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1Die Magie Grados

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Auf Spurensuche – eine Annäherung

Der Burgschauspieler mit der markanten Stimme hat als Kind Sommer für Sommer bei Verwandten in Triest verbracht. Später wurde er Publikumsliebling im Haus am Ring oder bei den Festspielen in Reichenau. Als Synchronstimme von Ben Kingsley kennt ihn jeder, auch der größte Theatermuffel. Damals, in den 1950er-Jahren, war das für den kleinen Peter Matić noch weit weg. Für den Knaben aus dem Norden gab es im Sommer nur Sonne, Wind und Meeresluft im Süden. Und zwar am äußersten Zipfel der Adria, wo Italien auch heute noch so österreichisch ist. Ferienhöhepunkt war stets: Wenn der Triestiner Onkel den frisch geputzten Fiat Topolino anwarf und mit den Kindern für einen Tag zum Baden von Triest nach Grado fuhr – zwei Stunden Fahrt. Aber was für ein Ziel!

Was der Bühnenstar in spe beim Planschen im seichten Wasser der oberen Adria nicht wissen konnte: Dass er Jahrzehnte später in den fünf gelben herrschaftlichen Villen, die den Strand von Grado damals schon überschauten, Urlaub machen würde. Was er zudem nicht wusste: Dass er mit der Urenkelin des Barons, der diese Ville Bianchi zur Jahrhundertwende bauen ließ, verwandt sein würde.

Es ist eine typisch österreichische Geschichte. Und wer heute Grado besucht, reist in die österreichische Geschichte. Auch wenn die nicht Hauptzweck der Reise ist.

Die meisten kommen mit Kind und Kegel zu Sonne und Sand. Der flach abfallende Strand, die »Cocco bello!«-Rufe der fliegenden Händler, die zur Labung Obstspieße verkaufen, das unvergleichliche Gelato auf der Promenade – Generationen verbinden damit Sommer pur. Später besuchen sie Grado oft auch dann noch, wenn die Kinder längst aus dem Haus und auf eigenen Urlaubswegen sind. Wege, die die groß gewordenen Kinder nicht selten wieder zurück an die obere Adria und in »ihr« Grado führen – der Bub, der dem Fiat Topolino seines Onkels entwuchs und Schauspieler sowie Grado-Reisender wurde, ist nur ein Beispiel von vielen.

Was ist es aber, das diesen Kreislauf antreibt wie ein Perpetuum mobile? Was macht den Badeort für viele zu einem fast magischen Platz? Zu einem Immer-wiederkommen-Müssen? Zu einer Art Zuhause im Urlaub, nein: zum Zuhause? Oder, wie es ein anderer Schauspieler formuliert, Erwin Steinhauer, mit fast schnalzender Zunge: »Für mich waren das Friaul und Grado eine Zeit der Genüsse. Nur Genuss und Glück! Ich muss bald wieder hin.«

Der Gradeser Künstler Gianni Maran spricht tatsächlich von der »Magie Grados«. Sie bestehe, sagt er, aus zumindest dreierlei: Da ist zum einen der Duft, der den Reisenden schon auf der kilometerlangen Brücke von Belvedere hinüber nach Grado einfängt. Dort, wo sich das flache Land mit seinen Pinien auftut für den ersten Blick über die breite Lagune hinüber zur Insel und der Silhouette der Stadt. Tief einatmen, und die Magie ist schon da, zaubert augenblicklich ein Stimmungstuch, in das man sich wohlig hüllt. Der zweite Stoff, aus dem die Magie Grados gewebt ist, das ist die ganz eigene Atmosphäre in den engen Gassen und winkeligen Durchgängen der Altstadt, dem centro storico mit seinen alten Steinhäusern, ebenso wie auf den schattigen Plätzen und den breiten Promenaden, entlang des Hafens und auf dem Weg zum Strand. Und zum Dritten besteht die Magie Grados aus etwas, das man zuerst vielleicht nur unbewusst wahrnimmt, dann langsam begreift und schließlich freudig-staunend spürt und erwidert: aus dem Lächeln, das überall in Grado wartet – »nicht Lachen, es ist das Lächeln«, sagt der Künstler.

Die Atmosphäre hat, da sind wir wieder beim Beginn, viel mit der österreichischen Geschichte des Badeortes zu tun. Und die wird nirgendwo sichtbarer als in den Villen, die um die Wende zum 20. Jahrhundert gebaut wurden. Einer Zeit, als Grado Teil des österreichischen Küstenlandes war – und das Mekka der Erholungsuchenden aus der Monarchie. Ihre Herberge waren vor allem die Villen. Die erwähnten Ville Bianchi nächst dem Strand, die verspielte Villa Reale oder die Villa Erica schräg gegenüber sind heute noch höchst lebendige Zeitzeugen der vergangenen Epoche, die in Grado in vielen Geschichten und Anekdoten weiterlebt. Und die viel zu diesem Zuhause-Gefühl im Urlaub beitragen.

Grado verdankt seine Geburt übrigens Frauen. Und seiner guten Luft. Jetzt könnte man natürlich sagen, das ist banal, weil: Geht nicht alles auf der Welt kraft des Gebärens auf Frauen zurück? Und ein Seebad ohne gute Luft, wie soll das gehen? In Grado aber verhält es sich so: Das Fischerdorf auf der kleinen Insel gibt es schon ewig, und Fischerdörfer waren traditionell von Männern dominiert. Von Fischern eben. Aber dass Grado vor mehr als einem Jahrhundert zum Seebad erblühte, zu einer Perle mit besagten Villen und mondänen Hotels, zu einem Kurort der Heilung und einem Badeort des Familienvergnügens – das ist vornehmlich auf Frauen zurückzuführen.

Gewiss, es haben auch Männer das Zepter in der Hand gehabt. Männer aus Familien mit so klingenden Namen wie Scaramuzza, Degrassi, Marchesini und Marocco. Sie haben um die Wende zum vergangenen Jahrhundert als Bürgermeister Land aufschütten lassen und Straßen gebaut, Bäume gepflanzt und Badeordnungen erlassen. Und der wichtigste Mann natürlich, der Kaiser in Wien, hat sowieso das Zepter in der Hand gehabt. Insofern nämlich, als er wohlwollend und großzügig das Werden des Seebades förderte. Nicht zu vergessen all die wohlhabenden Adeligen und Fabrikanten, die wunderschöne Häuser auf das immer größer werdende Land in der Lagune setzten – allen voran Baron Leonard Bianchi, der als Urvater Grados gelten kann (für die Geburt braucht es halt doch auch einen Vater). Aber auch er tat das für seine Frau, die an der Gradeser Luft genesen sollte, und für seine Kinder. Manch andere wiederum taten es für ihre kränkelnden Kinder, die an ebendieser Luft tatsächlich gesundeten.

Aber es waren starke Frauen, die in der Folge nicht nur in den Villen, sondern darüber hinaus in Grado den Laden schupften, wie man in Österreich sagen würde. Und zutiefst österreichisch, k. u. k.-österreichisch, das war Grado zu seiner Blütezeit. Die Geschichte der Wiener Fabrikantentochter Emma Scheid, verheiratet mit dem Secessionisten Josef Maria Auchenthaller, die mit ihrer kranken Tochter Maria nach Grado zog und die Pension Fortino bauen ließ, ist schon vor einiger Zeit aus der Versenkung geholt worden. Andere Geschichten belegen, dass nicht allein das Fortino am Beginn von Grados Aufstieg stand, sondern dass es davor und danach viele Villen – und viele Frauen – waren, die Grado zu dem machten, was es heute noch ist. Diese Geschichten sind Schätze, die kaum wo niedergeschrieben sind, sondern nur erzählt und weitergegeben werden, wenn man sich auf Spurensuche begibt.

So wird die Rede sein von den beiden Schwestern, die, stets in Schwarz gekleidet, vom Beginn bis weit in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit dem Rad durch Grado und Umgebung fuhren, um ihre Ville Bianchi und das Seebad voranzubringen. Es wird die Rede sein von Emma Scheid natürlich, die, wie die Schwestern, tagein, tagaus für ihr Hotel und ihr Grado kämpfte. Es wird erzählt vom handgeschriebenen Kochbuch der Hanni Schöffmann – ja, auch die Küche spielt eine entscheidende Rolle in der Geschichte Grados –, das wie ein wertvoller Schatz geheim gehalten wird bis heute. Sein manchmal üppiger (die Zutaten!) und immer geschmackvoller Inhalt eröffnete und eröffnet sich bis heute nur den Gästen der Villa Reale, deren aus Kärnten eingeheiratete Seele die Schöffmann war. Von der großen Maria Callas wird die Rede sein, die in den späten 1960er-Jahren mit dem ebenso großen Pier Paolo Pasolini in Grado einen Film drehte und dem Seebad einen neuen Aufschwung zum »St. Tropez der Adria« bescherte – die beiden waren nur zwei von zahllosen prominenten Gästen, die seit Sigmund Freud, Arthur Schnitzler und Otto Wagner dem Adria-Ort gesellschaftlichen Glanz verliehen. Von einer Baroness ist zu lesen, die die Familiengeschichte der Bianchi hütet und die von keinem Geringeren als vom Teenager Niki Lauda auf den Straßen in und um Grado Autofahren gelernt haben will – wer kann das schon von sich sagen? Zeitungszaren und internationale Fußballer – weil auch von Männern die Rede sein wird –, Wirtschaftsbosse, Filmschaffende, Schauspieler und Literaten, sie alle haben in Grado ihr zweites Zuhause gefunden.

Und weil das alles nicht ohne Küche ging und geht, oder anders: Weil auch die Liebe zur Sommerfrische und zum Urlaubsort durch den Magen geht, wird auch von gutem Essen die Rede sein. In Grado wurde zu Zeiten des Österreichischen Küstenlandes vorwiegend österreichisch, ungarisch und böhmisch gekocht. Der saftige Schweinsbraten und das Pilsner Bier waren nebst den Süßspeisen aus der Monarchie die kulinarischen Höhepunkte eines Tages in der Badeanstalt. Viel später kamen die Pasta und der Riso dazu, der Fisch, wie er an der Küste bereitet wird, die Muscheln und andere Meeresfrüchte. Heute wird dagegen vor allem in den Villen die italienische Küche serviert, nach der sich der Italien-Reisende so sehnt. Jene Küche also, die er in angeblich »typischen« italienischen Restaurants so selten bekommt, es sei denn, er sucht lange und vermeidet die ausgetretenen touristischen Pfade: Unaufgeregte, beständige, wirklich italienische Gerichte, die wohlfühlen lassen und Lust machen, sie zu Hause auszuprobieren. Wenn man nur das Rezept hätte! Ein paar dieser Rezepte werden wir vorstellen – denn wenn man Grado mit nach Hause nehmen kann, bleibt das Zuhause-Gefühl wach, das man an Grado so schätzt. Auch wenn man gerade nicht dort ist.

Da sind wir dann doch wieder am Anfang: Das vorliegende Buch liefert keine chronologische Darstellung der Villen, ihrer Bewohner oder ihrer Gäste. Es ist keine lexikalische Auflistung und kein Who’s who in Grado. Und der kulinarische Teil ist kein Register der Gradeser Küche. Das Buch versucht nur eines: In einer bunten Aneinanderreihung von Geschichten und Geschichte, von Erinnerungen und Anekdoten, von Erzählungen und verstaubten Dokumenten aus längst vergessenen Kartons und Kisten ein Bild zu malen. Dieses Bild soll nicht in Nostalgie ertrinken. Es will ein Gefühl und einen Zustand vermitteln oder wachrufen, je nachdem: Die Magie Grados, die den Besucher einfängt. Eine Magie, die den Gast spätestens beim zweiten Mal nicht mehr Besucher, sondern Heimkehrer sein lässt. Nach zu Hause, in sein Grado.

Gusto auf Grado

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