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Dienstag, 12. März
ОглавлениеJoachim Netzners Mutter war neunundsiebzig Jahre alt - ein Alter, in dem man jederzeit damit rechnen muss, dass es zu Ende geht. Bis zuletzt war sie rüstig gewesen und hatte viel unternommen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass ihr Herz plötzlich zu schlagen aufhören würde. Doch das hatte es, als sie in ihrem kleinen Garten Primeln und Stiefmütterchen für den sich ankündigenden Frühling setzte, und sie war umgefallen wie vom Blitz getroffen.
Seitdem ihr Mann vor neun Jahren einem Krebsleiden erlegen war, hatte sie allein in dem kleinen Reihenhaus am Westrand von Hannover gewohnt, in dem Joachim aufgewachsen war. Joachim war ihr einziges Kind gewesen. Sie hatte die Hoffnung auf ein Kind fast schon aufgegeben, als sie mit Vierzig doch noch schwanger wurde. Ihr Frauenarzt hatte es als Risikoschwangerschaft bewertet, doch alles war problemlos verlaufen. Als Jugendlicher waren seine Eltern Joachim oft als zu alt und zu autoritär erschienen. Erst später hatte er ihre eher strenge, aber stets liebevollen Art, die ihm viel Orientierung und Struktur gegeben hatte, schätzen gelernt.
Joachim wollte den Hausstand seiner Mutter so schnell wie möglich auflösen. Während er am Vormittag nach ihrem Tod bei dem Bestattungsunternehmen war, rief seine Frau Carola eine Firma für Wohnungsauflösungen an und vereinbarte einen Termin für den morgigen Mittag. Anschließend rief sie in der Schule an und gab Bescheid, dass ihr Sohn Niklas morgen nicht am Unterricht teilnehmen würde. Sie hatte vor, den Zehnjährigen und seinen fünf Monate alten Bruder Daniel gleich früh zu ihren Eltern zu bringen, damit Joachim und sie den Tag über den Rücken frei hatten.
Die Wohnungsauflöser hatten sich für zwölf Uhr angesagt. Joachim und Carola waren bereits seit zwei Stunden in dem Haus. Sie waren gemeinsam durch die verwohnten Räume gegangen und hatten gelbe Klebezettel an die wenigen Dinge geheftet, die sie behalten wollten. Nun hatten sie begonnen, in die Schubladen und Fächer der Schränke zu schauen.
»Ihr Sparbuch«, sagte Carola überrascht, als sie das rote Heftchen aus einem unbeschriebenen Briefumschlag zog. Sie schlug es auf, sah den letzten Eintrag und stieß staunend die Luft aus.
»Zweiundvierzigtausend«, sagte sie. »Joachim, deine Mutter hatte zweiundvierzigtausend Euro auf einem stinknormalen Sparbuch rumliegen. Im Wohnzimmerschrank. Gibt's das denn?«
Er reagierte nicht, sondern blätterte mit schnellen Fingern einen Ablageordner durch.
»Hast du mir zugehört?«, fragte sie nach.
»Ja.«
»Und?«
»Was und?«
»Das ist viel Geld. Wusstest du davon?«
»Nein. Mir war wichtig, dass sie auf ihre alten Tage finanziell zurecht kam – und das kam sie. Wie viel sie zur Seite gelegt hatte, hat mich nie interessiert.«
»Was meinst du: Wir könnten es in die Tilgung stecken, das verschafft uns etwas Luft.«
Er sah sie hitzig an und sagte: »Klasse, die Alte ist endlich tot, her mit der Kohle! Findest du das jetzt passend, Caro?«
Sie musste sich beherrschen, um ihrer Empörung nicht laut Luft zu machen. »Nun mach aber mal einen Punkt! Du weißt ganz genau, wie ich es meine. Du erbst das Geld doch sowieso, ich habe nur meinen Gedanken ausgesprochen, wie wir es verwenden sollten. Das hat mit endlich ist sie tot nicht das Geringste zu tun. Ich bin auch traurig, dass deine Mutter nicht mehr da ist, also schieb mir nichts unter!« Sie knallte die Schublade zu. »Nicht zu fassen!«
Mit fünfunddreißig Jahren war Carola knapp vier Jahre jünger als er. Sie war hoch gewachsen, schmal und hatte schulterlanges rotblondes Haar, das sie heute zu einem achtlosen Zopf gebunden hatte. Ihr Teint war hell und sie hatte gletscherblaue Augen; es gab eine Menge Menschen, die sie anziehend fanden, gerade weil sie nicht den klassischen Attraktivitätsmerkmalen entsprach.
Er legte den Ordner weg, ging zu ihr und nahm sie in den Arm. »Tut mir leid«, sagte er und küsste sie auf die Stirn.
»Mir auch.« Sie drückte ihn fest an sich.
Er sagte: »Ist schon richtig, was du sagst. Wenn wir den Erbschein haben, bekommen die Jungs was auf ihre Sparkonten. Den Rest von dem, was das Finanzamt uns übrig lässt, nehmen wir. Und vielleicht finden wir für den alten Schuppen hier ja noch einen Käufer.«
»Da wird nicht viel bei rumkommen. Man muss eine Menge in das Haus reinstecken, um es auf einen modernen Stand zu bekommen, da lässt sich kein hoher Preis herausholen.«
»Ja, vermutlich hast du Recht.«
Carola löste sich von ihm und sagte: »Lass uns weitermachen. Die Leute von der Entrümpelungsfirma kommen bald, und wir sind noch nicht besonders weit gekommen.«
Sie küssten sich flüchtig, dann sagte Joachim: »Ich gehe nach oben, auf den Dachboden. Da war ich seit ... ich weiß nicht, seit wann nicht mehr gewesen. Mal gucken, was da so alles rumsteht.«
Er ging die schmale Treppe hinauf ins Obergeschoss. Neben dem kleinen Badezimmer war das Schlafzimmer seiner Eltern gewesen, und gleich daneben sein Kinderzimmer. Obgleich er wusste, dass der Raum seit Jahren leer stand, öffnete er die Tür und warf einen Blick hinein. Sofort kehrten die Erinnerungen zurück. Dort hinten, neben dem Fenster, hatte sein Bett gestanden, daneben der Schreibtisch mit dem Klappstuhl, an der Wand gegenüber der Kleiderschrank und das schmale Bücherbord. Es lag lange zurück, eine kleine Ewigkeit. Leichter Wehmut überkam Joachim, als er die Tür wieder zuzog. Vermutlich würde er diesen Raum niemals wieder betreten.
Mit seinen knapp ein Meter neunzig war Joachim groß genug, um die Luke zum Dachboden ohne den dafür vorgesehenen Haken aufzuziehen. Er zog die Treppe aus und stieg auf den knarrenden Stufen nach oben. Muffige und kühle Luft schlug ihm entgegen, der Dachboden war nicht gedämmt. Oben war es eng und dunkel, nur durch ein verschmutztes kleines Fenster fiel etwas Tageslicht. Joachim erinnerte sich, wo der Lichtschalter war, und drückte ihn. Die nackte, vom Balken herabhängende Glühbirne flackerte schwach. Überall hingen Spinnweben, hier und da waren alte, nichtaktive Wespennester. Joachim entdeckte die alte Stehlampe mit dem grün-weißen Lampenschirm, die einst im Wohnzimmer neben dem Fernseher stand. Dahinter, halb verborgen, der gedrechselte Hut- und Kleiderständer aus braunem Bugholz, der die halbe Diele eingenommen hatte und bereits Joachims Großeltern gehört hatte. In der Ecke standen zwei alte Lautsprecher, darauf ein Plattenspieler. Joachim erinnerte sich dunkel daran, dass er einst im Wohnzimmer stand, aber kaum zum Einsatz gekommen war, seine Eltern hatten sich nicht viel aus Musik gemacht. Darüber hinaus war der Dachboden leer - bis auf eine leicht verbeulte Blechkiste, auf der ein abgestoßener Koffer lag.
Joachim ging hin und pustete die Staubschicht vom Koffer, dann klappte er den Deckel auf. Kleine Päckchen aus Briefen, Postkarten und Fotos hatten seine Eltern hier über Jahrzehnte sorgfältig aufbewahrt. Nichts, was Joachim weiter interessierte. Er klappte den Koffer wieder zu und hob ihn von der Blechkiste herunter, stellte ihn auf den Boden.
Auf dem Deckel der Blechkiste klebte eine im Laufe der Jahre brüchig gewordene Klarsichthülle, darin steckte ein karierter DIN-A4-Bogen. In schwarzer Filzfarbe und mit der geschwungenen Handschrift seiner Mutter stand sein Vorname auf dem Papier geschrieben. Joachim wunderte sich. Er hatte die Kiste nie zuvor gesehen. Einen Augenblick lang hockte er unschlüssig davor, dann schob er den kleinen Sicherheitsriegel zur Seite und klappte sie auf. Er war gespannt.
Die Kiste war etwa zur Hälfte gefüllt. Mit Schätzen seiner Kindheit. Ganz obenauf lag ein Buch, eine Art Fotoalbum, jedoch deutlich kleiner. Joachim nahm es heraus und klappte es auf. Poesiealbum von Joachim Netzner. Wer sich trägt in dieses Büchlein ein, mag schreiben lieb und fein!, hatte seine Mutter irgendwann mal in ihrer ordentlichsten Handschrift auf die erste Seite geschrieben. Joachim musste schmunzeln. Er las einige der Gedichte und Reime, die auf den ersten Seiten standen, einige in wackeligen Kinderschriften, andere offensichtlich von Erwachsenen geschrieben. Joachim rechnete die Jahreszahl zurück, die unter den längst vergessenen Namen standen. Grundschule, zweite Klasse. Er legte das Poesiealbum beiseite, um es später mit nach Hause zu nehmen. Dann holte er zwei Plastiktüten hervor, die mit Kleidungsstücken gefüllt waren, die er als Kind getragen hatte. Weshalb seine Mutter sie aufbewahrt hatte, war ihm ein Rätsel. Als Nächstes entdeckte er seinen ersten Sony-Walkman, auf den er so lange gespart hatte. Joachim nickte in Erinnerungen vor sich hin und wog den Walkman in der Hand. Es war kaum zu glauben, dass es gerade mal dreiundzwanzig oder fünfundzwanzig Jahre her war, dass er ihn von Stolz beseelt bei Karstadt in der Innenstadt gekauft hatte, und damals war dieses kassettenabspielende Gerät ein kleines technisches Wunderwerk gewesen, zudem eine Art Statussymbol unter den Jugendlichen. Joachim legte ihn in die Kiste zurück, dann zog er einen Gefrierbeutel heraus. Darin befanden sich fünf bespielte Leerkassetten. Hits of the year hatte er einst auf ein Kassettenetikett geschrieben, welches Jahr auch immer es gewesen war. Best of Journey stand auf einer anderen Kassette. Frankie Goes To Hollywood - Hits. Foreigner: Agent Provocateur. Best of ZZ Top. Joachim schüttelte amüsiert den Kopf und legte den Beutel zurück.
Sein Briefmarkenalbum. Auch daran erinnerte er sich. Er hatte sich eine kurze Zeit lang als Sammler versucht. Wie alt war er damals gewesen? Er überlegte, doch er wusste es nicht mehr. Nun kam ein schmales Päckchen zum Vorschein. Eine bunte Plastiktüte, die mit dünnem Paketband und zusätzlichem Klebeband fest verschnürt worden war. Darauf klebte ein beschriftetes Etikett für Einmachgläser. Finger weg!! Top-Geheim!! Joachim erkannte seine eigene Kinderhandschrift.
Was ist da drin?, fragte er sich. Er war im Begriff, das Päckchen aufzureißen, als er Carola von unten rufen hörte: »Joachim, die Leute von der Wohnungsauflösung sind da! Kommst du bitte runter?«
»Bin sofort unten!«, rief er. Er warf einen abschließenden Blick in die Kiste, doch entdeckte nichts mehr, was ihn sonderlich interessierte. Er schloss die Kiste und schob den Riegel zu, schnappte sich das Poesiealbum und das verschnürte Päckchen und stieg die Treppen hinunter. Als er die Dachluke schließen wollte, rutschte ihm der kleine Griff aus den Fingern und die Luke schloss sich mit einem lauten Knall.
»Alles in Ordnung?«, rief Carola hoch. Sie war schnell ängstlich und geriet häufig wegen Kleinigkeiten in Sorge - eine Eigenschaft, die Joachim gelegentlich nervte.
»Ja, alles okay, nichts passiert«, rief er zurück und ging nach unten.
*
Joachim hob den Umzugskarton aus dem Kofferraum des Kombis. Carola schlug die Tür zu und schloss den Mittelklassewagen ab. Kurz darauf betraten sie das Jugendstiletagenhaus und gingen hoch ins erste Obergeschoss. Carola schloss die Wohnungstür auf und ließ Joachim an sich vorbei. Er ging geradewegs in die Küche, stellte den Karton auf die Arbeitsplatte neben der Spüle und hörte, wie Carola die Wohnungstür zudrückte und ihre Jacke in den Garderobenschrank hängte. Unmittelbar danach kam auch sie in die Küche. Sie trat hinter ihn und legte ihre Arme um seine Hüften.
»Wie geht es dir?«, fragte sie sanft. »Es muss weh tun, hinter einen wichtigen Teil des eigenen Lebens den letzten Haken zu machen.«
»Ja, es schmerzt. Aber es war klar, dass dieser Tag kommen würde. Ich bin dankbar, dass meine Mutter gesund alt werden durfte und dass der Tod sie so erwischt hat, wie wir alle es uns wünschen: Unangekündigt, in einer Sekunde auf die andere, schmerzfrei. Es war das gute Ende eines guten Lebens. Nun noch die Beisetzung Ende nächster Woche und die alte Hütte verscherbeln, und das war es dann.« Er seufzte. »Ein Mensch stirbt, und alles läuft weiter und Erde dreht sich, als sei nichts geschehen. Wie unwichtig jeder von uns im gewaltigen Ganzen ist, niemand ist mehr als bloß ein winziges Stück im gigantischen Puzzle.«
Carola gab ihm einen Kuss auf die Wange und ließ ihn los. Sie sagte: »Heute Abend müssen wir Nicki endlich erzählen, was passiert ist und dass er seine geliebte Oma niemals wiedersehen wird. Davor graut mir.«
Er nickte. Dann sagte er: »Ich weiß, dass es dafür eigentlich zu früh ist, und es ist auch nicht meine Art, aber ich genehmige mir jetzt 'nen Drink.«
»Um vier Uhr Nachmittags?«
»Nur einen. Ich muss runterkommen.«
Carola fasste ihn an den Händen und sagte: »Da habe ich eine viel bessere Idee. Ob es mit runterkommen im wörtlichen Sinn klappt, bleibt jedoch abzuwarten.«
Noch bevor er verstand, zog sie ihn aus der Küche. Als sie das Schlafzimmer ansteuerten, begriff er endlich.
»Caro ... .«
»Sag' jetzt nichts!« Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen. Dann, mit sanfter Stimme: »Wir ziehen uns aus und legen uns ins Bett, nehmen uns in den Arm und lassen alles Weitere auf uns zukommen, okay? Vielleicht halten wir uns nur fest, vielleicht streicheln wir einander, vielleicht schlafen wir miteinander. Lass' uns einfach sehen, was passiert.«
Joachim holte tief Luft, dann nickte er. Er hatte schon weit schlechtere Vorschläge gehört.
*
Irgendwann gewann Joachim den Kampf gegen den Halbschlaf. Er benötigte einen Moment, um sich zu orientieren. Er lag allein im Bett. Der Digitalwecker auf dem Nachttisch zeigte wenige Minuten nach achtzehn Uhr an.
Sie waren ins Bett gegangen und Carola hatte sich an ihn geschmiegt. Er hatte es genossen, ihre Haut auf seiner zu spüren, dieses Gefühl von Geborgenheit und Zusammengehörigkeit. Sie hatte seine Brust gesreichelt und er ihre Schulter, und schweigend hatten beide ihren eigenen Gedanken hinterhergehangen. Später hatte sie ihn befriedigt, und sie hatte es nicht auf schnelles Erledigen angelegt, sondern sich Zeit gelassen, damit es für ihn entspannend war.
Joachim stand auf. Seine Kleidungsstücke, die er auf den Fußboden hatte fallen lassen, waren fort, vermutlich hatte Carola sie zum Waschen mitgenommen. Auf dem Weg zu dem Kleiderschrank blieb er vor dem Wandspiegel stehen. Er betrachtete sich. Müde sah er aus, die braunen Augen waren matt, und er musste sich morgen unbedingt wieder rasieren, der Zweitagebart ließ ihn einige Jahre älter wirken. Was sein Äußeres betraf, war Joachim durchaus eitel. Dass die schwarzen Haare von ersten grauen Strähnen durchzogen waren und bereits ausdünnten, störte ihn weniger, denn schließlich konnte er dagegen nichts unternehmen. Anders verhielt es sich bei seiner Figur. Mit regelmäßigem Sport und maßvollem Essen sorgte er dafür, dass er in Form und schlank blieb.
Joachim nahm Unterwäsche, Sweatshirt und Jeans aus dem Schrank, zog sich an und verließ das Schlafzimmer. Er fand Carola in der Küche.
»Du kommst gerade richtig«, sagte sie und hielt ihm den Mund für einen Kuss hin. Er nahm das Angebot an.
»Frischer Kaffee. Möchtest du auch?«
Er nickte.
Sie nahm zwei Becher aus dem Schrank, schenkte Milch ein und füllte mit Kaffee auf.
»Danke«, murmelte Joachim, nahm einen Becher und setzte sich an den schmalen Tisch. Carola drückte sich ihm gegenüber auf die Arbeitsplatte hoch, trank einen Schluck und sagte: »Ich respektiere selbstverständlich Staatsgeheimnisse, sonst hätte ich es längst aufgemacht.«
Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er ihr nicht folgen konnte.
»Ich war so frei, die Kiste leerzuräumen, die wir vom Haus deiner Mutter mitgenommen haben. Finger weg und Top-Geheim steht auf einem Paket. Hattest du es auf dem Dachboden gefunden?«
»Ach, das ..., ja, auf dem Dachboden. Da stand eine Kiste, meine Mutter hatte alten Kram von mir reingepackt. Ich wusste nicht mal, dass es diese Kiste überhaupt gab.«
Carola zeigte neben die Spüle, wo das Päckchen lag.
»Und was ist da drin?«
»Keine Ahnung, ich weiß es nicht.«
»Wahrscheinlich Spionagegut aus der Zeit des Kalten Krieges, ganz brisantes Material.«
Joachim schmunzelte. Er stand auf, zog die Küchenschublade auf und holte eine Schere heraus. Dann nahm er das Päckchen, setzte er sich wieder und schnitt vorsichtig in die Plastiktüte.
»Es ist zusätzlich in Zeitung eingewickelt«, sagte er. »Von ... warte mal ... vom vierzehnten ... ber ... . Hmm, könnte von September bis Dezember alles sein, über dem Monat ist ein Klebestreifen. Das Jahr ist 1985.«
Er schüttelte das Päckchen vorsichtig. Es klapperte leicht.
»Nun mach endlich auf«, drängte Carola.
Joachim schnitt das Papier mit vielen kurzen Schnitten auf. Eine schmale Kiste aus unbehandeltem Holz kam zum Vorschein, etwa dreißig Zentimeter lang und zehn Zentimeter tief. Er öffnete sie vorsichtig.
»Was ist es?«, fragte Carola und machte einen langen Hals.
»Ich weiß es nicht, keine Ahnung«, antwortete er und blickte auf ein Wirrwarr aus Fäden, dünnen Stäben, sechs kleinen Holzfiguren und einer Holzkugel. Carola rutschte von der Arbeitsplatte und trat an den Tisch. Sie warf einen kurzen Blick auf das Durcheinander und griff dann nach der Holzkugel.
»Ein Mobile«, sagte sie verwundert. »Kann es sein, dass es ein Mobile ist?«
Joachim lehnte sich zurück. Angestrengt dachte er nach.
»Hattest du früher ein Mobile aus Holz über deinem Kinderbett hängen?«
Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Oh nein, das glaube ich einfach nicht …!«
»Was denn? Erzähl!«
»Die Geschichte hatte ich längst vergessen.«
Carola zog sich den zweiten Stuhl heran und setzte sich. »Nun spann mich nicht länger auf die Folter.«
Joachim schmunzelte und sagte geheimnisvoll: »Tut mir leid, aber das darf ich nicht erzählen. Wirklich nicht!«
»Weshalb denn das nicht?«
»Weil ich ein Versprechen brechen würde.«
»Ein Versprechen? Aus dem Jahre 1985?«
Er nickte.
»Das ist längst verjährt, es sind bald dreißig Jahre vergangen.«
Joachim wiegte den Kopf, tat so, als sei er schwer hin- und hergerissen. Schließlich sagte er: »Ich denke, du hast Recht. Ja, ich werde es dir wohl erzählen dürfen.«
»Na dann, schieß los!«, sagte Carola, schlug die Beine übereinander und sah ihn erwartungsvoll an.
*
»Joachim?«, rief seine Mutter energisch durchs Haus. »Joachim, hörst du? Der Michael ist da. Kommst du bitte runter?«
»Ja, komme gleich!«
Joachims Mutter wandte sich kurz Michael zu, der ein enges T-Shirt und Shorts trug. Seine Füße steckten in Socken und Sandalen.
»Wie geht es der Mama?«, fragte sie und fuhr fort, die Herdplatten zu schrubben.
»Gut.«
»Dem Papa auch?«
»Ja.« Michael sah verstohlen zur Treppe und fragte sich, wo Joachim so lange blieb.
»Und deinem Bruder? Geht es dem Ulrich auch gut?«
»Ja.«
»Das höre ich gern«, sagte Joachims Mutter und warf einen letzten kritischen Blick auf den Herd. »Was wollt ihr denn machen, der Joachim und du?«
»Mal gucken.«
»Das Wetter ist herrlich.«
»Ja.«
Endlich erschien Joachim. Michael atmete erleichtert auf. Auch Joachim trug kurze sommerliche Kleidung. Anders als der schlanke Michael hatte er ein rundes Gesicht und war leicht untersetzt.
»Nun geht schon endlich raus, ihr zwei Verrückten«, sagte Joachims Mutter lächelnd.
Die beiden Jungen verließen das Haus.
»Fahrrad?«, fragte Michael.
»Klar.«
»Meins ist schwarz mit weißen Füßen und heißt Donner.«
»Pferde haben keine Füße, du Spasti, sondern Hufe.«
»Weiß ich, hatte nur nicht dran gedacht. Meins heißt trotzdem Donner.«
Joachim zuckte lässig die Schultern. »Mir egal! Meins heißt Dynamit und ist schneeweiß, mit einer langer Mähne. Die Weißen sind immer schneller.«
»Die Weißen sind alle kastriert.«
»Was sind die?«
»Du weißt schon: Die können nicht mehr ficki-ficki.« Er grinste breit.
»Ach das, klar«, beeilte Joachim sich zu sagen. Dann, um das Thema zu wechseln: »Brauchen wir Proviant?«
»Nö. Meine Mutter hat mir für uns zwei Mark für Eis oder so mitgegeben.«
»Perfekt!«
Sie schwangen sich auf ihre Fahrräder und radelten mit hohem Tempo los. Joachim hatte erst kürzlich einige Spielkarten eines Rennwagen-Quartetts zwischen den Speichen von Vorder- und Hinterrad festgesteckt, und je kräftiger er in die Pedale trat, desto lauter und schneller knatterten sie wie ein Maschinengewehr. Das war cool, dennoch beneidete er Michael um die Radlaufglocke am Fahrrad, die einen penetranten und lauten Dauerton erzeugte, sobald beim schnellen Fahren der Bowdenzug betätigt wurde, doch Joachim wusste nur zu genau, dass er seinen Eltern mit einer Sturmklingel gar nicht erst zu kommen brauchte - keine Chance, dass sie es ihm erlaubten.
Joachim und Michael fuhren halsbrecherisch schnell und scherten sich einen Teufel um andere Verkehrsteilnehmer, vor allem Fußgänger brüllten ihnen immer wieder Mahnungen und Zurechtweisungen hinterher. Ho, Donner, ho! rief Michael immer wieder, Schneller, Dynamit, schneller!, hielt Joachim dagegen, und beide legten sich tief über das Lenkrad, waren in ihren Vorstellungen dicht am Hals ihres Pferdes, das sie im harten Galopp durch die Wildnis trug.
Irgendwann stellten sie fest, dass ihre wilde Radelei sie in einen Stadtteil geführt hatte, den sie nur flüchtig kannten. Sie reduzierten ihr Tempo und spürten erst jetzt, dass ihre Beine vor Anstrengung zitterten und sie schnell atmeten. Gemächlich und mit neugierigen Augen fuhren sie durch die menschenleeren Straßen. Die Gegend war wie ausgestorben.
Plötzlich raunte Michael aufgeregt: »Jo, hast du das da eben gesehen?«
»Was denn?«, fragte Joachim und sah sich so schnell um, dass er fast vom Fahrrad gefallen wäre.
Michael antwortete nicht, sondern ließ das Fahrrad ausrollen und stieg dann ab. Joachim tat es ihm nach.
»Was war denn das eben?«
»Bei dem Laden da hinten war die Tür nur angelehnt«, sagte Michael gedämpft.
»Bei welchem Laden?«
Michael deutete verstohlen in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
»Bei dem Laden, wo Gebraucht dran stand. Ich glaube, die verkaufen alten Kram, der schon mal jemanden gehörte. Hast du es denn nicht gesehen? Da hinten, wo das blaue Auto vor der Tür steht.«
Joachim sah zu dem etwa hundert Meter entfernt stehenden Pritschenwagen hinüber.
»Na und?«
»Du bist vielleicht blöd«, sagte Michael langgezogen und verdrehte die Augen. »Die Tür von dem Laden ist aufgeknackt, da wird gerade eingebrochen.«
»Eingebrochen?«, fragte Joachim mit großen Augen. Vor Staunen blieb sein Mund offen stehen.
»Ja, garantiert. Der Wagen gehört den Einbrechern, und die sind da noch drin. Komm mit!«
»Wohin?«
»Na, zu dem Laden natürlich. Wir gehen hin und gucken mal.«
Joachim wurde stocksteif. »Nein!«, stieß er hervor. »Da geh ich nicht hin, bist du bescheuert?«
»Nun komm schon, du Schisser! Wir gucken doch nur mal ein bisschen.« Mit diesen Worten schob Michael entschlossen sein Fahrrad zurück. Joachim blieb mitten auf der Straße stehen und blickte seinem Freund hinterher. Erst als er sah, dass Michael sein Rad gegen einen Baum lehnte und ihn energisch heranwinkte, setzte auch er sich in Bewegung. Er wollte nicht als Feigling dastehen.
Das Geschäft war ein Ladenlokal und befand sich in einem kleinen, allein stehenden Gebäude, in das so ziemlich jedes Gewerbe hineingepasst hätte - von der Bäckerei bis zum Reisebüro. Ein Blick in die Schaufenster verriet, dass hier Gebrauchtwaren an- und verkauft wurden. Die Tür war tatsächlich angelehnt und, wie es schien, aufgebrochen worden.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Joachim nervös. Sie waren keine fünf Meter vom Ladenlokal entfernt.
»Nix, wir gucken nur«, antwortete Michael gedämpft.
»Hier? Ohne Deckung? Bist du dämlich?« Joachim wurde immer blasser. Er hatte eine Höllenangst.
Michael gab Joachim im Stillen Recht. Sie benötigten einen Schutz. Er sah sich rasch um und entdeckte auf der anderen Straßenseite ein dreitüriges Müllschranksystem, das in einer Waschbetonbox untergebracht war. Ein gutes Versteck. Michael gab Joachim ein Zeichen und verschwand schnellen Schrittes hinter den Müllboxen.
Joachim folgte ihm. »Und was jetzt?«, fragte er leise.
»Wir warten und gucken. Ist doch voll spannend, ein echter Einbruch.«
»Ja, ist echt spannend«, sagte Joachim und versuchte, sein Unbehagen zu verbergen.
Die beiden Jungs verharrten schweigend in ihrer Position. Sie ließen den Wagen und die Eingangstür nicht aus den Augen. Es war etwa eine Minute vergangen, als die Tür plötzlich aufgestoßen wurde und drei Männer mit schnellen Schritten aus dem Geschäft eilten.
Es gelang Joachim gerade noch, einen hellen Aufschrei zu unterdrücken. Einer der Männer kletterte rasch auf die Ladefläche und nahm von den anderen beiden große und prall gefüllte Leinensäcke entgegen. Dann legte er sich auf die Ladefläche und die beiden anderen schwangen sich ins Fahrerhaus. Im hohen Tempo fuhren sie davon.
»Hast du das gesehen?«, flüsterte Michael atemlos.
»Die haben echt am helllichten Tag 'nen Bruch gemacht«, sagte Joachim ungläubig.
»Und wir sind Zeugen, Jo, das ist wie in einem Krimi im Fernsehen. Komm, das gucken wir uns mal von drinnen an!«
»Du willst da rein?«, fragte Joachim erschrocken.
»Logo, klar.«
»Michi, du kannst da nicht einbrechen!«
»Wieso einbrechen? Da ist doch schon längst eingebrochen worden, von den Kerlen eben. Wir gehen doch nur rein. Oder hast du schon mal gehört, dass man in ein Haus, in das gerade eingebrochen wurde, noch mal einbrechen kann?«
»Nein«, gab Joachim zu.
»Na also, siehst du. Und nun komm schon, du Angsthase!«
Das saß. Joachim schluckte. Er gab gerne zu, dass er nicht unbedingt zu den mutigsten Jungen der Welt zählte, aber ein Angsthase war er deshalb noch längst nicht - und das würde ihm auch niemals jemand nachsagen. Und so folgte er, obwohl er sich unwohl fühlte und ihm das alles nicht recht war, Michael langsam durch die weit aufstehende Tür ins Innere des Geschäftes.
So achtlos, wie die Einbrecher beim Parken des Wagens und bei der aufgebrochenen Tür gewesen waren, waren sie auch drinnen zu Werke gegangen. Auf dem Boden lag eine Menge zerbrochenes Porzellan, das aus den Regalen gerissen worden war. Überall lagen umgestoßene Gegenstände herum, viele davon waren kaputt. Die Kasse auf dem Verkaufstresen war gewaltsam geöffnet und leer geräumt worden.
»Das ist ja klasse«, rief Michael begeistert. »Ob wir hier was für uns finden, Jo? Los, lass uns mal gucken, ob für uns etwas dabei ist!«
»Bist du bescheuert?«, stieß Joachim erschrocken aus. »Wir können hier nicht einfach was mitnehmen, das geht nicht. Das ist Diebstahl.«
Michael machte eine abfällige Handbewegung und sagte: »Die anderen haben hier eingebrochen, nicht wir.«
»Dafür gehen wir in den Knast, Michi.«
»Wir sind Kinder, du Idiot, Kinder gehen nicht in den Knast.«
»Aber in die Erziehungsanstalt.«
»Nur, wenn man jemanden getötet hat. So, was ist jetzt? Es ist erlaubt, in einem aufgebrochenen Haus etwas mitzunehmen, wenn man nicht selbst eingebrochen hat, ich kenn mich mit Gesetzen gut aus.«
Joachim glaubte ihm nicht, dennoch nickte er.
Neben einem barocken Stuhl lag ein leerer Rucksack auf dem Boden. Michael hob ihn auf. »Hier können wir ein bisschen was reinpacken. Lass mal gucken … .«
Er sah sich um. Dann nahm er eine kleine Vase aus dem Regal und legte sie behutsam in die Tasche. Joachim sah ihm zu. Michael nahm ein samtbezogenes Kästchen in die Hand und schätzte sein Gewicht. Ohne hineinzusehen, steckte er es in den Rucksack.
Obgleich ihm alles andere als wohl dabei war, hob Joachim einen Bierkrug mit Zinndeckel vom Boden auf und verstaute ihn im Rucksack. Michael steckte ein weiteres Kästchen ein. Es war lang, schmal und aus unbehandeltem Holz, und auch hier hatte er nicht hineingesehen. Als Nächstes nahm er einen Korkenzieher, auf dem der Stoßzahn eines Keilers prangte, dann eine alte Pfeffermühle. Beides stopfte er in den Rucksack.
Plötzlich fuhr Joachim zusammen und hob erschrocken den Kopf.
»Was ist das, Michi? Hörst du das?«
»Was höre ich?«
»Das da draußen.«
Michael sah zur Tür, legte den Kopf schief und lauschte angestrengt. Dann sah er seinen Freund entsetzt an und rief: »Die Bullen kommen!«
»Ich wusste, dass sie uns erwischen«, kreischte Joachim. »Ich wusste es, du bist Schuld!«
»Komm, Jo, los!«, schrie Michael, ergriff den Rucksack und stürmte aus dem Geschäft. Dann rannte auch Joachim los. Die beiden Polizeiwagen stoppten im gleichen Moment vor dem Gebäude, als die beiden Jungen sich auf ihre Räder schwangen. Michael verschenkte eine wertvolle Sekunde, als er versuchte, den Rucksack aufzusetzen, doch er war zu groß für seinen schmalen Rücken und rutschte ihm von der Schulter.
»Mach' endlich!«, brüllte Joachim, der bereits einige Meter entfernt war.
Zwei Polizisten liefen bereits auf Michael zu, aber der Junge schaffte es gerade noch rechtzeitig, den Rucksack über das Lenkrad zu werfen und das Fahrrad mit kräftigen Tritten in Bewegung zu setzen.
»Gib' Gas!«, brüllte er, doch das tat Joachim längst. Sie fuhren so schnell sie konnten, drehten sich nicht um und kümmerten sich nicht im Geringsten darum, in welche Richtung sie fuhren. Nur weg, Hauptsache weg.
Irgendwann wurde Michael langsamer. »Ich kann nicht mehr«, japste er. Sein Herz raste und er rang lautstark nach Luft. »Wo sind die Bullen?«
»Wir sind ihnen entkommen«, sagte Joachim. Auch er war atemlos.
Sie sahen sich um. Von der Polizei war tatsächlich weder etwas zu sehen noch zu hören. Michael stoppte sein Fahrrad, ließ vorsichtig den Rucksack zu Boden gleiten, stieg dann ab und lehnte das Rad gegen einen Gartenzaun. Erschöpft setzte er sich auf den Bürgersteig.
»Was machst du denn jetzt?«, fragte Joachim verwundert.
»Ich brauche 'ne Pause«, keuchte Michael. »Nur kurz. Ich hatte den Rucksack, was glaubst du denn, was der wiegt? Das Ding ist schwer.«
»Aber du kannst doch nicht hier eine Pause machen, spinnst du? Was ist, wenn die Bullen doch noch kommen?«
»Die suchen uns doch gar nicht. Die suchen die anderen, die Einbrecher. Bestimmt machen sie schon die Steckbriefe fertig.«
»Komm, Michi, lass uns weiterfahren. Am besten nach Hause, bitte!«
Michael rappelte sich hoch. »Meinetwegen. Wir fahren zu mir. Meine Eltern sind nicht da. Die sind mit Uli bei irgendwelchen Leuten.«
Joachim nickte erleichtert. Ungeduldig sah er zu, wie Michael die Rucksackgurte enger zog. Dann setzte er sich den Rucksack auf den Rücken und stieg aufs Fahrrad. Im gemäßigten Tempo fuhren sie weiter. Noch wussten sie nicht, wo sie sich befanden, doch schon bald stellten sie fest, dass sie gar nicht so weit von zu Hause entfernt waren, wie sie vermutet hatten.