik und Musik.5 Luther stellt dieser musica theoretica eine realitätsnahe musica practica6 entgegen. So spielt der Musikeinsatz7 im Unterricht in Luthers Bildungskonzeption eine zentrale Rolle:

Musicam habe ich allzeit lieb gehabt. Wer dies Kunst kann, der ist guter Art, zu allem geschickt. Man muß Musicam von Noth wegen in Schulen behalten.8 Ein Schulmeister muß singen können, sonst sehe ich ihn nicht an. Man soll auch junge Gesellen zum Predigtamt nicht verordnen, sie haben sich denn in der Schule in der musica wohl versucht und geübet.9

Die Verbindung der mittelalterlichen Lateinschule mit der Kirchenmusik wies der musica neben dem Latein auch als Lehrfach eine wichtige Stellung zu. Niemöller10 hat nachgewiesen, dass der rector scholae im Normalfall auch gleichzeitig, gewissermaßen in Personalunion, der rector chori als cantor war. Dies geschah aus soziologischen, berufsrechtlichen und häufig auch finanziellen Gründen. Oft wurden Neugründungen von Schulen unter der offiziellen Begründung vorangetrieben, dass dadurch der feierliche liturgische Gesang in der Kirche erhalten werden konnte. Der Schulmeister sollte zuerst dem Chor und dann erst der Schule vorstehen.11

Das Singen der Schulchöre diente dem Lob Gottes, und dazu sollten alle Gläubigen angehalten werden, in ihrer Muttersprache mitzusingen.12 Die Kirchgemeinde wurde im Gottesdienst aktiv einbezogen. Anstelle des Gregorianischen Gesangs stellte Luther ein Repertoire von Chorälen zusammen.13

Die Formel des Singens und Sagens taucht wiederholt bei Martin Luther auf. Johannes Block verweist auf die Botschaft des Evangeliums, die singend und sagend zum Menschen kommt.14 Es handelt sich um eine Verstehensmethode: „Theologie wird unter Gesang getrieben und kommt unter Gesang zum Verstehen.“15 Block untersucht diese Beziehung von verbum und vox16 bei Luther:

Die Propheten haben keine Kunst derart gebraucht wie die Musik, weil sie ihre Theologie […] in Musik gesetzt haben, so daß sie Theologie und Musik engstens verbunden haben, wenn sie die Wahrheit in Psalmen und Liedern verkündigten.17 […] Den nächsten Platz nach der Theologie gebe ich der Musik. Das ist durch das Beispiel Davids und aller Propheten offenbar, die all das ihr in Versmaßen und Gesängen überliefert haben.18

Luthers Bedeutung für das Kirchenlied mündet in die Rolle der Reformation als Singbewegung.19 Er dichtete 36 Kirchenlieder, bei mindestens 20 dieser Lieder stammen die Melodien sicher von ihm selbst:20 „Erst die Noten machen den Text lebendig.“21 Viele Kirchenlieder von Luther greifen nach dem Prinzip der Kontrafaktur22 vorreformatorische deutsche Lieder, aber auch lateinische Gesänge der katholischen Kirche, wie Hymnen sowie Volks- und Gesellschaftslieder auf. Hierbei wird das oben dargestellte didaktische Konzept Vom Eigenen zum Fremden23 angewendet. Da viele (vormals katholische) Choräle und Volkslieder bekannt waren und zum Allgemeingut gehörten, konnte Luther diese erfolgreich verbreiten und für den protestantischen Kirchenchoral nutzen.24

Ein bekanntes Beispiel ist das Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott, dessen Text von Martin Luther zwischen 1527 und 1529 geschrieben wurde und bis heute zum Reformationstag in den evangelischen Gemeinden gesungen wird.25 Der Text bezieht sich auf Psalm 46: Gott ist unsre Zuversicht und Stärke.26 Luther stellt in diesem Choral in der ersten Strophe die Macht Gottes und seinen Schutz vor Anfeindungen und Versuchungen des „alt böse[n] feind[es]“ dar. Hierbei wird die Tradition des Mittelalters deutlich, in der dritten Strophe wird der Teufel als „Fürst dieser Welt“ bezeichnet. Die darauf folgende vierte Strophe zeigt den kämpferischen Charakter „[…] jenes siegesgewissen Chorals, der die Marseillaise des 16. Jahrhunderts wurde.“27

Die Rezeption und musikalische Fortentwicklung des Lutherschen Reformationschorals ist für den zeitgenössischen Französischunterricht sehr interessant. Das Kirchenlied, das fester Bestandteil des evangelischen Gottesdienstes war, ist vermutlich auch zu Tischgebeten in den protestantischen Familien gesungen worden und wurde auch ins Französische übersetzt. Die folgende Abbildung zeigt einen Auszug aus dem Gesangbüchlein / Teutsch und Frantzösisch nebeneinander gesetzt.28 Es handelt sich um die Interlinearversion des Lutherchorals in einer zweisprachigen Ausgabe von Mömpelgard / Montbéliard 1618 (Abb. 4, S. 62). Die französische Version passt sich dem Rhythmus und Metrum des deutschen Originaltexts gut an:

Eyn feste Burg ist unser Gott, Ein gute Wehr und waffen. Er hilfft uns frey auß aller not, Die uns jetzt hat betroffen. Der alt böse Feindt, Mit ernst ers jetzt meint, Groß macht und viel list, Sein grausam ruestung ist Auff erd ist nicht seyns gleichen. Nostre Dieu nous est un bon fort, Une arme secourable. Il nous est pour aide et support, Que mal ne nous accable. Le vieux ennemy N’est pas endormi : Par fraude il fait voir Son furieux pouuoir Et n’a point son semblable.

Abb. 4:

Beginn von Ein feste Burg ist unser Gott / Nostre Dieu nous est un bon fort. Interlinearversion mit Neumen. In: Martin Luther / Jacques Foillet: Gesangbüchlein, Teutsch und Frantzösisch neben einander gesetzt […]. Montbéliard: Zetzner, 1618, S. 174 f.

Der vorliegende Auszug des Mömpelgarder Gesangsbüchleins ist insofern aufschlussreich, als es ein Zeugnis für die Zweisprachigkeit der Enklave ist.29 Bei Tischgebeten in der Familie oder zu Beginn des Unterrichts konnten die Psalmen in beiden Sprachen gesungen werden, da Metrum und Rhythmus an die französische Version angepasst sind.

In den reformierten Gebieten wurden die calvinistischen30 Psalmenkompositionen von Claude Goudimel verwendet: Les pseaumes mis en rime françoise, par Clément Marot et Théodore de Bèze, Genève 1565. Es handelt sich um den ersten vollständigen Genfer Liederpsalter oder Hugenottenpsalter (psaultier huguenot).31 Goudimel32 vertonte die von Marot und de Bèze umgedichteten Psalmentexte. Am Beispiel von Psalm 46: Gott ist unsre Zuversicht und Stärke (Zu Gott wir unser Zuflucht haben) soll dies exemplarisch vorgestellt werden: Marot übersetzte den Psalm aus dem Lateinischen Deus noster refugium et virtus und stellt darüber einen kurzen Kommentar über den Schutz Gottes (später Luthers „ein feste Burg“):

De David. Psalme XLVI. Deus noster refugium & virtus Argument.33

Les bons chantent icy, quelle fiance & seureté ils ont en tous perils, ayant Dieu pour leur garde.

Des qu’adversité nous offence,

Dieu nous est apuy & defence:

Au besoin l’avons asprouvé,

Et grand secours en luy trouvé. […]

Die Goudimelsche Version nach der Übersetzung von Marot und de Bèze ist bis heute Bestandteil der reformierten französischen Gesangsbücher, wie der Auszug aus dem Recueil de psaumes et cantiques à l’usage des églises réformées von 1859 beweist.34 Dargestellt ist der 113. Psalm: Vous qui servez le Seigneur nach Marot 1542. Die Melodie aus dem Jahr 1551 stammt aus Genf und ist bis heute in den reformierten Gemeinden Teil des psautier français de la Réforme-psaumes.35 Boerner / Pilz / Rosenthal36 verwenden den 113. Psalm des Hugenottenpsalters in einem Auszug aus dem Recueil von Berger-Levrault in ihrem Lehrbuch der französischen Sprache als erstes Lied im Anhangteil unter der Rubrik Chansons (Abb. 5, S. 66). Hierbei ergibt sich eine Parallele zum geopolitischen Hintergrund wie beim Gottesvertrauen in „Ein feste Burg ist unser Gott“ als Festung im Dreißigjährigen Krieg. In der Ausgabe von 1914 wurden nur drei der fünf Strophen abgedruckt. Es handelt sich neben der ersten Strophe um die dritte Strophe. Letztere wurde als zweite angegeben und die vierte Strophe als dritte abgedruckt. Nach der unveränderten ersten Strophe, die als Lobpreisung Gottes verstanden werden kann: Vous qui servez le Dieu des cieux,/ Célébrez son nom glorieux,/ Chantez sa grandeur. wird in der zweiten Strophe die Macht Gottes dargestellt: […] dans ce haut lieu / D’où sa main lance le tonnerre […]. Parallelen zum Kriegsbeginn 1914 werden deutlich. In der dritten Strophe wird Trost gespendet: Au juste qu’il voit affligé, / Au pauvre qu’il voit négligé, / Il tend la main dans leur détresse.

In den reformierten Gemeinden in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz gilt die Psalmenübertragung des sächsischen humanistischen Dichters Ambrosius Lobwasser37 bis heute als richtungsweisend. Lobwasser brachte die Melodie von Goudimel mit den Psalmen, die von Marot und de Bèze vom Latein ins Französische übersetzt worden waren, nach den gleichen Versmaßen in deutsche Reime. Die Lobwasser-Übersetzung erschien erstmals 1573 mit dem Titel

Der Psalter deß Königlichen Propheten Davids / in deutsche reymen verstendiglich vnd deutlich gebracht / mit vorgehender abzeigung der reymen weise / auch eines jeden Psalmes Inhalt / Durch den Ehrenuertesten Hochgelarten Heern Ambrosium Lobwasser / der Rechten Doctorn vnd Fürstlicher Durchlauchtigkeit in Preussen Rathe. Vnd hierüber bei einem jeden Psalmen / seine zugehörige vier stimmen / vnd laut der Psalmen / andechtige schöne gebet.38

Abb. 5:

Otto BOERNER / Clemens PILZ / Max ROSENTHAL, Lehrbuch der französischen Sprache für preußische Präparandenanstalten und Seminare nach den Bestimmungen vom 1. Juli 1901. Leipzig und Berlin: Verlag Teubner, 3. Aufl. 1914, B. Chansons. 1. Psaume CXIII, S. 143.

Édith Weber39 hat die exakte Kongruenz in Reim, Versmaß und Goudimelscher Melodie am Beispiel des Psalms 46 dargestellt.

Musikeinsatz im Französischunterricht

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