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Dienstag, 09. April
ОглавлениеIrgendjemand stand draußen vor dem Pub und rüttelte kräftig am Türknauf. Dann wurde einige Male heftig geklopft und schließlich der Tür ein kräftiger Tritt verpasst, begleitet von einigen wütenden Worten. Wer auch immer draußen vor dem The Ghost Of Lady Luck stand, hatte ganz offenbar kein Verständnis dafür, dass die Tür verschlossen war. Wie auch? Schließlich hatte das Lucky, wie die Stammkunden Bruce’ gemütlich eingerichteten Pub am Ipswicher Holywells Park nannten, täglich geöffnet, es war also ungewöhnlich, dass die Tür verschlossen war und sogar die Jalousien heruntergelassen waren.
Bruce, ein kahlköpfiger Hüne mit tätowierten Unterarmen und gutgläubigem Gesicht, stand hinter dem Tresen und schrieb in großen Buchstaben Heute leider geschlossen auf einen Bogen Papier. Einen Moment lang betrachtete er trübsinnig seine eigene Handschrift. Dann gab er sich einen Ruck, kam hinter dem Tresen hervor, entriegelte die Tür und zog sie auf, um den Zettel außen anzubringen. Er war gerade dabei, den letzten Klebestreifen an die Tür zu kleben, als ihn jemand ansprach: »Was ist denn los, Bruce?«
Bruce erschrak leicht, dann blickte er sich um und sah Charly. Charly war ein treuer Gast mit Stammplatz am Tresen, seit Jahren bereits kam er Abend für Abend nach der Arbeit her und trank zwei Pint Bier.
»Ich kann heute leider nicht öffnen, Charly. Unsere Kleine ist krank. Sie hat hohes Fieber und meine Frau kommt erst morgen wieder zurück, sie ist zu Besuch bei ihrer Mutter in Ashford. Ich habe niemanden, der sich um die Kleine kümmern kann, deshalb muss der Laden heute geschlossen bleiben.«
»Das mit deiner Tochter tut mir leid«, entgegnete Charly. Man sah ihm an, dass er es nicht bloß sagte, sondern tatsächlich so meinte.
»Morgen wieder, Charly, okay? Das erste Bier geht dann auf mich, alter Kumpel, weil ich dich heute abgewimmelt habe.« Bruce bemühte sich zu lächeln, doch es blieb beim gequälten Versuch.
Charly schüttelte den Kopf. »Das mit dem Bier ist nett, aber nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass es deinem Mädchen bald wieder besser geht. Wie alt ist sie jetzt?«
»Fünf. Nächsten Monat wird sie Sechs.«
»Bestelle ihr bitte einen Gruß von mir. Unbekannterweise. Bis dann, Bruce!«
Mit diesen Worten drehte Charly sich um und ging mit hängenden Schultern in die Richtung davon, in der irgendwo sein Zuhause liegen musste. Bruce sah ihm noch einen Augenblick lang nachdenklich hinterher. Er mochte Charly, diesen stillen und irgendwie immer leicht traurig wirkenden Mann, der nie ausfallend oder laut wurde. Obwohl Bruce Charly bereits seit einigen Jahren kannte, wusste er kaum mehr über ihn, als dass er in der Stadtverwaltung arbeitete, verheiratet und kinderlos war und ihn keine Sportart sonderlich interessierte.
Mit einem Mal bekam Bruce ein schlechtes Gewissen. Er hatte Charly belogen. Doch Menschen wie Charly belog man nicht, herzensgute Menschen, für die das Leben nichts Aufregendes vorsah und erst recht keine Wunder bereithielt. Allerdings hatte er auch gar keine andere Wahl gehabt, als Charly zu belügen. Sicher, er hätte es sich verkneifen können, seine Frau für abwesend zu erklären, ebenso hätte er nicht erzählen müssen, dass seine Tochter krank sei. Doch was sollte es jetzt noch, er hatte es nun mal gesagt und Schluss.
Bruce drückte entschlossen den vierten Klebestreifen an die Tür, dann verriegelte er sie von innen. Nein, sagte er sich, heute konnte er das Lucky beim besten Willen nicht öffnen und mit seinen Gästen plaudern und lachen und über die Mannschaft vom Ipswich Town FC schimpfen als sei nichts geschehen. Heute musste er alleine sein. Nachdenken. So konnte es nicht weitergehen. Die ständige Sorge musste endlich ein Ende haben. Was, wenn es seine Tochter erwischt hätte und nicht die Kleine der Cashmans? Wer oder was garantierte ihm denn, dass nicht irgendwann seine Tochter dran sein würde? Und selbst wenn der Kelch an ihr vorüber ging, musste was unternommen werden. Nur ... was?
Bruce stieß einen tiefen Seufzer aus.
*
Joachim legte Hammer, Nagel und das Holzkästchen auf den Wickeltisch. Er rückte das Bett von der Wand ab, stellte sich auf den Tritt und schlug den Nagel in die Zimmerdecke ein. Anschließend kippte er den Inhalt der kleinen Holzkiste auf den Wickeltisch. Gedankenverloren drehte er die Holzkugel in seiner Hand hin und her, bis er schließlich die Holzstäbe, an denen die sechs bunten Holzfiguren baumelten, willkürlich in die kleinen Löcher der Kugel steckte. Langsam hob er das Mobile auf Augenhöhe und betrachtete die kleinen Figuren, die ungeordnet hin und her tanzten. Um sie sich genauer ansehen zu können, nahm er jede einzeln in die Hand.
Die Holzfiguren waren geschlechtslose Menschenfiguren mit kleinen, runden Köpfen. Die Ober- und Unterkörper waren oval und aus einem Stück gearbeitet. Kleinere ovale Kugeln stellten die Arme und Beine dar. Doch damit endeten die Gemeinsamkeiten der Holzfiguren auch schon. Das wirklich Erstaunliche war ihre Individualität, denn jede der Figuren hatte ein sorgfältig mit dünnen Pinselstrichen aufgetragenes Gesicht. Und ganz offensichtlich sollten auch ein paar Figuren durch unterschiedliche Hautfarben und stark voneinander abweichende Gesichtszüge andere Rasse symbolisieren. Bei drei Figuren deuteten dicke Pinselstriche auf volles und kräftiges Haar hin, zweien hatte man einen spärlichen Schopf gemalt, und eine Figur hatte man sogar glatzköpfig gelassen. Außerdem unterschieden sich die Figuren in ihrer aufgemalten Kleidung: Es gab rote, grüne, gelbe und blau-weiße Hosen und verschiedenartige Hemden und Kittel. Und Joachim glaubte sogar zu erkennen, dass die einzelnen Figuren sich fast unmerklich in der Länge unterschieden. Ganz eindeutig war dieses Mobile eine Handarbeit, und zwar eine sehr sorgfältige.
Joachim befestigte das Mobile an der Decke, trat dann zwei Schritte zurück und betrachtete amüsiert die leicht tanzenden Figuren. Schließlich schob er das Bett an seinen angestammten Platz zurück und achtete darauf, dass die vier Beine wieder genau auf den Druckstellen standen, die sie bereits im Teppich hinterlassen hatten.