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3»Für die Haut gibt’s nur die Adria«
ОглавлениеWarum Grado gesund ist, selbst wenn man stundenlang bis zu den Knien im Meer steht und plaudert. Und wie aus dem Fischerdorf überhaupt erst ein See- und Kurbad wurde.
Aber geh, woher denn! Der Zaun zum Strand wurde erst im Ersten Weltkrieg gebaut.« Die ältere Dame, die auf der Couch sitzt und in ihrem Kaffee rührt, will die Geschichte mit dem Pfarrer und den unzüchtigen Kurgästen nicht so ganz glauben. Wenn ihr schon der Glaube ans Kaisertürl zerstört worden ist, durch das in Wahrheit kein Kaiser je gegangen ist. Aber dass der Pfarrer den Zaun errichten ließ, damit nur ja keine Burschen und Mädchen am unbeobachteten Strand in Versuchung kämen …! – »Den Zaun haben sie hingestellt, weil kein Treiben am Strand sein durfte«, sagt sie – die Freundin neben ihr kichert –, »nein, du weißt schon, weil keine Bewegung und kein Licht sein durfte im Krieg und kein, na, kein Treiben halt. Wegen der Schiffe draußen, der feindlichen. Also aus kriegerischen Gründen steht der Zaun da.« Punktum, der Pfarrer ist aus Sicht der alten Dame entlastet, was die Abriegelung des Strandes und die Verhinderung allfälliger Sünden betrifft.
Schräg gegenüber der Villa Erica und der kleinen Bar davor liegt die Villa Stella Maris, das Hauptgebäude der fünf Bianchi-Villen. Mitte Juli ist es auch am späten Nachmittag noch heiß, selbst unter dem Sonnenschirm eines Cafés oder einer Bar. Also haben wir uns mit den vier Damen aus Österreich im Lesezimmer der Villa Stella Maris verabredet. Dort, wo die Gäste üblicherweise Platz nehmen, bevor der Speisesaal geöffnet wird, wo man zwischen alten Schiffsmodellen und Büchern nach dem opulenten Mahl noch einen Grappa nimmt, ehe man zur Ruh’ geht. »Der Eingang, wo Sie reingekommen sind, das wissen Sie eh: Der war früher nicht dort. Der war auf der anderen Seite zum Garten hin, die geschwungene Doppeltreppe. Weil dort, wo er jetzt ist, da war nur Wasser – die Lagune«, sagt eine der Damen zur Begrüßung. Auch das duldet keinen Widerspruch. Und schon sind wir mittendrin in den Erinnerungen. Obwohl: An die Lagune vor der Nicht-Tür können sich auch die Damen nicht erinnern.
Das Haupthaus der Ville Bianchi mit dem früheren Haupteingang zum Garten hin. Heute betritt man das Haus auf der Rückrespektive Vorderseite.
Andrea und Christine Fabrizii, Dorothea Kiesling und Gräfin Susanne Hardegg verbringen seit gefühlt einem halben Jahrhundert Jahr für Jahr ein paar Sommerwochen in Grado. In Wahrheit schon länger, seit ihrer Kindheit und Jugend. Und immer wenn sie auf Sommerfrische an die nördliche Adria gereist sind, haben sich ihre Eltern und später sie selbst in den Ville Bianchi einquartiert. Wie kommt oder kam man auf Grado? »Meine Mutter stammt aus Görz«, sagt eine der Fabrizii-Schwestern. Görz, die ehemals Gefürstete Grafschaft, das Zentrum des Friaul, Kronland und österreichisches Küstenland: In der Monarchie war Görz verwaltungstechnisch auch für Grado zuständig. Görz ist zudem zufällig die Heimat des Barons Leonard Bianchi, des Erbauers der Bianchi-Villen, in denen wir sitzen. »Meine Mutter war schon im Jahr der Eröffnung, 1901 oder 1902, hier bei den Bianchi. Schon als Kind. Ich bin seit 1966 da. Immer im Juli, weil da immer dieselben Leut’ da waren.«
Bei Dorothea Kiesling reicht die Grado-Erinnerung bis 1955 zurück. Damals war sie mit ihren Eltern das erste Mal hier. »Da ist man im September gekommen, ist manchmal im Kaschmirmantel draußen gesessen und hat Eis gegessen. Andere waren immer im Juni da. Nur Juli und August war damals zu heiß.« Die vier Freundinnen waren jedenfalls schon zu Zeiten hier, als die Villen zwar auf ihre Art mondän, aber noch kein Vier-Sterne-Hotel waren. »Eine Tante von mir hat immer gesagt, wenn sie hier angekommen ist: ›Also, Susi, jetzt sind wir wieder im Gasthaus zur 15er-Birn‹«, erinnert sich Gräfin Hardegg – eine Anspielung auf das trübe Licht der 15-Watt-Birnen in den Lampenfassungen auf den Zimmern. »Da konnte man nicht einmal lesen. Alles war eine Improvisation, die Möbel, die Matratzen, wo man nicht wusste, ob man nicht doch lieber auf dem Boden liegt, alles sehr antik …«. Dennoch sind sie immer und immer wiedergekommen, um im Garten zu sitzen und bei einer Flasche Wein Bridge zu spielen. Um »am Corso spazieren zu gehen«. Und um tagsüber dem Badevergnügen zu frönen: »Da waren wir am Strand, jede Familie hatte ihre Kabane, das waren vier Pfeiler mit einem Leinentuch rundherum. Und mein Vater sagte: ›Schau, der Holzhausen geht ins Wasser, da geh’ ich auch.‹ Dann gingen die beiden Herren los und haben sich bis zu den Knien im Wasser stehend unterhalten, uns kam vor, stundenlang, bis sie halb erfroren waren.« Ein Bild, das man heute noch aus dem flachen Wasser am Strand der Adria kennt.
Dabei waren nicht Erfrieren oder Erkranken ein Zweck des Aufenthalts an der Adria, sondern Gesunden. »Grado hat immer schon den Ruf gehabt, zur Heilung aller möglicher Wehwehchen und Leiden beizutragen. Die Luft war gesund, vor allem für die Kinder, und die Sandbäder waren gesund«, sagt Gräfin Hardegg. »Eine Cousine von mir war viel hier, auch deswegen, und dann bin auch ich hier gelandet. Ein Arzt hat damals zu mir gesagt: ›Für die Haut gibt’s nur die Adria.‹«
Sonne, Luft, Meer, Gesundheit – dem Streben danach verdankt Grado überhaupt erst den Aufschwung zum Seebad Ende des 19. Jahrhunderts. Zunächst einmal war die Insel, die nach dem Ende der Republik Venedig (1797) und einer kurzen Herrschaft Napoleons ins Habsburgerreich eingegliedert wurde, ein kleines Fischerdorf. Keine vier Hektar groß, hatte Grado nur einen Bruchteil seiner heutigen Fläche, der Rest waren Lagune und Sumpfland.
Aber Grado hatte vor allem etwas: Sand, nahe dem Dorf mit seinen Steinhäusern und winkeligen Gassen ebenso wie auf schier unendlichen Sandinseln entlang der Lagune. Der Sand wurde zum Teil weggetragen und zum Bauen in Triest verwendet. Er lockte jedoch schon Mitte des 19. Jahrhunderts Einheimische, aber auch bereits erste Gäste an, die am adriatischen Meer Erholung suchten. »Schon vor 1848 und bis zum Jahre 1868 errichteten die Bürger von Grado, mit der Genehmigung der Stadtbehörden, Bade- und Umkleidekabinen auf dem Strand«, heißt es in einer lokalen Aufzeichnung. Den Stadtbehörden stand damals Bürgermeister Giacomo Scaramuzza vor, der selbst die erste Kabine auf den Strand gesetzt und damit so etwas wie ein erstes Seebad-Gefühl begründet haben soll. Kleine Herbergen, locande, mit ein, zwei Zimmern folgten. Schon 1868 wurde die erste echte Badeanstalt errichtet.
Zwei Jahre zuvor hatte Venedig nach 70 Jahren das Haus Habsburg verlassen und war dem neu gegründeten Königreich Italien beigetreten. Venetien und die Strände im Westen waren damit für die Monarchie verloren, Badegäste begannen, sich nach neuen Sonnenflecken umzusehen. Auch wenn Grado damals noch keinen überzeugenden Ruf hatte: »Heute ist Grado ein Ort mit verstreuten, schlecht gebauten und schlecht gelüfteten Fischerhütten, die gegen die Sturmwellen durch einen vor 30 Jahren begonnenen und nur zur Hälfte aufgebauten Damm geschützt werden; dahinter ein schäbiger Kirchturm, auf dessen Spitze ein Bronzeengel steht, der mal eine Feder, mal einen Finger verliert und daher zu einer Gefahr für die Vorübergehenden geworden ist. Das ist das heutige Grado, das arme Grado, das mit Wassermelonen und Fischgeräten erfüllte Grado, das sich rühmt, den Sand für die Zementierung des Mauerwerks von Triest zu liefern«, schrieb der Schriftsteller Ippolito Nievo 1856 in seiner Novelle Die Zauberinnen von Grado. Gewidmet hat er sie den Badenixen der Badekabine Nr. 5, wie Marino De Grassi, Historiker und Autor, in einem feinen Essay in dem Buch Ritorno a Grado erzählt.
Die Stefaniestraße in der Altstadt um die Jahrhundertwende
Ein halbes Jahrhundert später sollte der Sand, der »für das Mauerwerk in Triest« aus Grado fortgeschafft wurde, übrigens zu einer kleinen Revolution führen. Die Gradeser beanspruchten seit jeher das Recht, Sand zu »schürfen« – für sich selbst. Die Regierung sah das seit jeher anders. Sie schickte Schiffe aus Triest, Piran und sonstwo, um den wertvollen Sand abzuholen. Als eine Segelbarke aus Piran im Auftrag der k. u. k. Seebehörde wieder einmal Sand von einer der Bänke vor Grado lud, reichte es einigen aufgebrachten Gradesern. Sie kaperten das Schiff der Sandräuber, die flüchten konnten, und brachten deren Barke in den Hafen von Grado, wo sie die Zufahrt mit schweren Ketten versperrten.
Der Streit um den Sand sollte über Jahrzehnte fortdauern. Das schlechte Bild Grados, wie es besagter Schriftsteller zeichnete, änderte sich aber sehr bald. Vor allem dank einer Entdeckung: der Heilkraft der Gradeser Seeluft.
1872 kam der toskanische Kinderarzt Giuseppe Barellai nach Grado. Er hatte sich dem Kampf gegen die Armeleute-Krankheit Tuberkulose verschrieben und in Italien schon 20 Hospize gegründet. Barellai folgte einer Einladung der Behörden und Ärzte in Görz. Er sollte prüfen, ob Wasser und Luft in Grado für Heilungszwecke taugten, und kam zu folgendem Befund: reine Luft, stark salz- und jodhaltiger Sand, mildes Klima. Kurzum, ein idealer Ort für die Errichtung einer See-Kuranstalt. Das jedenfalls riet er seinen Gastgebern. Genau genommen empfahl er ein Hospiz für Kinder mit Rachitis und Skrofulose (Schwellungen am Hals im Zusammenhang mit Tuberkulose). Während die Kranken in der Vergangenheit aus therapeutischen Gründen zu Schatten und Dunkelheit verdammt worden waren, lautete Barellais Therapie: Luft und Sonne.
Die Verantwortlichen in Görz folgten dem Rat des Arztes nur zu gerne. Schon im darauffolgenden Jahr öffnete das Hospiz Marino in Grado seine Pforten. Finanziert wurde es unter anderem durch eine großzügige Zuwendung Kaiser Franz Josephs sowie durch Baron Leonard Bianchi, der in Grado mehr als ein Vierteljahrhundert später die Bianchi-Villen errichten lassen sollte. Barellai hatte mit seiner Methode bei den Kindern, die aus Görz und Triest, später aus der ganzen Monarchie kamen, durchschlagenden Erfolg. Das Hospiz erhielt fortan einen jährlichen Zuschuss vom kaiserlichen Hof und von Görzer Gesundheits-Mäzenen. Weniger wohlhabende Familien, die ihre Kinder nach Grado brachten, bekamen einen Zuschuss direkt vom Hospiz.
Das Geld war gut investiert, nicht nur in die Gesundheit der Kinder: Die Kunde von der gesunden Gradeser Luft machte die Runde. In Zeitungen der Monarchie erschienen Reklamen für das Badevergnügen in Grado. Die Mundpropaganda tat ein Übriges, dass das bis dato verschlafene Fischerdorf langsam ein Reiseziel für Sonnen-, Meer- und Lufthungrige wurde. Auch wenn es erst vier Hotels gab zu dieser Zeit, um 1875. Und unter »Hotel« muss man sich einfache Herbergen vorstellen: das »Alla Luna«, »Alla Sanità«, »Agli Amici«, »La Nave« und das »Cervo d’Oro« folgten. Es wurde eine Kanalisation angelegt, die Gemeinde machte sich an die Errichtung einer mangels Brunnen mühsamen Wasserversorgung der Stadt. Für die Gäste gab es die ersten Konzerte, Lesungen und Sportveranstaltungen – eine Art kleiner Kurbetrieb.
Der entscheidende Durchbruch für Grado kam 1892: Kaiser Franz Joseph befürwortete einen Antrag der Grafschaft Görz und erhob Grado offiziell zum Kur- und Seebad! Ab nun gab es eine offizielle Badesaison von Mitte Mai bis Ende September, mit Kurtaxe, Kurordnung und einem Kurkomitee, das etwa für die »Bestellung der Beamten und erforderlichen Diener« für einen funktionierenden Kurbetrieb zuständig war, oder »Vorkehrungen zur leichteren Heranziehung von Fremden« zu treffen hatte, wie auch immer die aussehen sollten. Und es war zuständig für die »Verbesserung der Musik« und die »Beseitigung all dessen, wodurch der Ruf des Kurortes leiden könnte«.
Im selben Jahr wurde das neue »Stabilimento Bagni« errichtet, die neue Badeanstalt. Die langgestreckte Holzkonstruktion mit getrennten Umkleidebereichen für Männer und Frauen ruhte auf Eichenpfählen im Wasser an jenem Strand, auf dessen aufgeschütteter Landseite später auch die Ville Bianchi stehen sollten (und der Zaun mit dem erwähnten Kaisertürl).
Diese Geburtsstunde für ein ganz anderes Grado zog neuerlich Gäste an, was einen Ausbau der Beherbergungsbetriebe nach sich ziehen musste. Das Hotel de la Ville war mit zehn Zimmern schon so etwas wie ein richtiges Hotel, nach damaligen, vorsanitären Standards. Die Gradeser Brüder Marchesini bauten das Hotel zur Post, das ein »Post- und Telegraphenamt im Hause« hatte und »vorzügliche italienische und deutsche (sic!) Küche« anpries. Und der Triestiner Tomaso Giacomo Fonzari, Angestellter der Stadtverwaltung und Sohn eines Kochs, baute das kleine Hotel Graz, dem 1897 das Grand Hotel Fonzari folgen sollte. Binnen weniger Jahre avancierte es zum renommiertesten Hotel auf der Insel, in dessen Nachbarschaft dann noch das Hotel Lido entstand. Im Lido wurde übrigens eines der ersten Casinos in Grado eingerichtet. Das noch schlichte Hotel war der Vorläufer des Hotels Astoria, das heute das erste Haus am Platz ist und sich im Inneren den Charme des Jugendstiljuwels erhalten hat.
Die Kabane, das Strandzelt, war so etwas wie das Wohnzimmer des Badevergnügens.
Aber zurück zu den Jahren vor der Jahrhundertwende. Denn das war tatsächlich alles erst der Anfang des Seebades, wie der Neuen Freien Presse damals zu entnehmen war. In einer wunderbaren Beschreibung aus dem Jahr 1894 unter dem Titel »Fürwort für Grado« hieß es da in aller Ausführlichkeit: »Sobald die winterlichen Vergnügungen mit dem fröhlichen Osterfeste ihren Abschied gefunden, beschäftigt sich ›ganz Wien‹ mit der wichtigen Frage des Sommeraufenthalts.« Die meisten Erholungsuchenden entschieden sich, so das Blatt bedauernd, für die Umgebung Wiens, die Berge oder einen der österreichischen Seen. »Kräftigende Seebäder im Meere, die unseren blutarmen, großstädtischen Kindern und jungen Mädchen so noth täten, kommen leider gar nicht in Betracht, weil man dabei nur an das deutsche Meer denkt.« Das aber sei zu kalt und zu beschwerlich zu erreichen.
Aber die Neue Freie Presse wusste Abhilfe. Wer dennoch ans Meer wolle, für den »ist unser heimatliches Seebad Grado wie geschaffen. Auch hier finden wir zweimal des Tages, wenn die Fluth mit ihrem belebenden Salzathem hereinbraust, kräftigen Wellenschlag, aber dort ist die Temperatur von Wasser und Luft eine weit höhere, so daß man selbst bei sehr langem Aufenthalte im Bade nicht jenes zuweilen lange anhaltende Frösteln empfindet, das sich im Norden oft schon nach minutenlangem Verweilen in der See einstellt.« – Die Sorge der Damen aus den Ville Bianchi, dass die Herren beim zu ausgiebigen Plaudern im Meer zu erfrieren drohten, war also aus damaliger Empfehlungs-Sicht unbegründet.
Die Neue Freie Presse schränkte ihre Euphorie aber sogleich ein wenig ein: »Freilich darf man an den erst zum Leben erwachenden Badeort an der Adria keine unbescheidenen Ansprüche machen. Zwar gleicht die großartige Bade-Anstalt dieses geradezu einzigen Dünenstrandes genau jener berühmten des Venetianer Lidos; zwar sind die zu miethenden Zimmer hübsch, reinlich und billig; auch ist die Küche der verschiedenen Gasthöfe und Restaurationen … ganz gut. Doch Vergnügungen gibt es, mit Ausnahme der Concerte im Freien auf der Piazza Stefania und jener im sogenannten Kursalon des ›Hotel Spiagga‹, keine. Dafür kann man gehen und kommen wie man will, dafür genießt man die schönste, ungestörteste Freiheit. Schade, daß die Vorzüge der Gradeser Seebäder nicht in weiteren Kreisen bekannt sind. Schade, daß sich noch kein vermögender, unternehmerischer Geist gefunden, der, in richtiger Erkennung ihrer Heilkraft, diesen Badeort auf jene Höh’ brächte, die ihm gebührt, und die er mit der Zeit gewiß erreichen wird.«
Und dann sprach das »Fürwort« noch eine verbreitete Sorge an, die so manchen Erholungsuchenden davon abhielt, nach Grado aufzubrechen: »Vor allem sollte die irrige Vorstellung zerstört werden, dass in Grado allenthalben skrophulöse Kinder herumlaufen und das Mitleid der Gäste wachrufen. Nein, diese Klippe wardt … wohlweislich vermieden, indem man das neue Bade-Etablissement weit entfernt von dem Krankenhause errichten ließ. Auch sind Bade- und Spielplatz der armen Kinder ganz abgeschlossen vom übrigen Theile der Insel, so daß man die kleinen Patienten gar nicht zu Gesichte bekommt, außer man besucht das sehr interessante Hospiz, in dem die Kleinen trotz ihres Leidens ein beneidenswertes Dasein führen.«
Die unternehmerischen Geister, die Grado »auf jene Höh’« brachten, die ihm gebührt, sollten erst einige Jahre später kommen: nach der Jahrhundertwende, als sich die Fläche von Grado durch Landgewinnung langsam zu vergrößern begann und die ersten mondänen Villen errichtet wurden. Sie verliehen dem Seebad einen ganz neuen Glanz, und erst sie machten Grado endgültig zum Anziehungspunkt für Gäste aus der Monarchie.
Aber nicht alle Gradeser hatten Freude mit dem beginnenden Aufschwung. Denn der bedeutete zwar Einnahmen, von denen die alteingesessenen Fischer und andere Bewohner des Dorfes aber nicht allzu viel hatten. Und der Zustrom der Kurbad-Gäste hatte für die Einheimischen einen erheblichen Nachteil: neue Steuern. Schuldenmachen war den Stadtverwaltungen in der Monarchie streng verboten – also erfanden sie, wenn Investitionen anstanden, zusätzliche Steuern. In Grado waren das vor allem eine Abgabe auf Wein, mit der Bäume, Straßen, Promenaden oder Blumenbeete finanziert werden sollten. Diese Bürde bekamen natürlich die Gradeser zu spüren.
Zum Glück gab es aber noch den Kaiser. Der hatte es zwar nie bis nach Grado geschafft, und er sollte es entgegen der Türl-Legende auch bis zu seinem Lebensende nicht tun. Aber Franz Joseph hatte neben der Finanzierung des Hospizes auch schon die eine oder andere Zuwendung für Grado aus der Hofschatulle und aus der eigenen Kasse springen lassen. Etwa wenn einmal der Fischfang komplett einbrach wie im Jahr 1871 und die Gradeser Fischer einen verzweifelten Brief an den Kaiser schrieben – da griff Franz Joseph schon einmal großzügig in seine Tasche. Als 1901 wieder einmal ein Besuch des Kaisers im Zentrum des österreichischen Küstenlandes in Görz avisiert war, machte sich also eine Abordnung der Insel hoffnungsfroh auf den Weg – das »Nizza Österreichs«, wie Görz damals genannt wurde, lag keine 50 Kilometer entfernt. Ziel des Ausflugs: Seine Majestät um Geld für den Bau eines schiffbaren Kanals von Grado durch die Lagune zum Festland zu bitten. Denn die Anreise zum Kur- und Seebad auf der Insel am Rande der Sümpfe und Lagunen vor Aquileia war mehr als nur aufwendig.
Die Ville Bianchi 1905 – wo rechts nur Lagune ist, entstanden später die Villen Erica, Alga und Reale.
Sigmund Freud zum Beispiel gab ein Zeugnis von dieser Mühsal. Der Psychoanalytiker war ein für seine Zeit weit gereister Mann, oft hatte es ihn nach Rom oder in die Toskana verschlagen. Eine Osterreise, die er im April 1898 mit seinem Bruder Alexander nach Görz und Grado unternahm, legte er indes »grantig zurück«. Nicht, weil die Fahrt vom Wiener Südbahnhof nach Görz von Freitagabend bis Samstagvormittag zehn Uhr dauerte, sondern weil es ab dort mühsam wurde. In einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ schrieb Freud: »Am Sonntag hieß es früh aufstehen, um mit der friaulischen Lokalbahn bis nahe Aquileja zu kommen. Die ehemalige Großstadt ist ein kleiner Misthaufen«, klagte Freud, aber wenigstens die Museen verfügten über einen unerschöpflichen Reichtum. »Um zehn Uhr wurde von einem merkwürdigen Motor ein kleiner Dampfer in den Kanal von Aquileja geschleppt, der gerade niedriges Wasser hatte. Der Motor hatte einen Strick um den Leib und rauchte während seiner Tätigkeit Pfeife. Den Dampfer hätte ich gerne den Kindern mitgebracht, er war aber als einzige Weltverbindung nach dem Kurort Grado nicht zu entbehren. Eine zweieinhalbstündige (!) Fahrt durch die ödesten Lagunen brachte uns nach Grado, wo wir endlich wieder am Strande der Adria Muscheln und Seeigel sammeln konnten.« Zweieinhalb Stunden ging es dann am selben April-Abend auch wieder zurück. Nicht einmal ein kluger Kopf wie Freud wird geahnt haben, dass man die Strecke keine 50 Jahre später mit dem Automobil in gerade einmal zehn Minuten zurücklegen würde.
Aber zurück zum Kaiser in Görz: 100 Fischer in ihrer traditionellen Kleidung machten Franz Joseph nebst den Stadtoberen ihre Aufwartung. Sie war, so wird erzählt, von Erfolg gekrönt, auch wenn der genaue Betrag der kaiserlichen Zuwendung in den Annalen nicht festgehalten ist. Dass der Kaiser milde und großzügig gestimmt war, hat ja vielleicht auch mit den Damen im Lesezimmer der Ville Bianchi zu tun. Beziehungsweise mit den Vorfahren der beiden Schwestern Fabrizii: »Meine Großmutter«, erzählt eine von ihnen, »hat dem Kaiser damals in Görz einen Blumenstrauß überreichen dürfen – mein Urgroßvater war Landespräsident von Krain. So kam sie zu dieser Ehre.«