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Samstag, 18. Mai
ОглавлениеDirk Flüchter ballte theatralisch die Faust und stieß sie in die Höhe. Dann rief er: »Auch der zweite Satz geht an den Champ! Meine verehrten Zuhörer, die dreitausend Zuschauer auf den zum Bersten gefüllten Rängen der Squash-Arena von Hannover-Herrenhausen werden sich spätestens jetzt fragen, was bloß mit Netzner los ist. Netzner scheint mir überhaupt nicht vorbereitet, geschweige denn trainiert zu sein, er wirkt unbeweglich und steif. Ganz offensichtlich hat er der spielerischen Genialität und dem Druck seines Kontrahenten nichts entgegenzusetzen.«
Grinsend drückte er Joachim den Schläger gegen den Brustkorb. »Bist wohl nicht im Thema? So hast du dich ja noch nie von mir abschlachten lassen, das kommt ja einer sportlichen Hinrichtung gleich. Was ist los?«
»Nichts«, sagte Joachim und bückte sich nach dem Ball vor seinen Füßen. »Das war nur ein lockeres Warm-Up.«
Drei verlorene Sätze später kapitulierte Joachim und reichte Dirk die Hand. »Nur damit das klar ist: Das war ein einmaliger Ausrutscher, das nächste Mal hole ich dich auf den harten Boden der Realität zurück.«
Dirk lachte kurz auf, dann fragt er: »Gehen wir noch in die Sauna?«
Joachim winkte ab. »Heute nicht. Lass uns nach dem Duschen noch ein schnelles Bier trinken und dann ab nach Hause. Niklas liegt mit 'ner Frühjahrsgrippe auf der Nase und Daniel ist seit einiger Zeit ziemlich anstrengend. Wenn ich schon mal ein arbeitsfreies Wochenende habe, möchte ich Caro die beiden Quälgeister nicht den ganzen späten Nachmittag allein zumuten.«
Eine gute Viertelstunde später stellte die attraktive Kellnerin zwei frisch gezapften Biere auf den Tisch. Als sie zu dem Tresen zurück ging, sahen die beiden Männer ihr mit eindeutigen Blicken hinterher, dann prosteten sie sich zu.
Dirk stellte sein Glas ab, wischte sich mit einer schnellen Bewegung den kleinen Schaumbart vom Mund und sagte: »So, und jetzt mal ein ehrliches und offenes Wort unter alten Sportskameraden: Was ist mit dir los? Du bist unkonzentriert, geradezu abwesend. Vorhin hast du kaum einen Ball erlaufen und nicht mal die Spielstände mitgezählt. Du warst völlig neben der Spur, so kenne ich dich gar nicht.«
Joachim bemühte sich, locker zu wirken: »Es ist wirklich alles okay. Im Moment habe ich viel Arbeit am Hals, eigentlich ist es sogar sehr viel Arbeit. Die Firma steckt gerade in einem ziemlich tiefgehenden Veränderungsprozess, da müssen dringend wesentliche Strukturen verändert werden, was bei fast sechzig Mitarbeitern nicht ganz einfach ist. Bei Change-Projekten gibt es immer Widerstände, das ist normal ..., na ja, ich will dich damit nicht langweilen.« Er lächelte gequält. »Aber ansonsten ist alles im grünen Bereich.«
Dirk sagte ruhig: »Soweit das offizielle Statement. Und nun zur Wahrheit. Wir beide kennen uns lange genug. Warum erzählst du mir nicht einfach, wo der Schuh drückt?«
Einige Sekunden verstrichen, bevor Joachim mehr zu sich selbst sagte: »Zur Zeit ist es wirklich kein Zuckerschlecken.«
»Ärger mit Carola? Habt ihr Probleme? Hakt es bei den Gesprächen oder im Bett?«
»Nein, es ist alles okay zwischen uns. Passt!«
Dirk sah ihn prüfend an.
»Ja, ehrlich – wirklich jetzt!«
»Okay, was ist es dann?«
Nun holte Joachim tief Luft und sagte dann: »Daniel macht uns große Sorgen. Er ist ständig am Quengeln und weint viel, schreit stundenlang. Er schläft schlecht, es gibt seit einiger Zeit keine Nacht mehr, in der er nicht mehrmals wach wird und wie am Spieß schreit. Aber nicht, weil er die Flasche will. Es ist eher so, dass ... ach, ich weiß auch nicht.«
»Was sagt der Kinderarzt?«
»Der erzählt jedes Mal was anderes, der weiß auch nicht weiter. Mal sind es die Zähne, die angeblich kommen, dann ist es ein Wachstumsschub, ein anderes Mal ist was mit den Ohren ... . Was weiß ich, was der schon alles an Überlegungen angestellt hat. Er sieht sich den Jungen an, horcht ihn ab, guckt in den Mund, schaut in die Ohren und schwupps … kommt eine Diagnose.«
»Wechselt den Kinderarzt, wenn er nichts taugt.«
»Der Arzt ist sicher nicht verkehrt. Er hat ja auch schon mehrmals unter Beweis gestellt, dass er kein Quacksalber ist. Nein, es ist so ... wie soll ich sagen? Daniel entwickelt sich körperlich prächtig, nimmt zu, wächst... eigentlich ist alles so, wie es sein soll. Aber irgendetwas mit ihm stimmt nicht. Caro und ich überlegen, ob wir ihn nicht vielleicht mal zum Durchchecken für ein paar Tage in die Kinderklinik bringen sollten.« Joachim sah Dirk mit kurzem Schulterzucken an. »Ich weiß, das klingt nicht sonderlich aufschlussreich.«
»Finde ich auch. Dass Babys weinen und mitunter schlecht schlafen, ist doch nun wirklich nichts Ungewöhnliches.«
»Es geht nicht darum, dass Daniel keine Nacht durchschläft. Es geht auch nicht darum, dass wir immer wieder zu ihm rein müssen, um ihn zu beruhigen, oder dass wir ihn häufig zu uns ins Bett holen. Es geht um die Art seiner Unruhe, um das Wie, versteht du? Wie er wimmert, wie er schreit, wie er weint. Wenn er schreit und weint, dann klingt das richtiggehend ... panisch. Wenn ein Baby schreit, nimmt man es auf den Arm, und dann wird es irgendwann besser. Aber Daniel …, wenn er schreit, weint, dann wirkt er völlig durcheinander. Aufgelöst. Wenn wir ihn dann auf den Arm nehmen, windet er sich wie bei einem Krampf, der den ganzen Körper befallen hat, er zittert schlimm. Es ist, als habe er eine fürchterliche Angst vor irgendetwas.«
Dirk spürte, dass Joachim jetzt etwas Beruhigendes von ihm hören wollte, und er bemühte sich, ihm den Gefallen zu tun: »Ich kann mir nicht vorstellen, was mit dem Kleinen nicht stimmen sollte. Aber vielleicht solltet ihr euch wirklich um einen Termin in der Kinderklinik bemühen. Nur zur Vorsicht, meine ich, damit auch wirklich alles ausgeschlossen werden kann. Die sollen mal all die Untersuchungen durchführen, die ein Kinderarzt in seiner Praxis gar nicht machen kann, weil ihm die Geräte dazu fehlen. So etwas ziehen die im Krankenhaus an einem Tag durch, da werdet ihr Daniel nicht mal stationär dort lassen müssen. Ich bin mir sicher, mit eurem Sohn ist alles in bester Ordnung.«
»Das hoffe ich auch«, sagte Joachim leise, »aber ehrlich gesagt bin ich mir da gar nicht mehr so sicher.«