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4Alpenfloh und Butterstizzi

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Zwei Schwestern machen die Villen des Baron Bianchi zum Sommerziel für Adel und Bürgertum. Ein Stammhalter wird mit blauen Handtüchern gefeiert. Und in einen alten VW passen 45 Koffer.

Sie stehen überall. In Vitrinen entlang der Gänge, auf Tischchen, im Büro. Sie sind auf Bildern zu sehen und auf Kalendern, und jede erzählt eine kleine Geschichte. 722 sind es inzwischen in der herrschaftlichen Wohnung am Viale Miramar in Triest, gleich neben dem alten Bahnhof, und es werden laufend mehr: Mäuse. Aus Stoff und aus Porzellan, Miniaturen aus Keramik und Silber, kitschige und hübsche, die kleinste keine zwei Millimeter groß, die wertvollste ein paar Hundert Euro schwer.

Jeder Mensch sammelt irgendetwas, heißt es. Die Contessa Marie Therese di Rossetti sammelt Mäuse. Seit sie in die Schule ging. Damals kam sie eines Tages mit einer kleinen Schmuckmaus am Revers in die Klasse. Die Lehrerin sprang auf einen Sessel und kreischte: »Tu die Maus da weg.« Die kleine Marie Therese tat sie weg – und beschloss fortan, Mäuse zu sammeln. Selbstbestimmt und ein starker Charakter, das war sie damals schon.

Die Contessa sammelt auch alte Fotos, Briefe, Dokumente. Historika ihrer Familie, der Bianchi. Akribisch und in Kartonboxen geordnet, in einem alten Schrank verwahrt. Mehr als ein Jahrtausend reichen die Belege der adeligen Dynastie aus Mailand zurück. Dass es diesen Schatz an Dokumenten und Aufzeichnungen gibt, ist ein Glück. Ohne ihn und ohne die Erinnerung seiner Besitzerin wäre ein entscheidender Teil der Geschichte Grados verloren. Wäre die Geschichte der Ville Bianchi nicht zu erzählen. Das sind jene fünf Villen, die seit ihrer Errichtung zum Wahrzeichen Grados geworden sind – schon allein deshalb, weil kein Haus malerischer und fotogener am langen Sandstrand liegt als sie. Die Contessa – ihr vollständiger Name ist Marie Therese di Rossetti de Scander geb. Bianchi – ist die Urenkelin des Baron Leonard Bianchi, des Gründers der Pension Ville Bianchi. Ohne ihn wäre die Geschichte des Seebades Grado wohl anders verlaufen.

Die Rossetti hat einen guten Teil ihrer Jugend in den Ville Bianchi verbracht. Mit ihrem Vater Karl, der das Haus jahrzehntelang führte, und ihrer Mutter. Meist verlebte die blutjunge Baronin Bianchi (Contessa wurde sie erst später durch Heirat) herrliche Sommer bei ihren Eltern – und bei ihren beiden Großtanten Louise und Marie-Fernande Bianchi. Die beiden Schwestern waren damals, in den 1950er- und 60er-Jahren, schon hochbetagt, aber in den Villen immer noch bestimmend und höchst aktiv. Sie hatten das Haus von der Jahrhundertwende an geleitet und waren als rührige Chefinnen selbst zu einem Wahrzeichen Grados geworden. »Lo und Mitzi wurden sie genannt, die beiden haben nur für dieses Hotel gelebt«, erzählt die Bianchi-Nachfahrin mit unverhohlener Bewunderung und Liebe über die beiden Schwestern, die das Erbe des Barons Leonard Bianchi zu beispielloser Blüte führten. »Die Prinzessin von Bayern und ihre Schwester, die Großherzogin von Sachsen, haben mit Kindern und Gefolge hier gewohnt. Die Gräfin Fugger war da und die Kattus, die Sektdynastie aus Wien, 20 Jahre lang, die haben immer Hummer bestellt. Der Graf Benz mit Frau und Kindern kam, die Jane Tilden mit Tochter, die Schwarzenbergs, der Kanzler Schuschnigg mit Frau und Sohn, die Tochter vom Stauffenberg …« – Die Contessa kann gar nicht mehr aufhören, in Erinnerungen und in alten Listen zu kramen. Oder in altem, zusammengebundenen Karton zu blättern. Denn die Schwestern Bianchi führten ihre Gästelisten und ihre Notizen teils auf alten zerlegten Waschpulver-Schachteln. Darauf waren dann besondere Wünsche und Eigenheiten der Gäste notiert, auf die man das nächste Mal Rücksicht nehmen wollte. »Der Graf Thun kam 1931 mit Frau, drei Kindern und Nurse, und da hat meine Tante über sie geschrieben: ›Sie kam süß mit Luftbussis, wenn sie was wollte, ohne zu zahlen‹.«

Heute sind die Villen längst in anderen Händen, die Bianchi haben sie vor Jahrzehnten verkauft. Und man merkt der Contessa an, dass sie ein bisschen davon träumt, wie’s gewesen wäre, wenn sie später selbst die Geschicke des Hauses gelenkt hätte – so wie seinerzeit Lo und Mitzi.

Deren Vater, Baron Leonard Bianchi, hat jedenfalls Pflöcke eingeschlagen in Grado. Buchstäblich. Denn dort, wo er seine Villen unmittelbar nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hinsetzte, waren Sumpf und Wasser und ein bisschen Wiese entlang des Strandes. Für den Bau der Villen musste erst Land aufgeschüttet und danach die Fundamente für die fünf Häuser viele Meter tief in den Boden getrieben werden.

Dass die Bianchi eine Hoteliers-Familie wurden, war ihnen nicht in die Wiege gelegt. Dafür aber eine außergewöhnliche Lebensgeschichte. In Mailand lagen die Bianchi mit der Familie der – wie könnte es anders sein! – Neri im Zwist und wurden vor vielen Jahrhunderten an den Comer See vertrieben. Dort brachten die Bianchi einen Erfinder hervor (»Der hat ein Gerät zum Abzapfen von Muttermilch erfunden und ein Barometer«, berichtet die Contessa aus den Familienaufzeichnungen) sowie so manchen Soldaten und Feldherrn. General Friedrich Bianchi zum Beispiel, Sohn des Barometermachers, schlug als Oberbefehlshaber der gegen Neapel anrückenden österreichischen Streitkräfte 1815 das Heer Murats, der als Schwager Napoleons die Königskrone in Neapel verteidigen sollte – für diesen Sieg erhielt der wackere Bianchi den Adelstitel eines Barons. Er lehnte mehrere Güter als Belohnung ab, erhielt dafür einen ordentlichen Batzen Geld und erwarb schließlich das Gut Mogliano Veneto in der heutigen Provinz Treviso, gleich bei Venedig.

Auch Leonard Bianchi, 1846 in Venedig geboren, diente beim Militär: Er besuchte die Marine-Akademie in Fiume und nahm an der Seeschlacht von Helgoland teil. Unter dem damaligen österreichischen »Linienschiffskapitän« Wilhelm von Tegetthoff überlebte der gerade 18-Jährige im deutsch-dänischen Krieg die verlustreiche Seeschlacht, die von Preußen gleichwohl als Sieg betrachtet wurde. Tegetthoff wurde zum Conteradmiral befördert und avancierte in der Schlacht von Lissa zum österreichischen Seehelden. Bianchi quittierte vier Jahre später den Dienst und begab sich auf Reisen. Seine erste Ehe endete tragisch: Seine Frau Louise starb auf der Hochzeitsreise an einer Lungenentzündung. Vier Jahre später, Leonard Bianchi hatte inzwischen das halb verfallene Schloss Rubbia bei Görz gekauft, umfangreich restauriert und sich dort niedergelassen, heiratete er erneut: Josephine Steininger wurde eine Bianchi und brachte in den folgenden Jahren sechs Kinder zur Welt.

»Meine Urgroßmutter hat die feuchte Luft in Rubbia nicht gut vertragen. Sie war immer wieder krank. Der Leonard kannte Grado. Er hat gewusst, dass Kinder und auch Erwachsene, die etwas an der Lunge hatten, nach Besuchen in Grado wie aufgeblüht waren. Also hat er noch einmal einen Ausflug dorthin gemacht und sofort beschlossen, sich hier niederzulassen«, erzählt Marie Therese Rossetti. Grado hatte sich damals tatsächlich schon einen Ruf als Heilstätte erworben, war vom Kaiser zum Kur- und Seebad geadelt worden. Nur was Pensionen und Hotels betrifft, sah es unmittelbar vor der Jahrhundertwende noch dürftig aus. Es gab neben kleineren Häusern gerade einmal die Hotels Post und Fonzari, die den Namen Hotel wirklich verdienten. Also beschloss der Baron: Hier muss eine Pension, ein Hotel her. Villen, deren Zimmer an Besucher vermietet werden. Und zwar fünf Stück, je eine Villa für eines seiner inzwischen fünf Kinder (Sohn Carl war mit nur sechs Jahren gestorben). Der Baugrund war mithilfe der Brüder Marchesini, die zu der Zeit den Bürgermeister stellten und auch sonst in Grado die Fäden zogen, schnell gefunden, erworben und – weil Lagune – aufgeschüttet. Leonard Bianchi hatte die Pläne für die Villen bereits selbst entworfen. Im Jahr 1900 nahm die Baufirma Minussi die Arbeit für die »camere con giardino« auf, die später so beworbenen Zimmer mit Garten. Wobei man sich vergegenwärtigen muss, dass alles Material für die Aufschüttung und den Bau mit Booten über die Kanäle durch sumpfiges Gelände aus Aquileia herangeschafft werden musste. Den Damm, der das Festland mit Grado verbindet, gab es ja noch lange nicht. In unvorstellbaren kaum zwei Jahren Bauzeit entstanden die Villa Spiaggia und die Villa Marina direkt am Strand sowie dahinter die Villen Adria und Onda sowie das Haupthaus Stella Maris. Die Ville Bianchi in der Via ai Bagni 429 bis 433 verfügten 1901, im Jahr ihrer Eröffnung, über 85 Zimmer und zehn Wohnungen mit Küche.


Blick vom Dach der Bianchi-Villen zur Altstadt – heute ist die Fläche dazwischen dicht verbaut, ebenso die Lagune rechts.

Die Villen wurden umgehend ein großer Erfolg: Die Gäste kamen in Scharen, oft mit Köchin, Kammerdiener und Kindermädchen sowie Gepäck für den ganzen Sommer. Und da der Chef des Hauses ein Baron war, mietete sich besonders gerne die aristokratische Welt in den Ville Bianchi ein. Leonard Bianchi war zum Pionier der altösterreichischen Villen in Grado geworden. Einen Ruf als Finanzier und Wohltäter Grados hatte er ohnehin schon: Als am 4. April 1900 mitten in Grado Trinkwasser gefunden wurde, finanzierte der Baron Bianchi den ersten Brunnen. Und auch das erste Hospiz ein Vierteljahrhundert zuvor, ebenso wie das neu errichtete, verdankte Grado dem Geldgeber Bianchi. Zu seinen Ehren wurde später eine Straße in dem Seebad nach ihm benannt. Die Gradeser waren zwar gespalten hinsichtlich Fluch und Segen der neuen Besucherströme sowie der Villen- und Hotelerbauer. Aber Leonard Bianchi hatte einen tadellosen Ruf.

Nur aus der Idee »eine Villa für jedes Kind« wurde dann nichts – die Bianchi-»Kinder« waren zum Zeitpunkt der Entstehung der Bianchi-Villen großteils schon erwachsen. Im Jänner 1912 starb der Baron mit nur 66 Jahren in seinem Schloss in Rubbia überraschend an den Folgen einer Lungen- und Rippenfellentzündung. Die Kinder lebten schon längst ihr eigenes Leben: Ein Sohn wanderte als Ingenieur nach Brasilien aus, einer (der Großvater der Rossetti) ging nach Innsbruck und gründete die Bergrettung, eine Tochter war auswärts verheiratet – blieben nur die Schwestern Louise und Marie, »Lo« und »Mitzi«. Sie führten den Pensionsbetrieb nach der Erkrankung und dem Tod des Vaters zwar weiter, hatten aber wenig Lust, das für immer zu tun – so liest es sich zumindest in den Briefen der Bianchi-Konkurrentin Emma Auchentaller. Die Wiener Unternehmerstochter hatte kurz nach Entstehung der Ville Bianchi die inzwischen renommierte Pension Fortino errichten lassen. In dem von der Friaul-Autorin Christine Casapicola zusammengestellten Buch Briefe aus Grado heißt es in einem Brief Emma Auchentallers vom November 1912: »Bitte sagt Elsa, dass die Ville Bianchi zu verkaufen sind … Baroness Luise sagte mir schon im Sommer, es sei furchtbar anstrengend für sie, sie kam jede Woche aus Rubbia für einen Tag. Nun wollen sie die Villen für 500 000 Kronen verkaufen. Das ist sehr preiswert, sie haben circa 100 Zimmer, liegen sehr schön, sind gut erhalten und möbliert. Haben den besten Ruf.«

Für Marie Therese Rossetti ist das Unfug. Die Schwestern hatten von Beginn an mit dem Vater zusammen den Betrieb geführt. Dass nach seinem Tod Verkaufsgerüchte lanciert wurden, habe auch mit dem Konkurrenzverhältnis im rasant aufblühenden Grado zu tun. »Emma Auchentaller war nicht auf gutem Fuß mit den Tanten. Sie wollte alleine in Grado herrschen.« Louise und Marie übernahmen jedenfalls das Erbe. Sie beteiligten die übrigen Geschwister am Gewinn oder zahlten sie später aus. Der Fortbestand der Bianchi- Villen in Bianchi-Händen war gesichert.

Wie waren die beiden Schwestern? »Die Mitzi war eine große Reiterin. Sie ist dann einmal gestürzt und ein Leben lang gehinkt. Die Tante Lo war fast zwei Meter groß und ist dann buckelig geworden. Viele haben gesagt, sie waren harte Frauen, weil sie so viel durchgestanden haben. Aber sie waren herzensgute Leut’, haben geholfen, wo sie konnten«, weiß die Großnichte aus Erzählungen und aus Eigenem. »Wir Kinder haben natürlich einen großen Respekt vor ihnen gehabt. Obwohl wir die Tante Lo den Alpenfloh und die Tante Mitzi den Butterstizzi, von Butterstriezel, genannt haben.«

Die vier älteren Damen, die wir im vorigen Kapitel im Lesezimmer der Ville Bianchi getroffen haben, haben ein bisschen weniger Respekt: »Die Lo und die Mitzi haben hier alles übernommen und waren sehr tüchtig und sehr sparsam – und vom Typ her die alten Jungfrauen. Sie waren auch nicht besonders hübsch, alle beide, von mondän keine Rede.« Dabei, so erzählt Gräfin Rossetti, habe die Mitzi viele Verehrer gehabt. Nur der Vater habe immer Nein gesagt. Keiner sei ihm gut genug gewesen – wie das damals halt so war. »So blieb die Tante Mitzi einem treu, einem Offizier, in den sie sehr verliebt war …«


Louise Bianchi mit Nichte Leonie vor der Badeanstalt, im Hintergrund die Villen (1910)

Viel durchstehen mussten die beiden Schwestern schon bald nach dem Tod des Vaters und der Übernahme der Villen – die damals, dank dem Boom des Seebades, von Mai bis September ständig ausgebucht waren. 5500 Gäste hatte Grado noch im Jahr 1904 zu verzeichnen, rund 13 500 waren es 1912, mehr als 18 000 im Jahr 1913. Und 1914 zählte Grado allein bis zum Kriegsbeginn Ende Juli bereits 14 200 Gäste. Dann war Schluss mit dem Boom. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, verließen die Gäste, die in den Wochen davor in großer Sorge die sich verdüsternden Nachrichten in den Gazetten verfolgt hatten, Grado fluchtartig. Obwohl Italien bei Ausbruch des Krieges zunächst neutral blieb (weshalb der Kurbetrieb später, wenn auch auf Sparflamme, doch noch weiterging). Italien akzeptierte nämlich die Expansionspläne Österreich- Ungarns auf dem Balkan, forderte als Ausgleich aber die Abtretung der italienischsprachigen Gebiete des südlichen Tirols und einiger Gebiete im Friaul. Erst als Kaiser Franz Joseph kein Entgegenkommen zeigte, trat Italien im Jänner 1915 auf Seiten der Gegner der Donaumonarchie in den Krieg ein – wofür ihm unter anderem das österreichische Küstenland an der oberen Adria in Aussicht gestellt wurde. Das veränderte auch das Leben der Bianchi-Schwestern grundlegend. Louise und Marie wurden Rotkreuzschwestern an der Isonzo-Front. Sie halfen, wo sie helfen konnten, und wurden dafür während des Krieges und danach mit österreichischen Medaillen hochdekoriert. Dabei waren sie mit einem Gedanken immer in Grado: »Von unserem Verbandsplatz in den Julischen Alpen aus konnten wir mit dem Feldstecher nach Grado hinüberblicken und sehen, wenn in der Pension die Fenster offen standen«, hat Louise später einmal erzählt.

Das Seebad wurde im Mai 1915 von Italien besetzt, die Villen wurden requiriert. Als die k. u. k. Armee 1917 kurzzeitig wieder Küstenland-Gebiete zurückeroberte, fuhren auch die Schwestern zwischendurch immer wieder nach Grado, um nach dem Rechten zu sehen – Louise tat das vornehmlich mit dem Rad, von Prosecco im Karst aus, wo sie stationiert war, oder von Görz bis an die Küste, immerhin jeweils rund 50 Kilometer. Auch kaiserlichen Besuch erhielt Grado in dieser stürmischen Zeit: Kaiser Karl und seine Gemahlin Zita statteten dem Seebad im November 1917 eine Visite ab. Dann aber war es bald vorbei mit der österreichischen Zeit in Grado, in den Friedensverhandlungen von St. Germain 1919 wurde das Küstenland endgültig Italien zugesprochen.

Vorbei war es mit den Österreichern aber nur in politischer Hinsicht. Denn sie kamen wieder, und jenen, die in Grado Besitz hatten, wurde dieser nach und nach zurückerstattet. Schon zu Beginn der 1920er-Jahre kehrten auch die Touristen nach Grado zurück: 2500 waren es im Jahr 1921, schon 5000 im Jahr darauf. Auch Louise und Marie Bianchi kamen wieder. Das Familienschloss in Rubbia war im Krieg zerstört worden, die beiden Schwestern hatten ihr Zuhause verloren. Nun wurde das große Eckzimmer im ersten Stock der Villa Stella Maris mit Blick zum Meer ihr endgültiges Zuhause. Nicht mehr, wie vor dem Krieg, nur in der Saison von Mai bis September, sondern das ganze Jahr über. Fast zehn Jahre nach dem Tod des Vaters durften die Baroninnen erleben, wie sich Europa nach dem Jahrhundert-Krieg wieder aufrichtete und wie Grado, wenn auch unter anderer Nationalität, wiedererwachte. Damit zogen auch die Ville Bianchi wieder Gäste an, zumeist Stammkunden aus den Jahren vor dem Krieg. »Viele sind wiedergekommen, die vorher auch schon Gäste waren, vor allem aus Österreich und Bayern«, weiß Frau Rossetti aus den Aufzeichnungen.

In den Villen musste viel renoviert werden. Sie hatten durch Einquartierungen während des Krieges ordentlich Schaden genommen. Möbel waren »verschwunden« und mussten wieder zusammengesucht werden. Manchmal gelang das auch, weil noch der Eigentumszettel der Ville Bianchi darauf klebte und die neuen »Besitzer« die Beutestücke wieder herausrückten. Außerdem erhielt Louise nebst der Lizenz für die Fremdenbeherbergung 1922 auch jene für den Pensions- und Restaurationsbetrieb. Sprich: Die Ville Bianchi wurden in eine Pension mit Küche umgewandelt. Die Köchin hatten die Schwestern praktischerweise gleich aus dem Schloss Rubbia mitgebracht. Es gab fortan Frühstück, Mittag- und Abendessen. Marie und Louise Bianchi, die, stets in Schwarz gekleidet, schnell wieder zum Stadtbild Grados gehörten, die eine leicht hinkend, die andere groß und bucklig, teilten sich die Hoteliersaufgaben. »Die Tante Mitzi, die auch in Oxford studiert hatte, leitete die finanziellen Dinge. Die Louise war mehr für das Praktische zuständig. Sie hat auch in der Versammlung der Gradeser Hoteliers das Wort geführt«, sagt Frau Rossetti. Zu Emma Auchentaller, der Gründerin des Hotels Fortino, hatten die Schwestern zu der Zeit zwangsläufig einen engen Kontakt: »Die Frau vom Josef Maria Auchentaller hat ja in Grado eine Wäscherei aufgemacht für all die Wäsche, die in so einem Hotelbetrieb anfällt. Da haben natürlich auch die Tanten davon profitiert.«

Die zweite Blütezeit Grados und seiner Villen sollte 1936 einen Höhepunkt erreichen, als die Lagunenstraße von Belvedere auf die Insel und die Drehbrücke eröffnet wurden. Mit einem Schlag war die mühsame Anreise der vergangenen Jahrzehnte mit Eisenbahn und Boot Geschichte. Die Blütezeit war drei Jahre später mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aber auch schon wieder vorbei. Im Krieg wurden die Villen neuerlich vom Militär requiriert, zunächst von den Italienern. Es folgte die deutsche Wehrmacht. Als Ende Juni 1944 die ersten Bomben auf Grado fielen, wurden die beiden Villen Adria und Marina getroffen und schwer beschädigt. Nach dem Abzug der Deutschen kamen die Engländer in die Villen und schließlich etwa 70 Flüchtlinge aus dem von Jugoslawien besetzten Istrien.

Aber auch aus dieser tragischen Zeit erstand das Seebad Grado wieder – und die Villen mit ihm. »Die Tante Louise ist Italienerin geworden, sonst hätte sie die Lizenz für die Villen nicht bekommen«, berichtet Frau Rossetti. Die Großtanten machten sich erneut auf den Weg, Möbel, die mit den verschiedenen Villenbesatzern »Füße bekommen« hatten, und Bettwäsche zu suchen – und das meiste wiederzufinden. Nur wenn die Wäsche mit dem Villen-Monogramm vor irgendeinem Gradeser Haus hing, wollten sich Louise und Mitzi nicht mit den Gradesern anlegen.

Und: »Nach dem Krieg kam mein Vater Karl aus Innsbruck herunter«, erzählt Marie Therese di Rossetti. »Mein Großvater hatte ihm gesagt: ›Du musst den Tanten helfen, das wird einmal dir gehören.‹ 1948 kamen wir hierher, mein Papa, meine Schwester und ich. Ein Jahr haben wir zunächst ganz hier gelebt, ich war gerade einmal zwei. Und so haben Alpenfloh und Butterstizzi und mein Vater die Ville Bianchi wiederaufgebaut.«

Das ist der Zeitpunkt, an dem ein weiterer Bianchi-Nachfahre vor den Vorhang muss: Federico Bianchi, genannt »Fri«, Bruder der Marie Therese Rossetti und 1949 in Grado zur Welt gekommen. »Das war ein großes Hallihallo«, erzählt der Baron von seiner Geburt, als könnte er sich daran erinnern. Deren Umstände werden nämlich bis heute weitererzählt. »Mein Vater Karl hatte sieben Schwestern und einen Bruder, der Pfarrer geworden ist. Also war mein Vater der einzige Mann in der Familie, der für Nachwuchs und männliche Bianchi-Nachfolger sorgen konnte. Und die ersten beiden Kinder, die er bekam, waren Mädels, die Marie Therese und die Verena. Aber dann kam endlich ich, ein Bianchi-Bub.« Der Großvater war auch gerade in Grado und ob des Neugeborenen überglücklich. So sehr, dass er Order gab, die beiden auf den Türmen der Villa Spiaggia und der Villa Mare wehenden rot-gelben Bianchi-Fahnen einzuholen und blaue zu hissen. »Es gab aber keine blauen Fahnen. Also wurden zwei große hellblaue Handtücher gefunden und an den Fahnenmasten hochgezogen, um der Stadt Grado zu zeigen: Es ist endlich ein männlicher Bianchi geboren.«

In den folgenden Jahren bedeutete Grado für die Kinder vor allem eines: Urlaub und Spaß. Die Familie zog zunächst wieder nach Rubbia, weil sich das dauerhafte Zusammenleben mit den beiden Tanten doch ein wenig mühsam gestaltete. Man kam nur für die Saison von Mai bis September nach Grado – und die Kinder kamen in den Schulferien. »Da waren wir am Strand und haben viele Blödsinne gemacht«, erzählt Federico Bianchi – ja, mit einem Augenzwinkern sagt er tatsächlich »viele Blödsinne«. Als Kind nannten sie ihn »Osso«, den Knochen. »Weil ich so dünn war. Der einzige Mensch auf Erden, der keinen Schatten warf.« Als Halbwüchsige, mit 15, machten Fri und sein jüngerer Bruder schon auf Papagalli: »Da haben wir in der Liste der Buchungen für die Ville nachgeschaut, wer heute und morgen kommt und ob da Gleichaltrige und Mädchen dabei sind. Und die mussten wir schließlich ein bisschen unterhalten …«. Die Bianchi-Buben waren die Hausherren am Strand. Sie beeindruckten die weiblichen Gäste auch mit ihren Wasserski-Künsten. »Bei der ersten Mole war die Wasserskischule ›Remo und Martin‹ aus Zell am See. In der Früh und am Abend durften wir immer gratis fahren, weil wir ein paar Kunststücke konnten und damit Gäste anlockten«, erinnert sich »Fri« Bianchi an die unbeschwerte Zeit der 1960er-Jahre.

In dieser Zeit wuchs Federico Bianchi aber auch langsam in die Hotel-Führung hinein, half seinem Vater, der die Villen nach und nach renovieren ließ. Duschen am Gang wurden gebaut, Fließwasser in alle Zimmer eingeleitet, die Zimmer wurden zusammengelegt und vergrößert, aus einst mehr als 80 wurden 48. Aber die Zusammenarbeit mit der noch regierenden Tante Mitzi (Tante Lo war schon 1962 gestorben) war »nicht immer leicht«, wie Marie Therese Rossetti erzählt, »mein Vater wollte mehr Modernes hineinbringen in die Villen, da gab es einige Konflikte.« Gleichwohl: Die Villen waren voll. Die Gäste kamen nach wie vor hauptsächlich aus Österreich und aus Deutschland, alte Bekannte und Familien schon in zweiter und dritter Generation – das Altösterreichische der Villen zog unverändert an. »Von den Spannocchis bis zu den Attems, alle waren sie da. Alle waren irgendwie miteinander und auch mit uns verwandt, meine Großmutter war ja eine Attems. Aber alles waren zahlende Gäste«, sagt Federico Bianchi. Die Nummer eins unter den Gästen war Gräfin Emma Czernin, »die war immer zwei Monate da. Tante Emu haben wir sie genannt, eine rührende Frau. Sie nahm Halbpension, damit es billiger war, und trank nur Wasser. Die hatte einen Klappsessel mit und ist am Strand von einem Sonnenschirm zum nächsten gegangen, wo sie Bekannte hatte, und hat gequatscht. Als sie starb, wollte sie auf ihrer Parte stehen haben: ›Sie lebte für Grado.‹« Auch Johanna Bianchi, eine Cousine des Vaters, kam immer für einen Monat in die Villen. Sie wollte immer – Eigenheit fast aller Bianchi-Gäste – dasselbe Zimmer und denselben Strandplatz. Und sie kam immer mit ihrem alten Volkswagen: »Das war ein Wunder-auto. Einmal haben wir 45 Gepäckstücke gezählt«.


Karl Bianchi (Mitte), Sohn des Villen-Gründers Leonard, mit seinen Kindern Federico und Marie Therese (rechts neben ihm)

Auch die Küche war zu der Zeit natürlich vorwiegend österreichisch: Das Personal kam aus Südtirol und kochte herzhafte Braten, Gulasch, Apfelstrudel und Kompott: »Zwei Vorspeisen, zwei Hauptspeisen, Obst zu Mittag, was Süßes am Abend zum Abschluss. Die Speisekarte wurde Tag für Tag neu gedruckt.« Eine der vier Damen im Bianchi-Lesezimmer erinnert sich: »Mein Vater hat einmal den Karl Bianchi gefragt, wie er das macht, dass keine Deutschen hier sind, und er sagte: ›Die sind nach drei Tagen wieder weg, weil hier alles so dominant österreichisch ist.‹« Aber für die Italienreisenden mussten es, österreichische Vergangenheit hin oder her, ab den 1960er-Jahren schön langsam »auch Fisch und Spaghetti sein, und Minestrone neben der Tirolerknödelsuppe«, wie die Gräfin Rossetti weiß. Die Küche und die Menüs wurden jedenfalls zu einem Herzstück der Villen.

Nach dem Tod der Tante Mitzi musste »Fri« Bianchi Ende der 1960er-Jahre neben seinem Vater voll ins Geschäft einsteigen, während seine Schwester Marie Therese schon geheiratet hatte und mit ihrem Gemahl Rossetti nach Triest übersiedelt war. Es folgten intensive Arbeitsjahre. Aber als die Mutter 1972 starb, war das der Anfang vom Ende der Bianchi-Ära in den Bianchi-Villen: »Die Anteile der Mutter gingen an die vier Kinder, und da ging der Streit los: Jedes wollte seinen Anteil sofort, wir konnten uns nicht einigen – und dann sagte mein Vater nach jahrelangem Gezeter: ›Wenn ich sterbe, geht das mit meinem Anteil noch einmal so los. Aus, ich verkaufe.‹« Die Rossetti hat eine andere Erinnerung: »Meine Schwester und ich hätten die Villen gerne weitergeführt, so wie Mitzi und Louise, sie hätte das Finanzielle übergehabt, ich die Leitung und das Praktische. Aber wir hatten beide kleine Kinder, und wenn man von 1. Mai bis 30. September 24 Stunden im Einsatz ist, geht das nicht.«

Gleichwie: Die fünf stattlichen Häuser wurden Ende 1978 an eine Gesellschaft von alteingesessenen Gradeser Bürgern verkauft. »Es war keine schlechte Zeit, zu verkaufen«, sagt Federico Bianchi. Denn es lag im Trend der Zeit, Hotels in viel gewinnbringendere Wohnungen umzubauen. Das hatten auch die neuen Besitzer offenbar vor. Bloß, kurz nachdem sie gekauft hatten, wurde ein Regionalgesetz erlassen, das die Umwandlung von Hotels in Wohnungen untersagte – weil nämlich zunehmend Hotels in Grado verschwanden. »Da sind die neuen Besitzer dann jahrelang auf ihrer Spekulation gesessen«, weiß Baron Bianchi, dessen Lebensweg zu der Zeit abbog: Eine In-Diskothek in Wien (das Fribi in der Himmelpfortgasse), eine enorme Erbschaft in Mogliano Veneto, Hotel- und Immobiliengeschäfte in Deutschland und Mallorca – »ein komplett anderes Leben also«.


Die Bianchi-Schwestern Mitzi und Louise (hier mit einem Gästekind) führten die Villen bis ins hohe Alter.

Die drei großen Villen am Viale Dante Alighieri kamen indessen unter die Verwaltung der Familie Grigolon. Giuseppe Grigolon war der erste Bürgermeister von Grado nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, Giorgio Grigolon übernahm die Führung der Villen. Und behielt den Hotel-Betrieb mit 48 Zimmern bei. In den beiden Villen zum Meer hin wurden 25 Ferienappartements eingerichtet. Pläne, die Bianchi-Villen in großem Stil mit Verbindungsgängen aus Glas und einem Swimmingpool im Garten zu renovieren, scheiterten glücklicherweise am Denkmalschutz. Zehn Jahre lang, so erzählen die Bianchi, geschah in den Bianchi-Villen daraufhin »nichts«, was Erneuerung betrifft. Gegen Ende des Jahrhunderts aber wurden die Häuser aus einer Art Dornröschenschlaf erweckt, großzügig renoviert und in ihren heutigen Zustand versetzt. Carlotta Grigolon, Giorgios Tochter, war diejenige, die den Betrieb mit viel Liebe und Hingabe »schupfte« – wieder eine starke Frau! Sie verstand es, die Atmosphäre der Häuser wiedererstehen zu lassen. Diese Atmosphäre, der trotz der Renovierung verbliebene, etwas morbide Charme, die Möbelage in einer Mischung aus alten Stücken und 70er-Jahre-Schick, der Speisesaal mit seinem täglichen Mittags- und Abendritual – all das lockte weiter Stammgäste und Jungfamilien, Industrielle, Schauspieler und Medienleute an. Sie konnten sich herrlich über den gnadenlos zugeparkten Garten (apropos Denkmalschutz!) und das immer wieder neue und ungelenke Personal beim Frühstücksbuffet im Garten alterieren. Die meisten kamen dennoch immer und immer wieder, auch nach der neuerlichen Übernahme der Villen durch einen nicht aus Grado stammenden Thermenhotel-Betreiber – was schon starker Tobak für alteingesessene Gradeser und langjährige Grado-Besucher war. Aber den Villen konnte nichts so schnell etwas anhaben. Auch der italienische Barde nicht, der fortan vom Garten her zum Abendessen Schmachtfetzen servierte.

»Die Prinzen von Bayern haben damals die ganze Villa Spiaggia gemietet«, liest Marie Therese Rossetti unverdrossen in ihrer Triestiner Wohnung aus ihren Aufzeichnungen vor. »Und da schreibt die Tante Lo«, die Contessa freut sich über diese Stelle besonders, »dass die Kronprinzessin selbst einmal mitten in der Nacht in die Küche gekommen ist und die Tante gefragt hat, ob sie die Milch für ihre Kleinen aufwärmen darf. Die Lo hat das so nett gefunden, weil normalerweise macht das ja nicht die Prinzessin, sondern das Personal, das die Adeligen immer mitgehabt haben. Aber da ist die Prinzessin wirklich selbst mit dem Flascherl in der Küche gestanden.«

Geht ihr, der Contessa, Grado ab? »Nachdem mein Vater die Villen verkauft hat, bin ich nicht mehr dort gewesen. Das war mein zweites Zuhause. Ich hab’ von dort weg geheiratet. Jetzt die Villen zu besuchen, wo sich so viel verändert hat – nein, das ist mir unangenehm.« Spricht’s und klappt eine Mappe mit Dokumenten aus den Ville Bianchi zu, legt sie in eine große Pappschachtel und stellt den Karton in den Grado-Kasten – in dem auch ein paar Mäuse sitzen.


Die Kronprinzessin von Bayern und Sachsen war mit Familie und Hofstaat Stammgast in den Bianchi-Villen – aber die Milch wärmte sie selbst auf.

Und der Baron Federico? Genießt sein buntes Leben und schweigt durchaus nicht. In den folgenden Kapiteln hat er noch das eine oder andere zu erzählen. Aber mit der Vergangenheit in Grado hat er friedlich abgeschlossen. Ein Angebot zu Jahrhundertbeginn, die Villen zurückzukaufen, schlug er aus. Nur als ihn das Gerücht erreichte, »die Russen oder die Chinesen« hätten die Villen gekauft, »das hat mich gestört« – aber es war dann ja doch nur der neue Hotelbetreiber aus Montegrotto Terme. »Heute gehe ich nur noch nach Grado, weil ich zu Cesare muss«, sagt Federico Bianchi und fährt sich durchs schlohweiße Haar. Cesare ist der Friseur in Grado. »Seit 40 Jahren gehe ich zu Cesare. Wenn ich nach Mogliano fahre oder wenn ich von Mogliano komme, einmal im Monat, fahre ich bei ihm vorbei.«

Gusto auf Grado

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