Читать книгу Mobile - Andreas Richter - Страница 11
Dienstag, 11. Juni
ОглавлениеIhre Gattin ist am Apparat«, sagte die Frau aus der Telefonzentrale.
Joachim bedankte sich knapp und bat, Carola zu ihm durchzustellen.
Carola ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen, sondern legte sofort los: »Ich hab langsam wirklich keinen Bock mehr, dieses Kind macht mich noch ganz irre!«
Sie sprach laut, schrie beinahe, war offensichtlich mit den Nerven am Ende. Joachim brauchte nicht hellzusehen, um zu wissen, was kommen würde.
»Das Übliche nehme ich an, oder?«
Ihre Stimme war nun kraftlos, als sie sagte: »Ich weiß wirklich nicht mehr weiter, ich bin völlig am Ende. Er war den ganzen Vormittag ganz ruhig und ausgeglichen. Wir waren vorhin in Ruhe einkaufen und haben kurz bei meinen Eltern reingeschaut – alles wunderbar. Und was passiert nach dem Mittagessen? Ich habe ihn ins Bett gesteckt, er schläft gut und schnell ein, aber keine fünfzehn Minuten später fängt er wieder zu brüllen an, als wären Zombies hinter ihm her.«
»Er wird sich seinen Schlaf schon noch holen«, versuchte Joachim Carola zu beruhigen und wusste im gleichen Augenblick, dass er etwas ziemlich Dämliches gesagt hatte. Nun konnte auch er Daniel im Hintergrund brüllen hören.
»Er wird sich seinen Schlaf schon holen«, äffte Carola. Dann schrie sie: »Ich werde hier langsam irre! Niklas wird irre! Das hier ist ... ein Irrenhaus, und der Oberirre schreit und schreit und ... .«
Nun brachen die Tränen aus Carola heraus. Joachim wartete, bis sie sich wieder halbwegs gefangen hatte, dann sagte er mit ruhiger Stimme: »Pass auf, ich habe heute nichts mehr auf dem Schreibtisch, was nicht bis morgen liegen bleiben könnte. In ein paar Minuten setze ich mich ins Auto und komme nach Hause. Dann nehme ich dir die kleine Nervensäge für den Rest des Tages ab, einverstanden? Und du machst irgendwas Schönes, auf das du Lust hast.«
Unwirsch entgegnete Caro: »Nein, du machst deinen Kram, ich mach meinen. Du hast bestimmt genügend anderes zu tun, als deiner offensichtlich überforderten Frau unter die Arme zu greifen.«
»Oh, ich greife dir für mein Leben gern unter die Arme, und zwar am liebsten von hinten und wenn wir ungestört sind.«
»Spar' dir deine müden Witzchen, ,die sind nicht die Spur lustig.«
»War ja nur ein Versuch, dich aufzuheitern.«
»Schwacher Versuch, eine glatte Sechs.«
»Okay. Was ist nun? Soll ich nach Hause kommen und dir Daniel abnehmen?«
Daniels Brüllen wurde immer lauter, zorniger. Ängstlicher.«
»Geht das wirklich?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Aber klar. In einer halben Stunde bin ich da.«
*
Mit dem Fuß stieß Joachim die Wohnungstür zu. Im Flur kam ihm Niklas entgegen. Der Junge war schmal, und sein Körper ließ noch nicht erkennen, ob er später groß und kräftig oder eher drahtig sein würde. Er hielt seine Inlineskates, trug den Helm auf dem Kopf und sagte: »Hallo und Ciao, ich hau ab!«
Lässig streckte er seinem Vater die Hand entgegen und Joachim klatschte auf die Handfläche seines Sohnes.
»Wo geht's hin?«
»Runter in den Hof. Skaten mit Malte. Wir bauen 'ne Schanze. Wird krass.«
Joachim gab Niklas einen Klaps auf den Helm. »Zieh Leine! Und pass auf! Welche Rückkehrzeit wurde angesagt?«
»Fünf Uhr«, sagte Niklas und verdrehte die Augen.
»Tja, wenn die Chefin fünf Uhr sagt, kann man nichts machen.«
»Erlaubst du eine Stunde länger?«
»Bin ich denn verrückt? Deine Mutter zerfetzt mich!«
»Na super«, murmelte Niklas und verließ die Wohnung. Die Tür fiel laut ins Schloss.
Joachim zog sein Jackett aus und hängte es an die Garderobe. Den schmalen Aktenkoffer ließ er achtlos auf dem Fußboden stehen.
»Caro?«, rief er.
»In der Küche«, antwortete sie.
Er ging zu ihr. Sie sah müde aus, erschöpft. Er gab ihr einen Kuss.
»Es ist ruhig hier«, sagte er. »Paradiesisch.«
»Er schläft seit etwa zehn Minuten. Ist das nicht ein guter Anlass, um eine Flasche Prosecco aufzumachen? Gleich nachdem er eingeschlafen ist, habe ich noch versucht, dich auf dem Handy zu erreichen, aber es war nicht eingeschaltet. Ich wollte dir sagen, dass du nicht kommen musst, wenn du nicht wirklich willst. Ich habe vorhin überreagiert, es tut mir leid, dass ich dich von der Arbeit abhalte.«
Joachim drückte sie liebevoll an sich. »Ich habe ja nun mehr als einmal erlebt, wie sich diese Minuten abspielen, Caro. Ich muss mich nicht sonderlich anstrengen, um mir vorzustellen, was hier los war. Mach dir meinetwegen keine Gedanken!« Dann gab er ihr einen weiteren Kuss auf die Stirn und sagte: »Ich guck mal kurz bei ihm rein.«
»Er schläft bei uns im Schlafzimmer. Ich wusste vorhin nicht mehr weiter. Da habe ich mich mit ihm auf unser Bett gepackt und leise auf ihn eingeredet. Innerhalb kürzester Zeit war er eingeschlafen.«
Joachim ging zum Schlafzimmer. Er öffnete die Zimmertür einen Spalt und sah Daniel in der Mitte des Ehebettes auf dem Rücken liegen. Die Gesichtszüge des kleinen Jungen waren entspannt. Er schlief tief und fest. Einen Augenblick lang verharrte Joachim und betrachtete seinen Sohn, dann zog er leise die Tür wieder zu.
»Und?« Carola stand einen Schritt hinter ihm, hatte jedoch keinen Blick auf das schlafende Kind geworfen.
»Schläft, als könnte er kein Wässerchen trüben.«
»Und was ist mit deinem Angebot?«
»Mit welchem Angebot?«
»Mit dem Angebot, dass ich mir heute eine Auszeit gönnen soll.«
»Oh ... – das steht natürlich.«
»Prima«, sagte sie und lächelte keck, »dann geh ich jetzt mal ganz gepflegt weg.«
»Was hast du vor?«
»Shopping. Läuft auf Schuhkauf hinaus.«
»Noch ein weiteres Paar?«
»Es geht nicht um die Schuhe. Was zählt, ist die therapeutische Maßnahme.«
»Ah, verstehe.«
»Daniel muss um fünf Uhr sein Gläschen Essen bekommen. Es steht neben der Spüle.«
»Das weiß ich doch alles.«
»Sollte ich noch nicht zurück sein, wenn Niklas nach Hause kommt, dann frage ihn bitte, ob er Hunger hat, und …«
»Ich habe die Dinge hier im Griff«, unterbrach er. »Unsere Jungs und ich werden nachher eine Kiste Bier vernichten und einen Porno gucken - du kannst dir also Zeit lassen, du würdest bloß stören.«
»Wow, das klingt gut!«
»Das wird gut«, sagte er liebevoll. »Und nun hau ab, na los, mach schon!«
Lächelnd schlüpfte Carola in ihre offenen Schuhe, setzte ihre Sonnenbrille auf und schnappte sich ihre Handtasche, hob die Hand zum Gruß und verließ mit betont aufreizenden Gang die Wohnung.
Drei Stunden später schlief Daniel noch immer. Es schien tatsächlich so, als ob er einiges an verlorenem Schlaf nachzuholen hätte. Joachim warf noch einen Blick auf seinen Sohn, dann lehnte er die Schlafzimmertür an und ging ins Badezimmer. Dort nahm er die Wäsche aus dem Trockner und ließ sie in den Wäschekorb fallen, legte sie dann, nach Zimmern und Schränken geordnet, in kleinen Stapeln zusammen. Er brachte Niklas’ Kleidungsstücke in dessen Zimmer und verstaute sie in den entsprechenden Fächern und Schubladen. Dann schnappte er sich Daniels Sachen.
Als Joachim Daniels Zimmer betrat, sah er, dass das kleine Bett nicht gemacht war. Er verstaute die Wäsche in dem bunten Schrank, ging zum Kinderbett, strich das Fell glatt und stellte die beiden umgekippten Stofftiere, einen Teddybären, den seine Mutter Daniel geschenkt hatte, und einen Elefanten, ein Geschenk seiner Schwägerin, wieder auf. Er schüttelte das Kissen, das Daniel als Bettdecke diente, kräftig aus. Dabei stieß er versehentlich gegen das Mobile. Erschrocken fuhr er zusammen und sah an die Zimmerdecke. Die Holzfiguren tanzten wild hin und her, und die Holzkugel kreiste in bizarren Bewegungen eine Handbreit über seinem Kopf. Joachim griff nach dem Mobile und bekam eine der hüpfenden Figuren zu packen, mit der anderen Hand beruhigte er den Tanz der Holzkugel. Die Figuren sprangen noch immer irrwitzig auf und ab, so dass Joachim jede Holzfigur kurz festhielt, bis die unkontrollierten Bewegungen der Holzfiguren sich allmählich auspendelten. Die letzte Figur hielt er länger fest. Er drehte sie zwischen den Fingern und betrachtete sie. Die ovalen Kugeln, die den Körper bildeten, waren rot-weiß gestreift. Die schwarze Farbe auf dem kleinen, runden Kopf war kräftig und zeigte deutlich den vollen Schopf, den Mund, die Nase und ein Auge.
Ein Auge?
Joachim stutzte. Tatsächlich. Diese Holzfigur hatte nur ein Auge, nur das rechte. Den dünnen Pinselstrich für das linke Auge hatte man vergessen.
Joachim ließ die Figur vorsichtig los. Einen Moment lang sah er den Holzfiguren bei ihrem leichten Tanz zu, dann verließ er das Zimmer.
*
Der Mann hatte die Gewissheit, dass er in weniger als dreißig Minuten sterben würde. Wie kaum anders zu erwarten, hatte der Gouverneur von Texas das letzte Gnadengesuch des Pflichtverteidigers abgelehnt.
»Nun ist es also soweit«, sagte der hünenhafte Farbige mit fester Stimme. Er saß auf der Pritsche in einer Einzelzelle, die während der vergangenen elf Jahre sein Zuhause gewesen war. Obwohl in seinen Augen ein Tränenfilm stand, wirkte er gelassen und vollkommen in sich ruhend.
»Ich habe keine Angst, Reverend Father. Ich habe während der vergangenen Jahre stets alleine gebetet, und das möchte ich bis zuletzt tun. Bitte sprechen Sie das Vaterunser, wenn es soweit ist.«
Der Geistliche nickte gütig.
»Gott, der Herr, ist der einzig wahre Richter, nur sein Urteil entscheidet. Gott kennt die Wahrheit und daher weiß ich, dass das Urteil über mich gut ausfällt. Das Tor zu Gottes Himmelreich steht für mich weit geöffnet.«
»Du bist stark, mein Sohn.«
»Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem soll ich mich fürchten?«
»Psalm 27. Amen.«
»Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Schaue nicht ängstlich umher, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ja, ich helfe dir.«
»Jesaja 41,10. Amen.«
»Es ist meine Lieblingsstelle in der Bibel, Reverend Father. Dieser Psalm wird mein einziger Gedanke sein, wenn der Strom durch meinen Körper gejagt wird.«
Nun nahm er die abgestoßene Bibel in die Hand, das einzige Buch, das sich seit all den Jahren in seiner Zelle befand, und sagte: »Wissen Sie, Revend Father, als ich damals hierher kam, war mein Glaube schwach. Ich habe gebetet, wenn ich Angst oder Ziele hatte, aber echter Glaube ist mehr als sich bloß dann bittend an Gott zu wenden, wenn man aus egoistischen Motiven heraus etwas von ihm einfordert. Kurz nach meiner Verurteilung hat der Vater des Mädchens mir diese Bibel geschickt. Es ist eine von jenen Exemplaren, die von christlichen Vereinigungen in Hotels und Krankenhäusern und woanders ausgelegt werden, um die Heilige Schrift kostenlos zu verbreiten. Er hat etwas reingeschrieben, hier, lesen Sie selbst, es steht gleich vorne.«
Der Geistliche nahm die Bibel und schlug sie auf. In leserlicher Handschrift stand dort: Ich werde dir niemals verzeihen können. Dennoch wünsche ich dir nicht die Dunkelheit, sondern das Licht. Für dich ist es wichtiger, dass Gott dir vergibt als dass ich dir verzeihe. Finde deinen Frieden. F.W.
Der Geistliche reichte die Bibel zurück und sagte: »Ein starker Mann. Es dürfte ihn viel Kraft gekostet haben, dir diese Zeilen zu schreiben.«
»F.W. stellt Gottes Gnade über seinen eigenen Hass. Er glaubt, dass ich seine Tochter umgebracht habe und verschwinden ließ, alle glauben das oder wollen es glauben, und der ganze Prozess war von Anfang an so angelegt, dass am Ende mein schwarzer Kopf rollt. Vielleicht hat F.W. Befriedigung verspürt, als das Urteil gesprochen wurde, vielleicht sogar Freude. Vielleicht wird er heute unter den Augenzeugen sitzen und es als gerecht empfinden, dass der Strom meinen Körper zerreißt. Aber die Widmung in der Bibel zeigt, dass er dennoch ein Mensch der Hoffnung ist. Ich wünschte mir, ich könnte ihm sagen, dass ich große Achtung vor ihm habe.«
»Ich werde es ihm bestellen, sofern du es möchtest, mein Sohn.«
»Dafür wäre ich Ihnen vom ganzem Herzen dankbar, Reverend Father.«
Der Geistliche nickte knapp.
Der Verurteilte küsste die Heilige Schrift und sagte leise: »Gott, der Herr, weiß, was mit dem kleinen Mädchen passiert ist. Er weiß, wer sie verschwinden ließ und was mit ihr geschehen ist, was ihr angetan wurde. Auch ich werde es bald erfahren, denn im Himmelreich gibt es keine Geheimnisse. Oder, Reverend Father?«
»Nein, die gibt es dort nicht.«
Der Verurteilte lächelte selig, seine Augen leuchteten. »Bitte lassen Sie mich nun allein, Reverend Father, ich möchte beten, bis ich abgeholt werde. Vielen Dank für Ihren Besuch, es war schön, noch einmal mit einem Menschen aus der Welt dort draußen zu reden.«
Der Geistliche erhob sich von dem Schemel und sagte: »Der Herr sei mit dir, mein Sohn.«
»Vergessen Sie nachher bloß das Vaterunser nicht.«
»Ganz gewiss nicht, mein Sohn, ganz gewiss nicht.« Mit diesen Worten nickte er dem Wärter zu, der vor der Zellentür stand. Der Wärter schloss auf und der Geistliche verließ die Zelle.
Der Verurteilte, den vor vierzehn Jahren das Gericht für schuldig befunden hatte, die fünfjährige Tochter eines hochangesehenen Arztes entführt und getötet zu haben, streckte sich auf der Pritsche aus. Er starrte an die Decke. Die Leiche des Mädchens war nie gefunden worden. Man hatte ihn verurteilt anhand dubioser Zeugenaussagen, falscher Meineide und der unterstellten Motivation, sich an dem Vater des Mädchens zu rächen, unter dessen Händen seine junge Ehefrau während einer Routineoperation gestorben war. Doch er hatte es nicht getan. Er hatte nicht mal einen Gedanken an so etwas verschwendet. Jemand anderes hatte das getan. Jemand, den er nicht kannte. Noch nicht. Doch schon bald würde er erfahren, wer es gewesen war.
Gott würde es ihm verraten.
Das war Gott ihm schuldig.