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I. 2 Musik im Unterricht des Mittelalters

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Der berühmte praxisorientierte Musikpädagoge Guido von Arezzo (um 992-1050) weist darauf hin, dass Boethius’ Werk „nicht für Sänger, sondern allein für Philosophen nützlich ist“.1

Guido von Arezzo war Benediktinermönch im Kloster Pomposa bei Ravenna und prägte als musikpädagogische Autorität, als Lehrer und Praktiker wie kaum ein anderer den zeitgenössischen Unterricht. Er schuf die Grundlagen für den heutigen Umgang mit musischen Elementen im Unterricht: Die Einheit von Schule und Kirche war zentral für das mittelalterliche Schulleben. Als Mönch entwickelte Guido von Arezzo mehrere unterrichtsmethodische und musikpädagogische Prinzipien. Dabei folgte er dem Bildungsideal des Mittelalters, Gott singend zu loben. Auch der sprachliche Lehrstoff wurde in Versen dargeboten, danach von den Schülern singend vorgetragen und eingeprägt.2

Die feststehende Gottesdiensttradition folgte dem Gesangsrepertoire der Gregorianik und des Gregorianischen Chorals.3 Die Aufzeichnung von „Musik“ erfolgte durch Neumen, die aus waagerechten Strichen, Häkchen und Punkten bestehenden frühmittelalterlichen Notenzeichen. Dabei wurden die Handbewegungen des dirigierenden Chorleiters nachempfunden, mit denen man die einstimmigen Gesänge aufzeichnete. Hierbei wird der Melodieverlauf, also das Steigen oder Fallen, angezeigt, ohne jedoch die exakte Tonhöhe und Zeitdauer anzugeben.4 Die Neumen könnten somit auch als ein mnemotechnisches Hilfsmittel für den Kantor bei seinem Sprechgesang im Gottesdienst betrachtet werden.5 Als Teil der mündlichen Überlieferung stellten die Neumen kein eigenständiges Notensystem dar. Guido von Arezzo legte hiermit den Grundstein für die heutigen Notenlinien, bei denen die Tonhöhe angezeigt wird. Er schafft damit die Grundlage für die europäische Tonbenennung mit dem Verfahren der Solmisation, ein auf die Tonsilben des Hexachords (Ut, re, mi, fa, sol) aufbauendes System relativer Tonverhältnisse. Guido von Arezzo schlägt vor, für jeden Ton einen bekannten Gesang auszuwählen, der mit diesem Ton beginnt und dies als musikalische Gedächtnisstütze zu nutzen. Dabei verwendet er die bekannte und erfolgreiche Melodie des Johanneshymnus.6 Das Erlernen der Tonsilben, die den Anfang des Hymnus bilden, diente als Übung für das Singen vom Blatt:

Ut7 queant laxis Auf dass mit lockeren Stimmbändern
Resonare fibris singen (zum Klingen bringen) mögen
Mira gestorum von den Wundern Deines Tuns
Famuli tuorum Deine Schüler
Solve polluti löse der sündhaften
Labii reatum Lippe Schuld
Sancte Iohannes. Heiliger Johannes.

Georg Lange behandelt das Thema in seiner Dissertation Zur Geschichte der Solmisation und schlägt folgende Übersetzung vor: „Damit die Diener die Wunder Deiner Thaten mit beruhigtem Herzen singen können, so löse die Schuld des sündigen Mundes, heiliger Johannes.“8

Die romanischen Sprachen haben bis heute das Guidonische System beibehalten.9 Das deutsche Notensystem orientiert sich an der mittelalterlichen, alphabetischen Tradition. Durch seine praktischen Erfahrungen als Chorleiter kreierte Guido von Arezzo ein mnemotechnisches System mit dem erkennenden Auge als visuellem Mittel, der bezeichnenden Sprache als Merkvers bzw. -melodie, begleitet von der zeigenden Hand.10 Das Zeichensystem der Guidonischen Hand11 zur Unterstützung des Gedächtnisses folgte der Idee, dass jeder spezifische Teil der Hand, also Fingerspitzen und -gelenke, den sechs Stufen der Tonleiter ut-re-mi entspricht.

In der folgenden Abbildung12 ist nicht nur die Guidonische Hand aus dem 13. Jahrhundert abgebildet, sondern auch die Lehrperson, die eines Klerikers, vermutlich Guido von Arezzo (Abb. 2).13 Seine linke Hand ist überdimensional vergrößert und die rechte Hand zeigt darauf. So konnte im zeitgenössischen Unterricht der Lehrer mit dem Zeigefinger14 der rechten Hand exakt die Position der Tonfolge auf der linken Handfläche angeben. Im Außenkreis sind im Uhrzeigersinn die Solmisationssilben in Leserichtung von unten nach oben erkennbar. Im über der Hand stehenden Text des Caput VI seines Musiktraktats beschreibt der Autor die Überlegenheit der guidonischen Musiklehre15 und verkörpert somit einen Metatext, da die Figur nicht nur theoretische musica vermittelt, sondern auch aktiv zum richtigen Singen anleitet.

Die Guidonische Hand verbindet akustisch-artikulatorische Komponenten (das Singen), visuelle Komponenten (das Sehen) und haptische Komponenten (das Greifen und Zeigen der Hand) zu einem multisensoriellen Akt. Das Greifen der Töne ermöglicht das Begreifen der Musik. Diese Verknüpfung der Reize kann lernpsychologisch als Hauptelement des unbewussten Lernens durch Konditionierung betrachtet werden. Rhythmus und musische Elemente waren im Mittelalter damit integraler Bestandteil des Sprachunterrichts.

Den meisten Schülern wurde die lateinische Sprache im Mittelalter in „Singschulen“ vermittelt.16 Durch einfaches Singen wurde zunächst der Rhythmus und Sprachfluss eingeübt. „After the rhythm and flow of the language had been drilled by plain chant, which was based solidly on speech rhythms, the pupil began the formal study of Latin.”17

Der Lateinunterricht folgt hier also primär der mündlichen Tradition des Fremdsprachenunterrichts. Der Chorgesang (plain chant) knüpft an die antike Tradition der rhetorischen Memoria-Lehre an und ermöglicht das natürliche Lernen.18 Die Funktion des Lernens im Chor, das bis heute als gemeinsames Singen praktiziert wird, übernahm seit der Antike ein Sprechchor. Müller beschreibt die Entwicklung des Per-chorum-Lernens.19 Es handelt sich um

gleichzeitiges, rhythmisch gegliedertes ‚Aufsagen‘ von Sätzen und Texten […]. Der Chor der Antike war ein Sprechchor, der wohl auch durch Rhythmen einfacher Instrumente gegliedert und synchronisiert werden sowie in regelrechten Chorgesang übergehen konnte.20

Dieses rhythmische Lernen wurde dann auch auf den Fremdsprachenunterricht übertragen, als die Römer begannen, Griechisch zu lernen. Dabei wurden Ausspracheweise und Intonation im Unterricht metrisch vermittelt21 sowie der auswendig gelernte Stoff dann mündlich geprüft. Kelly beschreibt, dass Vergil-Rezitationen mit dieser Methode zum bevorzugten Unterrichtsstoff wurden.22

Abb. 2:

Kleriker mit Guidonischer Hand. Elias Salomo: Scienta artis musicae (1274) Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Cod. D75 inf., fol. 6 r. Nach J. SMITS VAN WAESBERGHE, Musikgeschichte in Bildern, Bd. III/3. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1969, Abb. 72, S. 137.

Abb. 3:

Auszug aus Walter RIPMAN, A handbook of the Latin language. London: Temple Press 1930, S. 800.

Diese Memorisierungs- und Rezitationsfunktion wird von Walter Ripman23 wieder aufgenommen und im Rahmen der direkten Methode24 angewendet (Abb. 3). Man erkennt eine an die mündliche Aussprache angepasste phonetische Transkription mit diakritischen Zeichen und suprasegmentalen Elementen wie der Tilde für Nasalierung, Liaison und Assimilierung (im Sinne der narrow vs. broad transcription).25

Die bis hierher dargestellte Entwicklung bezog sich mit den kirchlich-liturgischen Lateinlehranstalten vor allem auf den klerikalen Bereich. Vereinzelt gab es aber auch weltliche Unterrichtsformen. Ein Beispiel dafür ist Egbert von Lüttichs Fecunda ratis26 („Das vollbeladene Schiff“). Das in Hexametern geschriebene Buch präsentiert sich als Schiff, eine Parabel auf eine Fahrt durchs Leben. So ist das Buch gegliedert in ein prora (Vorderdeck) mit 1768 hexametrischen Versen und ein puppis (Heck).27

Egbert war Lehrer an der Domschule zu Lüttich28 und sein Lehrbuch sollte den Schülern die lateinische Sprache freudvoll näherbringen. Wieder steht die intrinsische Lernermotivierung mit Lernen durch Spaß und Freude im Mittelpunkt. Dieses Florilegium für jüngere Schüler enthält Auszüge antiker Autoren (wie Vergil, Ovid, Horaz und Seneca) sowie aus der Bibel und christlicher Literatur (Augustinus, Gregor der Große). Interessanterweise finden sich in der Sammlung volkssprachliche narrative Elemente wie auch mittelalterliche Fabeln (beispielsweise Reynard = Reineke Fuchs), Sprichwörter und Volksweisheiten („Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“), Volksmärchen (De puella a lupellis servata / „Das vor den Wölfen gerettete Mädchen“, also ein Vorläufer von Rotkäppchen), Reime, Klagelieder29 und Zitate aus dem 11. Jahrhundert, die explizit für den (säkularen) Unterricht des Triviums von Egbert selbst ins Lateinische übersetzt und in dieses pädagogische Konzept integriert wurden.30 Einige dieser volkssprachlichen Elemente nahm Egbert zuerst direkt nach seinem Widmungsbrief auf. Der Geleitbrief richtet sich ad Alboldum episcopum und meint damit den Bischof Adalbold (Adelbold, Albold) von Utrecht.31

Bereits in der Widmung (dedicatio) werden pädagogische Prinzipien erläutert und explizit auf die neniae (hier: Kinderlieder), das rhythmisierte Vorlesen und den Gesang von Versen eingegangen, der durch häufige Satzwiederholungen eine mnemotechnische Funktion erfüllte.

Nam non his, qui sunt assidua lectione ad uirile exculti, sed formidolosis adhuc sub disciplina pueris operam dedi, ut, dum absentibus interdum preceptoribus illa manus inpuberum quasdam inter se (nullas tamen in re) nenias aggarriret uti in his exercendis et crebro cantandis uersiculis ingeniolum quodammodo acueret, tum istis potius uteretur.32

Ähnliche Lernformen lassen sich heute noch in Koranschulen und auch beim Einprägen von Tonsprachen, wie dem Chinesischen, beobachten. Auch hier spielt rhythmisiertes Nachsprechen, das gelegentlich auch in einen Sprechgesang einmünden kann, eine wichtige Rolle.

Das Werk spiegelte die Erkenntnis- und Lebenswelt der Jugendlichen in der Knabenschule wider, indem es die Alltagserfahrung des zeitgenössischen Lebensumfeldes einbezog, die Region um Lüttich mit ihren Bauernhöfen und Dörfern, die den Schülern aus ihrem Alltag bekannt waren. So baut Egbert auf ein vertrautes inhaltliches Vorwissen auf und vermittelt damit Neues, das heißt die lateinische Sprache und Kultur.33 Vor allem die mündliche Tradition der Volksmärchen war den Schülern vertraut und für das Verstehen der lateinischen Übersetzung hilfreich. Parallel dazu war der Unterrichtsgegenstand motivierend. Die Moral der Fabeln fungiert hier als Lehrstück für die Schüler. Das Werk ist damit ein interessanter Beleg für die mittelalterliche Unterrichtspraxis. Die sakrale Musik spielte eine bedeutende Rolle im mittelalterlichen Lateinunterricht und wird von Petrus Abaelardus (1079-1142) erwähnt.34

Viele zeitgenössische Traktate enthielten breite Darstellungen über Aussprachephänomene wie Vokalqualität, Silbenlänge und Intonationsmuster. Louis G. Kelly verweist auf spezifische phonetische Probleme:

As it was taken for granted that spelling governed pronunciation, medieval scholars were faced with the problem of „silent letters“.

Music, it seems, was pressed into service to ensure that these letters were taken care of. Letters whose phonetic existence was threatened by the pronunciation habits of the new Romance languages were strengthened by being sung on a „liquiscient“ note, i. e, separatedly from the vowel preceding them in a syllable, and in later centuries, this spread to all threatened consonants.35

Bereits im Mittelalter gab es also im Unterricht das Phänomen der Hyperkorrektheit als Form eines spezifischen Sprachlernbewusstseins. Darauf hat Kelly am Beispiel der note liquiscente im Gregorianischen Choral hingewiesen.36

Besonders erfolgreich hat der belgische Theologe und Humanist Nicolaus Clenardus (1493-1542) Sprachlehrlieder (language teaching songs)37 aus Braga angewendet. Clenardus entwickelte eine Lehrmethode für den Spracherwerb des Lateinischen. Diese hatte eine Art Konversationsmethode als Grundlage und kann als Vorstufe zur Assimil-Methode38 betrachtet werden. Clenardus berichtet von einem Dialog, der mit den Worten Heus puer („Na, Junge“) beginnt.39 Aus dem ständigen Wiederholen dieser typischen Anredeformel im Dialogrhythmus auf singende Weise („in singsong fashion“40) entstand spontan ein Singsang, eine Melodie. Darüber hinaus berichtet Clenardus mit gewissem Humor, dass sogar die Maultiertreiber dieses Lied gesungen haben sollen.41 Das Lied wird schließlich zur idiomatisierten expression courante als Begrüßungsformel aller sozialer Schichten. Müller stellt fest, dass die Lateinschule des Mittelalters dem natürlichen Zweitspracherwerb entspricht:

Die erfolgreiche Lateinschule des Mittelalters verfuhr also im Grunde genommen genauso, wie sich […] das erfolgreiche, ‚natürliche‘ Erlernen einer zweiten Sprache vollzieht: Nicht von kleinen Einheiten, die aszendent zu immer größeren aufgebaut werden, sondern eher deszendent über den Rhythmus größerer und in sich abgeschlossenerer Sinneinheiten, die nach ihrer Haftung im Gedächtnis in weiteren Übungen ‚aufgebrochen‘ und analysiert werden.42

Diese Elemente des „singenden Lernens“ werden in den 1920er Jahren von Georg Lapper in Bayern aufgenommen und bilden die Grundlage seiner gleichnamigen Methode.43

Fazit: In der Antike44 und im Mittelalter überwiegt die mündliche Tradition. Kelly verweist mit der Formel „Ear before Eye“ darauf, dass „the introduction to language through oral skill [is] much older than many modern educators would care to admit, being found at least as early as the beginning of the Middle Ages.”45 Dies spiegelt sich auch in der formalen gregorianischen Bildungstradition der Schola cantorum46 wider, die eng mit der liturgischen mittelalterlichen Praxis verbunden war und bei der die Ausspracheschulung durch das Singen einen wichtigen Platz einnahm. Die mündlichen Fähigkeiten des Hörverstehens und Sprechens spielen damit auch historisch-genetisch eine bedeutende Rolle. Das Hörverstehen schaffte die Grundlage für die weiteren Fertigkeiten und konnte damit, wenn man das in heutigen Worten ausdrücken will, als basic skill bezeichnet werden, obwohl es damals die didaktische Konzeption der vier Grundfertigkeiten in expliziter und systematischer Form noch nicht gab.47 Daraus wurden dann als im Mittelalter gültige didaktische Maximen:

Nichts kann gesprochen werden, das nicht zuvor gehört und verstanden wurde.

Nichts kann gelesen werden, das nicht zuvor gehört, verstanden und gesprochen wurde. Nichts kann geschrieben werden, das nicht zuvor gehört, verstanden, gesprochen und gelesen wurde.48

Diese Tradition setzt sich fort bei der Entwicklung des Kirchenlieds im Rahmen der Reformation.

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