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Einleitung
ОглавлениеDas Thema Musik im Fremdsprachenunterricht erfreut sich seit den 1950er Jahren und besonders seit der „kommunikativen Wende“1 der 1970er Jahre zunehmender Beliebtheit.2 Das gilt vor allem für den Anfangsunterricht in der Grundschule bzw. das 5. und 6. Schuljahr, bei dem „ältere ganzheitspsychologische und fachdidaktisch integrative […] Ansätze“3 angewendet werden.
Mit der mehrdimensionalen Erweiterung des Literaturbegriffs durch die Rezeptionsästhetik4 rückt der Einsatz von Liedern als „vertonter Lyrik“5 auch für die Mittel- und Oberstufe in den Mittelpunkt der fachdidaktischen Diskussion: Harald Weinrich untersucht in seinem bahnbrechenden Aufsatz Ein Chanson und seine Gattung6 „die erstaunliche literarisch-musikalische Gattung des Chansons“,7 „eine unverwechselbar französische“8 Mischgattung, für die es keine normative Definition9 gibt. Weinrich betrachtet ein (prototypisches) Chanson,
als ob es ein lyrisches Gedicht wäre, […] ganz von der Melodie abgesehen. Das ist nicht nur aus methodischen Gründen geschehen, sondern findet seine Rechtfertigung auch darin, daß tatsächlich die Melodie in der Gattung Chanson gegenüber dem Text eine untergeordnete Rolle spielt.10
Der Romanist gesteht der musikalischen Komponente im Vergleich zum (Chanson-)Text lediglich eine dienende Rolle11 zu. Friedrich Klotz12 schließt sich Weinrichs Betrachtungen an und bezeichnet das Chanson als „Gattung Poesie“.13 Klotz legt vier verschiedene und von ihm selbst erprobte Methoden für die Chansonbehandlung im Unterricht vor, mit denen „man eine Unterrichtsreihe abwechslungsreich gestalten oder in Einzelstunden auf verschiedene Arten den Schülern diese kleinen Kunstwerke nahebringen kann.“14 Es handelt sich um 1. das Einhören, 2. das Eindenken, 3. Poésie-Chanson (die Interpretation des Chansons wie ein „echtes Gedicht“15) und 4. Chansons – übersetzt.16
Neben der Durchnahme einzelner Chansons schlägt Klotz vor, „Chansons in Reihen zu besprechen (nach welcher der genannten Methoden auch immer).“17 Klotz gibt folgende Themengruppen an: 1. Paris im Chanson, 2. Politik im Chanson, 3. Sozialkritik im Chanson, 4. Édith Piaf, 5. Weitere Themengruppen a) Das Chanson und sein Dichter im Chanson (Trénet / Bécaud), b) Jungsein – Qual und Glück (Neuville / Bécaud), c) Das religiöse Chanson (Chansons des Père Aimé Duval / der Sœur Sourire einerseits und von Brassens / Bécaud andererseits).
In seiner 1975 im Diesterweg-Verlag erschienenen Publikation Das französische Chanson bietet der Literaturwissenschaftler Karl Hölz18 erstmals Modelle für den Unterricht mit dem Chanson an, wobei nach einem historischen Abriss die Chansontexte mit einem Fragenkatalog und Diskussionsthemen versehen sind.19
Im gleichen Verlag wird von Hans Puls und Edmond Jung das Heft La Chanson française contemporaine20 herausgegeben. In ihrem Vorwort unterstreichen die Autoren die Rolle der chanson française als „nouveau genre littéraire“.21
Die 1980 erschienene Schrift des Soziolinguisten Louis-Jean Calvet La chanson dans la classe de français langue étrangère22 leitet einen Paradigmenwechsel im modernen Französischunterricht ein. So überträgt er Karl Bühlers Organon-Modell und Roman Jakobsons Kommunikations-Modell auf den Liedeinsatz im Fremdsprachenunterricht:
Pour qu’un message passe entre un émetteur (E) et un récepteur (R), il faut […] qu’ils aient en commun un code grâce auquel il pourra y avoir encodage et décodage. Ajoutons à cela que les rôles sont réversibles, l’émetteur pouvant devenir récepteur et vice-versa. Que se passe-t-il pour la chanson? Nous pouvons utiliser un schéma très semblable […].23
Neben Wortschatzschulung, Phonetik und Grammatik widmet Calvet ein Kapitel der landeskundlichen Komponente des Liedeinsatzes, das durch die beiden annexes Vingt thèmes de classe de civilisation und eine Mini-Bibliographie von Vingt chanteurs et chanteuses de la „Nouvelle Vague“, also zeitgenössischen auteurs-compositeurs-interprètes, komplettiert wird. In seiner im Folgejahr erschienenen Schrift Chanson et société24 fordert Calvet eine Aufwertung der musikalischen Komponente in Bezug zum Liedtext.25 Volkhard Heinrichs26 nimmt diese Position auf und schlägt insbesondere für die Arbeit mit fortgeschrittenen Lernern der Sekundarstufe II „zwei verschiedene, jedoch methodisch komplementäre Angänge nahe: den über die Musik und den über den vorgetragenen Text.“27
Die wachsende Bedeutung der musikalischen Seite in der Arbeit mit dem französischen Chanson spiegelt sich auch in Dietmar Frickes gleichnamigem Leitartikel28 des Sonderhefts Behandlung von Songs und Chansons wider. Nach Fricke führt die Vernachlässigung der musikalischen Seite des Chansons zu einem „Verlust an inhaltlicher und ästhetischer Information“.29 Fricke plädiert für die Analyse der musikalischen Dimension beim Einsatz von Chansons im Französischunterricht, „denn die Gründe, die trotz allem für die zusätzliche Mühe sprachlicher Bewältigung musikalischer Informationen sprechen“,30 liegen vor allem in der Gattung selbst beschlossen. Sie ist nur als Einheit von Text und Musik rezipierbar.“31 Als Illustration dieser Aussage führt Fricke ein Zitat des bekannten auteur-compositeur-interprète32 Guy Béart an: „La chanson, c’est l’union de l’aveugle – la musique – et du paralytique – les paroles. Sans la musique, les paroles restent paralysées, mais sans les paroles, la musique va n’importe où.“33 Anhand dreier Chansons von Guy Béart, Maxime Le Forestier und Henri Tachan zeigt Fricke die Anwendung der musikalischen Analyse34 bzw. musikalischer Ausdrucksmittel, wobei er als Hilfe ein „Minilexikon musikalischer Begriffe“ in deutsch, französisch, englisch, spanisch und italienisch beifügt.35
Eine methodisch-didaktische Pionierleistung zur inhaltlichen Analyse von Chansontexten gelingt Volkhard Heinrichs in seinem Basisartikel zum Chansoneinsatz in Praxis des neusprachlichen Unterrichts.36 So nutzt er wie Puls / Jung das Interpretationsmodell des commentaire de texte37 und bezieht sich auf den
aus der Informationstheorie abgeleiteten und dem Fremdsprachenunterricht angepaßten artikulatorischen Dreischritt von 1. Informationsentnahme (compréhension), 2. Informationsverarbeitung (analyse) und 3. Informationsbewertung (commentaire) […], dem als fertigkeitsbezogene Lernziele wichtige Kulturtechniken zugrunde liegen.38
Nach diesem Leitartikel veröffentlichte Volkhard Heinrichs von 1980 bis 1987 unter der Rubrik Chansons im Französischunterricht insgesamt 18 Modellvorschläge mit einem Aufgabenapparat und didaktischen Hinweisen in der Zeitschrift Praxis des neusprachlichen Unterrichts.39
Analog zur Trias Compréhension / Analyse / Commentaire wendet der Englischlehrer Wolfgang Biederstädt den Dreischritt Comprehension / Analysis / Discussion zur Inhaltsanalyse von Rocktexten an.40
1986 erscheint im Klett-Verlag die Sammlung Chansons d’aujourd’hui für den Einsatz in der Sekundarstufe II.41 Die Autoren Bernhard Wiehl, Eberhard Haar und Sylvie Schenk knüpfen an den didaktischen Dreischritt von Heinrichs an und erweitern diesen zu Compréhension / Analyse et interprétation / Commentaire et discussion.42 Die sechs Themenschwerpunkte lauten: I. Les jeunes et les vieux, II. Les visages de l’amour, III. La vie en ville et à la campagne, IV. L’individu et la société, V. Les marginaux, VI. La guerre et la paix.
Volkhard Heinrichs plädiert für einen verstärkten Einsatz von französischen Chansons in der Sekundarstufe II anhand einer multimedialen Konstruktion des Chansondossiers,43 als
Kombination aus Chansons als Leitmedium und komplementären Sach-, Hör- und Bildtexten sowie aus fiktionalen Texten zum Thema. Dieses Dossier soll Abstand halten sowohl von einer einseitigen Ausrichtung auf das Chanson oder von Zuliefererdiensten für eine andersartige Sachwissensvermittlung als auch von der reinen Auflockerung des Unterrichts durch gelegentlich eingestreute Chansons.44
Dieser multifunktionale Ansatz wird auch in Liedersammlungen aufgenommen wie beispielsweise derjenigen von Norbert Becker / Volkhard Heinrichs La chanson française: Paroles et musique.45 Die Autoren ergänzen die Arbeitsform des commentaire dirigé progressiv nach der methodischen Trias Compréhension / Analyse / Commentaire personnel mit komplementären Bildtexten (Karikaturen, Fotos) und Travaux pratiques mit Lückentexten, Zuordnungsübungen und Wortschatzarbeit (Vocabulaire thématique sur la chanson).
Auch Henning Düwell und Hannelore Rüttgens46 nutzen die multimediale Konstruktion des Chansondossiers, wobei sie wie Fricke eine Aufwertung der musikalischen Komponente fordern:
Chansons erfordern eine Rezeption von Musik und Text, die in ihrer jeweiligen Komposition und ihrem Zusammenhang Anlaß für verschiedene Formen der Wahrnehmung, Analyse und Verarbeitung bieten. Daher müssen für den mehrdimensionalen Prozeß der Aufnahme und der Auseinandersetzung mit einem Chanson Aufgaben eingesetzt werden, die dieser Vielschichtigkeit gerecht werden. Dies gilt insbesondere für eine adäquate Berücksichtigung der Musikkomponente, die allerdings bei der Behandlung von Chansons im Unterricht nicht voll bewältigt werden kann, weil hierzu bei den Adressaten die erforderlichen Vorkenntnisse häufig nicht vorausgesetzt werden können.47
Bei Düwell / Rüttgens erfolgt der Zugang zu den Chansons in einer an Sievritts angelehnten Stufenfolge: 1. Rezeption (A: Première impression sur la musique et les paroles de la chanson, B: Compréhension globale, C: Compréhension détaillée, D: Compréhension sélective; 2. Reproduktion (A: Reproduction, B: Reproduction – Production); 3. Textproduktion (A: Production, B: Textes supplémentaires, Caricatures, bandes dessinées).48
In den 1990er Jahren ist der Einsatz von Chansons und die musikalische Komponente ein fester Bestandteil im Französischunterricht, wobei sich der Fokus auf Moderne Chansons49 der Nouvelle génération française50 bezieht. In seinem Basisartikel Chansons in der Schule – von Brassens und Brel zu Rap und Bruel im o. g. Themenheft Der fremdsprachliche Unterricht Französisch versucht Ralf Böckmann eine Standortbestimmung zur Rolle des französischen Chansons im Französischunterricht mit dem Fazit, dass der Platz des französischen Chansons im Unterricht zwar schon seit langem gesichert ist, wobei er allerdings für den Einsatz aktueller Chansons plädiert, für „Beispiele der 90er Jahre […], Interpreten dieser Tage, die in der frankophonen Welt und darüber hinaus bekannt und beliebt sind, auch solche, die es vielleicht erst bei uns zu entdecken gibt.” So sollte die „didaktische Diskussion über das Was und das Wie […] heute innerhalb des Spannungsfeldes von klassischem französischem Chanson, von Pop, Rap und kommerzieller Medienkultur verlaufen.”51 In seinem Artikel Chansons im Französischunterricht (Schwerpunkt: Sekundarstufe II) im Themenheft Musik und Fremdsprachenunterricht52 zeigt Werner Weilhard methodisch-didakische Möglichkeiten im Bereich des Hörverstehens53 auf:
Hinsichtlich der Methoden des Chansoneinsatzes sollte […] das Prinzip „Vario delectat” [sic] gelten. In jedem Fall unverzichtbar ist im Vorfeld der Planung eine möglichst präzise Klärung der Schwierigkeitsfaktoren und -grade im Lernbereich Hörverstehen.54
Für die Sekundarstufe I gibt Wolfgang Froese Ende der 1980er und bis Ende der 1990er Jahre das beliebte Liederheft En chantant55 heraus, das neben 15 kindgemäßen Chansons traditionnelles56 auch 12 Chansons didactiques57 enthält. Das 1994 im Institut für Didaktik populärer Musik von Karl Rohrbach und Matthias Ganz herausgegebene Werk Chansons pour toi58 besteht aus drei Heften mit 5 CDs, wobei Band 1 einfache Lieder, Kanons, Chansons für die ersten zwei bis drei Jahre Französischunterricht vorstellt. Es dominieren die Chansons traditionnelles. Band 2 enthält Lieder der Nouvelle génération française wie Jean-Jacques Goldman, Michel Fugain, Stephan Eicher und Patricia Kaas. Dazu geben die Autoren handlungsorientierte Aufgabenstellungen vor: (Wir schreiben ein eigenes Chanson).59 Band 3 ist als Lehrerband60 konzipiert und bietet zahlreiche didaktische Hinweise sowie die kompletten Notenarrangements. So beginnt der Lehrerband mit dem Titel Das Lied im Französischunterricht und dem Zitat „Guter Unterricht ist ganzheitlicher Unterricht“.61 Die Autoren beschreiben die gegenseitige Wechselwirkung der linken und rechten Hemisphäre des Gehirns, wobei nach Forschungen der Neurobiologie bei der linken Hirnhälfte die rational-analytische, bei der rechten Hirnhälfte die intuitiv-imaginative Funktion im Mittelpunkt steht:
Das Chanson bietet die Möglichkeit, wieder beide Seiten unseres Bewußtseins anzusprechen: es beinhaltet Musik und Sprache, es weckt Emotionen, entspringt der Realität oder der Phantasie … – kurz: es berührt den ganzen Menschen, nicht bloß den Kopf.62
Der Liedeinsatz im Französischunterricht ermöglicht ein ganzheitliches Lernen – im Pestalozzischen Sinne mit Kopf, Herz und Hand. 2002 erscheint ein Themenheft der Zeitschrift Der fremdsprachliche Unterricht Französisch zu „Sprache und Musik“63 mit einer Auswahlbibliographie, die zeigt, dass Ende der 1990er Jahre diese Interdependenz von Sprache und Musik in mehreren fremdsprachendidaktischen Publikationen thematisiert wird.64
Eine weitere Tendenz der 1990er Jahre ist durch die Interdisziplinarität geprägt: Ursula Mathis organisierte 1993 an der Universität Innsbruck das interdisziplinäre Symposium La chanson française contemporaine. Politique, société, médias, an dem neben den Romanisten namhafte Historiker, Journalisten, Kultur-, Sprach-, Literatur- sowie Musikwissenschaftler und Soziologen beteiligt waren.65
Dieser fachübergreifende, interdisziplinäre Ansatz dominiert auch im 1997 von Norbert Becker herausgegebenen Themenheft zum Chanson.66 Becker prophezeit im Vorwort die Medienrevolution der 2000er Jahre, die durch den Triumph und die Ausbreitung des Internets charakterisiert werden kann, sowie neue Kommunikationsplattformen, die mit Videoclips, mp3, mp4, deezer u. a. ein neues Medienzeitalter einläuten.67
Zum visuellen Medieneinsatz aus einer interdisziplinären Perspektive erscheint auch 1992 Marcus Reinfrieds Dissertationschrift Das Bild im Fremdsprachenunterricht68 als erste lückenlose Darstellung der historischen Entwicklung der visuellen Medien im Französischunterricht. 1996 gibt Gabriele Blell mit Karlheinz Hellwig den interdisziplinären Band Bildende Kunst und Musik im Fremdsprachenunterricht69 heraus und charakterisiert den fremdsprachendidaktischen Zusammenhang wie folgt:
Motivierender Fremdsprachenunterricht beginnt beim Lernenden und seinen Interessen. Der Einsatz von Bildern im Fremdsprachenunterricht ist […] zu einer beliebten und sprachlich produktiven Selbstverständlichkeit geworden. Das gilt insbesondere für Formen mediuminterner Verbindung mit der Fremdsprache: wie z. B. für Bildergeschichten, Cartoons, Comics, Buchillustrationen zu literarischen Texten, Filmen und Videos. Ähnlich verhält es sich mit Musik. Durch elektronische Apparate ist Musik überall. Es gibt auch kaum einen Lernenden, der sich nicht in irgendeiner Form von Musik für das Fremdsprachenlernen motivieren ließe. […]. Die mediumexterne Kombination von Bild und Fremdsprache sowie von Musik und Fremdsprache, d. h. das Sprechen über Bildkunstwerke: Malereien, Graphiken und Collagen – oder über Tonkunstwerke ohne Wort: Programm-Musik und Charakterstücke – war jedoch lange Zeit ein auffällig vernachlässigter Bereich der Fremdsprachendidaktik im neusprachlichen Unterricht.70
Zwei Jahrzehnte nach der kommunikativen Wende kommt Frank G. Königs in Anlehnung an Hans-Eberhard Piephos proklamierter „postkommunikativer Phase”71 nach einer Bestandsaufnahme der Forschungen in der Fremdsprachendidaktik zum Ergebnis, dass diese Neuentwicklungen als Belege für eine „Veränderung des Verständnisses von fremdsprachenunterrichtlicher Kommunikation und natürlich auch von fremdsprachenunterrichtlich bezogener kommunikativer Kompetenz” interpretiert werden können.72 Königs prägt den Begriff „neokommunikativ”, der diese Neuentwicklungen treffender darstelle als „postkommunikativ”.73 Parallel zu Frank G. Königs, dessen Aufsatz in der wenig verbreiteten chilenischen Zeitschrift Taller de letras erschien und deutschlandweit nur in der UB Frankfurt konsultierbar ist, bezeichnete auch Marcus Reinfried diese unterrichtsmethodischen Strömungen in seiner Vorlesung über Methodenkonzeptionen an der damaligen PH Erfurt als „neokommunikativ“.74 Dieser Paradigmenwechsel hin zum neokommunikativen Fremdsprachenunterricht wurde von Reinfried nach einer empirischen Auswertung der Sachregister der Bibliographie Moderner Fremdsprachenunterricht aus drei Jahrzehnten analysiert75, wobei er daraus folgende fünf unterrichtsmethodische Leitprinzipien abgeleitet hat:76
(1) Handlungsorientierung (mit den Unterrichtsformen kooperatives Lernen, kreative Arbeitsformen und Lernen durch Lehren); (2) fächerübergreifender Unterricht (dem der Projektunterricht, die Mehrsprachigkeitsdidaktik und der bilinguale Unterricht zugeordnet werden); (3) ganzheitliches Lernen77 (mit Inhaltsorientierung sowie authentischem und inzidentellem, d. h. beiläufigem Lernen); (4) Lerner- und (5) Prozessorientierung (mit der Individualisierung des Lernens, dem autonomen Lernen und dem reflektierten Einsatz von Lerntechniken).78
Zur Mehrsprachigkeitsdidaktik erschien 1998 ein von Franz-Joseph Meißner und Marcus Reinfried herausgegebener umfangreicher Sammelband.79 Ein Jahrzehnt später verfasste Franz-Joseph Meißner darüber hinaus einen grundlegenden historischen Aufsatz, der sich erstmals der diachronen Perspektive der Mehrsprachigkeitsdidaktik widmete und deren historischen Vorläufern unter semasiologischen und onomasiologischen Aspekten nachging.80
In mehreren Bänden der von Gabriele Blell und Rita Kupetz herausgegebenen Reihe Fremdsprachendidaktik inhalts- und lernerorientiert werden intermediale Korrelationen, d. h. Formen mediuminterner Verbindung mit der Fremdsprache und mediumexterner Kombination von Musik und Fremdsprache thematisiert.81 Die kommunikativen, sprachlichen und kulturellen Interaktionsmöglichkeiten der Neuen Medien zeigt Laurenz Volkmann82 auf in seinem Artikel Überlegungen zum Lernziel Medienkompetenz83 am Beispiel Musikvideoclips. Neben der fremdsprachlich kommunikativen und der interkulturellen Kompetenz plädiert Volkmann für eine semiotische und kulturkritische Kompetenz.84 Die zentrale Rolle von Musikvideoclips im Französischunterricht zeigt sich auch daran, dass Andreas Nieweler 2011 seine Reihe Französisch Innovativ mit dem Band Musik und Videoclips eröffnet.85 In diesem Zusammenhang verweist Nieweler auf das didaktische Potential der Neuen Medien, insbesondere des Internets:86
Mit dem vorliegenden Band werden gezielt Kompetenzen gelehrt und erworben. Die Schüler lernen, Chansons, Lieder und Musikvideoclips87 zu analysieren und produktiv zu nutzen. Sie tauchen dabei ein in eine landeskundlich relevante Vielfalt an Texten und Medien aus dem frankophonen Sprachraum und erweitern ihre Kenntnisse. Das Internet ist eine reichhaltige Informationsquelle für Musik und Künstler. Entsprechende Hinweise für Recherchen werden in den Beiträgen gegeben.88
Die Auswahl der Beiträge zeigt die methodische Vielfalt der thematischen Aspekte,89 die sich mit den Themenheften der 2010er Jahre der Zeitschrift Der fremdsprachliche Unterricht – Französisch90 größtenteils decken.91
Der wachsenden Bedeutung nicht nur von Chansons bzw. Liedern, sondern von Musik im Fremdsprachenunterricht wird dadurch Rechnung getragen, dass die Herausgeberin Carola Surkamp mit Gabriele Blells Beitrag einen separaten Lexikoneintrag diesem Stichwort im Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik widmet.92 Blell fasst folgende didaktische Grundlagen und Prinzipien für den Einsatz von Musik im Fremdsprachenunterricht zusammen:
(1) Prozessorientierung als Konzept konstruktivistischen Lernens zur Anregung von Sprach- und Sinnbildung sowie zum ästhetischen Lernen; (2) ganzheitlich-handelndes, schülerzentriertes Lernen (Lernerorientierung), bei dem die Lehrperson Monitor, Beraterin sowie aktiv Beteiligte ist. Handlungsorientierung ist dabei das zentrale verbindende konzeptionell-didaktische Prinzip der Fremdsprachendidaktik und der angrenzenden Musikpädagogik; (3) Öffnung des Lernortes Schule: Projektorientiertes Lernen (z. B. Musikwerkstatt) oder Hörspaziergänge (Lehr- und Lernort, Projektarbeit); (4) interkulturelles Lernen zur Entdeckung fremder akustischer Kulturen.93
Michaela Sambanis untersucht in ihrem 2013 bei Narr erschienenen Buch Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften94 u. a. die Interaktionen zwischen Musik, Sprache und Bewegung, wobei sie nach einem kurzen historischen Abriss des „bewegten Lernens” auch auf Bewegungslieder eingeht:
Lehrkräfte, die in der Grundschule Englisch oder Französisch unterrichten, verfügen in der Regel über ein Repertoire an bewegungsbasierten Aktivitäten. Sie singen mit ihrer Klasse Bewegungslieder (z. B. Head and shoulders, knees and toes / Tête, épaules et jambes et pieds) oder verbinden Lieder mit Tanzbewegungen.95
Im Basisheft Praxis Fremdsprachenunterricht 3 / 2015 mit dem Titel Musik widmet sich Sambanis unter dem Abschnitt Grundsätzliches der Wirkung von Musik auf das Fremdsprachenlernen.96 Engelbert Thaler untersucht die Ziele eines musikbasierten Fremdsprachenunterrichts (MBF) und orientiert sich in seinem Artikel Musikbasierter Fremdsprachenunterricht97 auf die Bildungsstandards, d. h. die fünf Bereiche der Abiturstandards:
1 Funktionale kommunikative Kompetenz (Hör- / Hörsehverstehen, z. B. Dekodierung eines Popsongs […]; Leseverstehen, z. B. kursorisches Lesen einer Star-Biographie; Sprechen, z. B. kritische Diskussion des Musikbetriebs; Schreiben, z. B. Verfassen einer E-Mail an Band-Mitglieder; Sprachmitteln, z. B. kontrastive Analyse von Originaltext und deutscher Übersetzung; Verfügen über sprachliche Mittel, z. B. Ausspracheschulung und Förderung des Sprachflusses durch Singen oder Einführung einer grammatischen Struktur.
2 Interkulturelle kommunikative Kompetenz (z. B. Perspektivenwechsel durch Rollenspiel mit einem amerikanischen Hip-Hop-Star).
3 Text- und Medienkompetenz (z. B. Analyse typischer Merkmale eines Rap-Musikvideos […].
4 Sprachbewusstheit (z. B. Sensibilisierung für kolloquiale Varianten von Songtexten […].
5 Sprachlernkompetenz (Reflexion und Vertiefung der Sprachlernprozesse durch autonome Nutzung von Online-Musikvideo-Portalen).98
Ludovic Gourvennec bettet den Liedeinsatz in den Kontext des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens ein:
Dans le CECRL, la compétence pragmatique „recouvre l’utilisation fonctionnelle des ressources de la langue (réalisation de fonctions langagières, d’actes de paroles) en s’appuyant sur des scénarios ou des scripts d’échange interactionnels. Elle renvoie également à la maîtrise du discours, à sa cohésion et à sa cohérence, au repérage des types et genres textuels, des effets d’ironie, de parodie.” Elle aborde donc l’au-delà du texte, son inscription dans le contexte, et elle s’avère primordiale dans l’appréhension d’une chanson […]. Et le CECRL apporte une précision importante pour notre étude : „Plus encore pour cette composante que pour la composante linguistique, il n’est guère besoin d’insister sur les incidences fortes des interactions et des environnements culturels dans lesquels s’inscrit la construction de telles capacités.”99 (2001:18).100
Eine weitere wichtige Entwicklungslinie zum Musikeinsatz im Fremdsprachenunterricht der letzten Jahre zeigt sich durch die Europäisierung der bilingualen Sachfachdidaktik und die Entwicklung des europäischen Konzepts des CLIL (Content and Language Integrated Learning) bzw. des EMILE (Enseignement d'une Matière par l’Intégration d'une Langue Étrangère).101 Im Rahmen des bilingualen Unterrichts wird das Schulfach Musik verstärkt in sogenannten CLIL- bzw. EMILE-Musikmodulen als Sachfach eingesetzt.102
Der hier beschriebene Forschungsstand zum Thema Musik im Französischunterricht zeigt, dass vor 1945, ja vor der neusprachlichen Reformbewegung das Thema bisher kaum beachtet und untersucht wurde. Gabriele Blell beginnt zwar ihren o. g. Beitrag zu Musik mit der Feststellung:
Die Idee von Musik im Fremdsprachenunterricht ist seit Wilhelm Viëtor in der neusprachlichen Didaktik gängig und zunehmend auch unterrichtliche Praxis geworden, zuerst im Anfangsunterricht des 5. und 6. Schuljahres (seit ca. 1882), später auch im fortgeschrittenen Fremdsprachenunterricht […].103
Es werden jedoch keine Beispiele angegeben oder Querverweise angeführt. Selbst Herbert Christ als ausgewiesener Experte für den historischen Bereich des Fremdsprachenunterrichts konstatierte im Jahre 2002:
Chansons erhielten erst spät jenes dauerhafte Hausrecht im Französischunterricht, das sie inzwischen zu haben scheinen. […] Ein Blick in die Inhaltsverzeichnisse der neusprachendidaktischen Zeitschriften von den 80er Jahren des 19. bis zu den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ist aufschlussreich: das Thema Lied wird nur ganz selten angesprochen. In der Zeitschrift Die Neueren Sprachen findet man beispielsweise zwischen 1893 und 1944 zwei (!) Aufsätze zum Thema Chanson.104
Eine Ausnahme bildet nach Christ lediglich der Anfangsunterricht, bei dem er eine Quelle von 1915 zitiert:
In älteren Lehrplänen findet man gelegentlich empfehlende Hinweise zu einer anderen Weise der Beschäftigung mit Liedern im Unterricht. So liest man in einem Lehrplan von 1915, es sollten in der Unterstufe „einzelne Lieder, deren Singweise in der Gesangsstunde eingeübt werden, auch gesungen” werden. Doch dürfte es sich in der Regel um Volks- und Kinderlieder gehandelt haben.105
Diese spärlichen, ja parzellierten Hinweise zum Einsatz von musikalischen Elementen, sowohl in der Primär- als auch in der Sekundärliteratur,106 zeigen, dass eine möglichst lückenlose Aufarbeitung und Darstellung des Musikeinsatzes am Beispiel des Französischunterrichts im deutschsprachigen Raum ein dringliches Desiderat darstellt. Das Thema dieser Arbeit situiert sich an der Schnittstelle mehrerer Forschungsrichtungen, zwischen der Didaktik des Französischen, Literatur- und Sprachwissenschaft, Sprachgeschichte, Sprachphilosophie, politischer Ideengeschichte sowie Kulturwissenschaften. Sie kann damit als Bindeglied zwischen der Geschichte des Methoden- und Medieneinsatzes betrachtet werden.107
Analog zu Marcus Reinfrieds Monographie Das Bild im Fremdsprachenunterricht, die eine Geschichte der visuellen Medien am Beispiel des Französischunterrichts aufzeigt, ist auch die vorliegende Arbeit der historisch-genetischen Methode verpflichtet. Der zeitliche Rahmen der Arbeit umfasst die frühen Formen des Musikeinsatzes im Unterricht der Antike und endet mit dem Ausklingen der neusprachlichen Reformbewegung und dem Sieg der vermittelnden Methode am Vorabend des Ersten Weltkriegs 1914.108
Die Primärquellen sind Liedersammlungen für den Französischunterricht und vor allem Lehrbücher, in denen Liedtexte und gelegentlich auch die dazugehörigen Noten abgedruckt wurden. Die Sekundärquellen umfassen Publikationen zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, Produkte eines Forschungsgebiets, in der die Zahl der fremdsprachendidaktischen Arbeiten in den vergangenen Jahrzehnten zwar erheblich zugenommen hat: Der Nachweis von Beispielen des Musikeinsatzes vor der neusprachlichen Reformbewegung hat sich jedoch angesichts der mageren Auswahl von (oft verschollenen) Primärquellen und auch Sekundärquellen als äußerst komplex und schwierig erwiesen. In verschiedenen Archiven und Nachlässen konnte ich allerdings wichtige handschriftliche Dokumente sichten, die dazu beigetragen haben, bisher vorhandene thematische Lücken in der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts unter besonderer Berücksichtigung des Fachs Französisch zu schließen.109
Die Arbeit bezieht sich vorwiegend auf den deutschsprachigen Raum: zunächst auf Deutschland, da von hier wichtige methodisch-didaktische Neuerungen ausgingen. Weiterhin werden Österreich und die germanophone Schweiz einbezogen. Weitere wichtige Impulse gingen besonders von Frankreich und Italien aus. So werden in der vorliegenden diachronen Evolution auch intermediale und -personale Parallelen, Interdependenzen und Querverbindungen aufgezeigt.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile, wobei die neusprachliche Reformbewegung (etwa 1880-1905) im Zentrum der Darstellung steht: Zunächst werden frühe Formen des Musikeinsatzes im Französischunterricht vor der neusprachlichen Reformbewegung untersucht (Kapitel I). Im Mittelpunkt der Arbeit steht der Musikeinsatz im Rahmen der neusprachlichen Reformbewegung (Kapitel II). Die umfangreiche Auseinandersetzung über den Einsatz französischer Lieder – sei es in Form von französischen Kontrafakturen bekannter deutscher Melodien oder original französischer Melodien – bildet den Abschluss dieser Arbeit (Kapitel III).
Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist ein dreifaches:110 Zunächst soll untersucht werden, wann, wo, zu welchen Anlässen sowie in welchen Unterrichtssituationen Musik eingesetzt worden ist. Zum zweiten beschäftigt sich die vorliegende Monographie mit der Art des Musikeinsatzes im Französischunterricht, d. h. den methodischen Funktionen: Welche Lieder wurden ausgewählt und warum? Wurden diese neu geschaffen oder adaptiert? Welche spezifische musikalische Formen wurden angewendet? Schließlich widmet sich die Arbeit der Frage, wie verschiedene Musikformen eingesetzt wurden, als Lückenfüller am Ende der Stunde oder als tragendes didaktisches Konzept? Welche personale Faktoren (Ausprägung der Lehrer- und Schülerschaft) sowie sachbezogene Faktoren (Lernziele, Inhalte, Unterrichtsmethoden und Medien) haben den Musikeinsatz gefördert und geformt? Welche Sozialformen und methodische Funktionen wurden durch Musik übernommen? Neben diesen internen Determinanten stellt sich auch die Frage nach externen Einflussfaktoren, die oft stärker sozialgeschichtlich geprägt sind (wie das Selbstbild schulischer Institutionen oder soziale Funktionen des Sprachenlernens): In welchem Bezug stand dabei der Musikeinsatz zu den Schülern und deren Alter? Wie sah der institutionelle Kontext aus: Wurden Lieder schulisch und außerschulisch eingesetzt? In welchen Schulstufen und -formen? Von welchen Lehrenden für welche Lernenden wurden welche Lieder verwendet? Gab es geschlechtsspezifische Unterschiede beim Liedeinsatz und wie spiegelt sich das in den Lehrwerken für Mädchen- bzw. Knabenschulen (z. B. Mittlere Mädchen- bzw. Knabenschulen) oder am Schultyp (Realschule, Oberrealschule, Realgymnasium, Gymnasium) wider? Sollte der Lehrende selbst musikalisch sein, singen können und ein Instrument spielen, um Lieder im Unterricht einzusetzen? Wie manifestieren sich kulturgeschichtliche Einflüsse (d. h. dem historischen Wandel unterworfene Erziehungs-, Lern-, Sprach- und Kulturkonzepte)?
Nach einem Aphorismus des deutschen Philosophen Odo Marquart „Zukunft braucht Herkunft”111 speist sich ein tiefgründiges Verständnis der Gegenwart, also des modernen Französischunterrichts, aus einer profunden Kenntnis und Analyse der historischen Zusammenhänge in ihrer diachronen Evolution. Deshalb soll abschließend mit der vorliegenden Arbeit auch gezeigt werden, dass heute gängige, verbreitete Konzepte und Unterrichtsformen beim Einsatz von Musik im Französischunterricht keinesfalls Produkte des 21. Jahrhunderts sind, sondern sich bereits in Ansätzen in der über 500-jährigen Geschichte des Fremdsprachenunterrichts manifestieren.112