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2Die Tür, durch die kein Kaiser ging
ОглавлениеFlanieren in die Vergangenheit: Über den »vollsten Beifall« der Gäste aus dem Hause Habsburg, verruchte Begegnungen am dunklen Strand und eine kleine Schwindelei.
Am Viale Europa Unita, auf dem Weg zum Hafen, liegt die libreria moderna. Es ist eine Buch-, Zeitungs- und Schreibwarenhandlung wie aus dem italienischen Bilderbuch – vor 50 Jahren. Mit den aktuellen Gazetten im Zeitungsständer davor, mit Postkarten, diversen Heftchen, ein paar Büchern, Zuckerln, Schreibgeräten und sonst noch allerlei. Vor dem Geschäft stehen drei Männer mittleren Alters mit der neuesten Gazetta dello sport. Auch wenn sie die Fußballergebnisse vom Vortag längst kennen, ist die Spielkritik im blassrosa Blatt Thema einer ausführlichen Diskussion. »L’arbitro è stato un disastro …«, grollt einer. Der Schiedsrichter, wer sonst, ist halt wirklich überall schuld.
Vor der Gelateria Antoniazzi lehnen zwei Gradeserinnen an ihren Fahrrädern. Die Einkäufe aus dem supermercato baumeln am Lenker. Die Frauen schlecken Eis, das sie sich auf dem Heimweg noch genehmigen. Sie plaudern über mindestens die Welt, so lange dauert das Gespräch. »Ciao Ornella«, ruft eine hinüber auf die andere Straßenseite, und schon sind die Damen zu dritt. Die Gelateria am Viale Dante Alighieri ist übrigens eine der besten der Stadt.
Der breite Viale Dante Alighieri nach Osten hinaus, dorthin, wo vor eineinhalb Jahrhunderten nur ein Weg durch den Sumpf war, rechts das Meer und links die Lagune, ist unbestritten die Flaniermeile der Stadt. Nach weniger als 200 Metern auf dem Viale tut sich ein weiter Platz auf: die Giardini Marchesan mit Brunnen und Wasserspielen und viel Grün. Von rechts ist das Meer zu hören und geradeaus am Ende des Platzes bietet sich ein einmaliger Blick: fünf lichtgelbe Villen, wie hingemalt. Zwei Stockwerke hoch, mit Balkonen und weißen Geländern und blaugrünen Fensterläden. Sie könnten, jede für sich, genauso im Cottage der Wiener Nobelbezirke Hietzing und Währing oder im Salzkammergut stehen. Links gegenüber eine dreistöckige Villa, die auch nicht von dieser Welt scheint, mit früher roten, jetzt wieder blauen Markisen und einer verspielten Terrasse. Sie wirkt auf den ersten Blick moderner und ist doch mehr als 100 Jahre alt. Und im Hintergrund, am Viale linkerhand erahnbar, eine weitere Villa, im schönsten Jugendstil, streng und leicht zugleich, mit roten Backsteinen im zweiten Stock, mit Terrassen und Bögen und Türmchen, efeubewachsen. Und ginge man dort ums Eck, stieße man gleich auf eine weitere beeindruckende Villa. Sie sind die Ville Bianchi, die Villa Erica, die Villa Reale und dahinter die Villa Bernt. Sie sind das Herzstück der Gradeser Geschichte, in die wir hineinflanieren.
Die Monarchie ging, die Villen blieben: Werbung für die »Baron Bianchischen Villen«, schon unter italienischer »Herrschaft«
Die Ville Bianchi heute – so etwas wie das Wahrzeichen Grados am langen Strand
Vor der Villa Erica sitzt an einem der kleinen Tischchen Gabriella und wartet schon. Die Nachmittagssonne taucht die Ville Bianchi gegenüber in ein strahlendes Gelb. Gabriella ist eine Institution im Dreieck der Villen. In den Ville Bianchi hat sie ein halbes Leben gearbeitet, viele Jahre davon als Chefin des Personals in der Küche und im Restaurant. Die Stammgäste haben sie geschätzt und geliebt – Gabriella wusste über die Jahre, wo die Gäste am liebsten saßen, was die Lieblingsspeise der Kinder war (nicht schwer: Spaghetti) und welcher der Lieblingswein der Eltern. Als die Besitzer wechselten, war das nicht mehr ihre Welt. Sie fand Unterschlupf in der Villa Reale schräg gegenüber. Auch dort gibt es Stammgäste seit ewig, und auch dort wird eine umsichtige Hand stets gebraucht. »Das war immer schon so in den Villen. Die Leute kommen einmal, und dann kommen sie wieder und immer wieder. Oder sie waren als Kinder schon da. Und das Schönste für sie ist, wenn jedes Mal alles so ist, wie sie es kennen und gewohnt sind – und dazu gehört auch das Personal.«
Das war vor 100 und mehr Jahren, als die Villen die ersten Besucher empfingen, nicht anders. Außer dass sich so mancher Gast – sicher ist sicher – sein Personal gleich selbst mitgebracht hat. »Zu Kaisers Zeiten reiste zumindest der Adel mit dem halben Hofstaat, wenigstens aber mit Köchin und Kindermädchen.« Nicht selten belegten Gäste samt Entourage dann über Wochen ein ganzes Stockwerk. Apropos Kaiser: Ob wir schon bei dem Tor waren, durch das der Kaiser einst geschritten ist, wie erzählt wird?
Und das ist der eigentliche Beginn der Geschichte. Es handelt sich um ein kleines, schmiedeeisernes Tor. Ein Türl eher, wie man in Österreich sagen würde. Beige-braun und im feinsten Wiener Jugendstil gewoben, unterbricht es einen schlichten Zaun zu Strand und Meer hin. Von den Spaziergängern, die auf der Promenade zwischen den Ville Bianchi und dem Strand wandeln, wird es kaum je beachtet, so unscheinbar ist es. Von den Initialen F. J. an der Front des Türls und dem bronzenen Doppeladler darunter nehmen die Passanten daher kaum Notiz.
Dabei sind diese Initialen Ausweis einer der vielen Geschichten, die Grado und seine altösterreichischen Villen heute noch zu erzählen haben: Als irgendwann vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Kunde geht, dass Kaiser Franz Joseph die Hafenstadt Triest bereisen werde, da sollte er auch nach Grado kommen. Jedenfalls setzen die Gradeser alles daran, dass der Monarch auch das ehemalige Fischerdorf auf der Halbinsel an der nördlichen Adria besucht. Schließlich hat seine Majestät es 1892 per Dekret zur »Kur- und Badeanstalt Grado« geadelt. Und die ist inzwischen dank des Aufstiegs in den Olymp der Sommerbäder das Dorado für Gäste aus der Monarchie geworden. Man ist dem Kaiser unendlich dankbar.
Aber ob er dann auch wirklich kommt? Zur Überraschung aller kündigt Seine Hoheit tatsächlich ihren Besuch an. Die Freude und die Aufregung in Grado sind grenzenlos.
Das viel zitierte »Kaisertürl« zum Strand – da soll Kaiser Franz Joseph durchgegangen sein?
Ob der Kaiser dann in einer der fünf Ville Bianchi nächst dem Strandbad und seinem ausladenden Holzbau im Wasser abgestiegen ist oder, wie kolportiert, in der Villa Erica gleich dahinter, ist nirgendwo niedergeschrieben. Auch was er speiste in den Villen – wahrscheinlich Tafelspitz, weil der damals natürlich zur Gradeser Küche zählte –, ist nicht dokumentiert. Aber dass zu Ehren des Kaisers in aller Eile ein kleines Tor geschaffen wurde, das dem Monarchen den schnellen Zugang zum Strand ermöglichen sollte, das weiß man heute, mehr als ein Jahrhundert danach.
Kurzum: Seine Majestät durchschritt es – und seit Franz Joseph tat das niemand mehr. Das Türl ist seit Kaisers Zeiten zu. Versperrt. Nicht mehr aufzukriegen. Denn der Verbleib des Schlüssels ist ein wohlgehütetes Geheimnis …
So und in variantenreichen Abwandlungen steht die Geschichte in Reiseführern und auf Webseiten über Grado zu lesen. Immer und immer wieder wird abgeschrieben. So wird sie erzählt, von einem Besucher dem anderen, selten von Gradesern selbst, aber immer umweht vom Hauch des Geheimnisvollen, des Verschwörerischen: Pssst!, der Kaiser war hier, und, man glaubt es kaum, durch dieses Tor ist er gegangen.
Es ist eine hübsche Geschichte, die nur einen kleinen Schönheitsfehler hat: Kaiser Franz Joseph war zeit seines langen Lebens nie in Grado.
Das klingt jetzt auch fast unglaublich. Denn seine Hoheit soll von Grado beziehungsweise seinem Ruf als Heilbad so begeistert gewesen sein, dass er sogar Sand von der Adriaküste ins Strandbad Edlach bei Reichenau an der Rax bringen hat lassen – das liegt nicht am Meer, sondern an der eiskalten Schwarza in Niederösterreich, war aber seinerzeit auch Treffpunkt der feineren Wiener Gesellschaft. Nur nach Grado und in den Sand dort setzte Franz Joseph tatsächlich nie einen Fuß.
Der Kaiser zwar nicht, andere Mitglieder der Habsburgerfamilie allerdings bereisten das Seebad sehr wohl. Was in Zeitungen wie dem Neuen Wiener Tagblatt zu der Zeit gebührend vermerkt wird: »Aus Grado wird uns telegraphiert: Bei herrlichem Wetter kamen gestern Nachmittag Erzherzog Franz Ferdinand und Gemahlin, Herzogin Sophie von Hohenberg, mit ihren Kindern an Bord ihrer Yacht … nach Grado. Am Hafen wurden die Gäste von Bürgermeister Dr. Marchesini, dem Stadtpfarrer …« und so fort empfangen. Sie besuchten den Dom, das Museum, den Bau der neuen Seepromenade, und »von dort begaben sich die Gäste zum Badeetablissement … Die rasche Entwicklung Grados, die schönen Bauten und Gartenanlagen fanden den vollsten Beifall der Gäste«, heißt es weiter. »Unter den Ovationen der gesamten Bevölkerung« verabschiedete sich der hohe Besuch nach einem Tag auch schon wieder und versprach, zur Badesaison wiederzukommen.
Das war im April 1914. Der Mord am Thronfolgerpaar in Sarajewo zwei Monate später machte vieles und auch dieses Versprechen zunichte.
Andere Mitglieder des Adelsstandes blieben hingegen wochenlang zur Sommerfrische am Meer, selbst im Juli 1914 noch: »Unter den Neuankommenden befinden sich: Prinzessin Windischgrätz, Erz. Gräfin Attems, Erz. Friedrich Graf Beck, Gräfin Degenfeld, Graf Starhemberg, Marie Gräfin von Bellegarde u. a. m.«, rapportiert die Reichspost noch, als sich die dunklen Wolken des großen Krieges schon über Europa zusammenbrauten. Die Monarchie war in Grado aber vor allem durch den höheren Mittelstand vertreten: Bedienstete des Hofstaates kamen zur Erholung an die Küste, Offiziere, Rechtsanwälte, Ärzte und Architekten, Beamte, Kaufmannsfamilien und Industrielle. Zudem gaben einander Künstler die Sommerfrische-Türen in die Hand, von Arthur Schnitzler über Otto Wagner bis Stefan Zweig – nur der Kaiser selbst ist nie dagewesen. Auch wenn es ihn vermutlich »sehr gefreut« hätte.
Besagte Tür ist übrigens immer nur einfach ein Zugang zum Strand gewesen, der des Nachts abgesperrt wurde. Als Grado um die Jahrhundertwende endgültig zum beliebten Seebad aufgestiegen war, war der lange Sandstrand zunächst noch ohne Umzäunung frei zugänglich. Wobei »frei« natürlich relativ war. In Wahrheit gab es ein strenges Reglement. Die große Attraktion stellte die langgestreckte hölzerne Badeanstalt dar, die auf Eichenpfählen im seichten Meer ruhte. Davor reihten sich die Kabanen im Sand, das waren jeweils vier Stangen und ein großes Tuch darum. Sie dienten dem Umkleiden. Das »Badeetablissement« mit seinen Kabinen und Duschen war streng in eine Abteilung für Männer und eine für Frauen getrennt. Im Meer zu baden, war für beiderlei Geschlecht nur im Badekostüm gestattet, das Sonnenbad ohne Kostümvorschrift fand wieder nur in getrennten Bereichen statt. Lediglich die Kinder waren tatsächlich frei, sich in Badehose überall aufzuhalten. Voraussetzung: Sie mussten unter zehn Jahre alt sein.
Nach dem Badevergnügen, am späteren Nachmittag, verlagerten sich die Attraktionen auf die Promenaden. Dort flanierten die Herren im feinen Anzug und die Damen in eleganten Kleidern mit Hut und Schirm. Man begegnete und grüßte halb Wien, und man lauschte in den Parks, den Grünanlagen oder dem einen oder anderen Hotel den Konzerten des Kurorchesters. Besonders beliebt: Das Hotel Fonzari, eines der ersten großen Kurhotels in Grado, und das Café Secession am Largo San Grisogono, der Hauptstraße entlang des Strandes. Dort saß man im Freien in der Abendsonne, sah und wurde gesehen.
Am Abend verlagerte sich ein Teil des Lebens wieder zurück zum Wasser. Aber nun besuchte man die Badeanstalt nicht des Badens wegen, sondern wegen des dortigen Restaurants. Die Musik spielte für die Kur- und Badegäste auf, es gab Wein, Pilsener-Bier, österreichische Küche und Tanz – und der dunkle Strand links und rechts der Lokalität war vor allem für Burschen und Mädchen die – sagen wir es einmal so: allergrößte Attraktion. Wo sonst konnte man einander so ungestört und so uneingesehen näherkommen als abseits des lukullischen Treibens, am weiten, finsteren Strand? Nur dem Pfarrer des Städtchens, so wird erzählt, stieß das unmoralische Treiben im Gradeser Sand schon länger sauer auf, bis es ihm eines Tages zu viel wurde. Er setzte 1905 den Bau eines Zaunes durch, der bis heute den Strand mit seinen Liegen und den inzwischen hölzernen Kabanen nach Einbruch der Dunkelheit unzugänglich macht. Über viele Jahrzehnte war der Strand in Grado übrigens der einzige abgesperrte Strand in ganz Italien.
Der Strand vor den Ville Bianchi mit den Badezelten und der alten Badeanstalt
Damals sorgte der neue Zaun bei vielen Gradesern und bei Gästen auch für Empörung. Nicht, weil er den nächtlichen Zugang zum Strand unterband, sondern weil er auch das Flanieren oberhalb des Strandes unmöglich machte: Die Promenade war ja noch nicht gebaut. Und für den Zugang zum abgezäunten Bereich wurde plötzlich Eintritt verlangt.
Die Geschichte vom Kaisertürl hat übrigens ein Gradeser Schlitzohr erfunden, das sich angeblich bis heute darüber freut, dass sie so munter weitererzählt wird.
Bis zu den Knien im Wasser stehen, stundenlang – seit jeher Freude vieler Grado-Reisender