Читать книгу Die 12 Häuser der Magie - Schicksalskämpfer - Andreas Suchanek - Страница 12

Mit ein wenig Verspätung

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Matt

Die Schwärze klebte an ihm wie flüssiger Teer, als er aus dem Spiegel taumelte. Keuchend brach er in die Knie. Mit Mühe brachte er seinen rebellierenden Magen unter Kontrolle. Nicht dass nach dem langen Flug von Österreich nach Spanien durch die Nacht noch etwas darin gewesen wäre.

Nachdem Matt sich beruhigt hatte, kam er vorsichtig in die Höhe.

»Nic? Liz?«

Von den beiden gab es keine Spur.

Panisch warf er sich herum, streckte die Hand aus und betastete das schwarze Glas. Es war wieder fest, undurchdringlich. Hatten die Angreifer Nic und Liz durch die Passage zurückgezogen? Aber er war doch zwischen den beiden durch den Spiegel gegangen!

»Nic!«, rief er erneut. »Liz!«

Niemand antwortete.

Erst jetzt bemerkte Matt, dass die Spinnweben verschwunden waren, ebenso der Staub. An der Wand hingen seltsame Eisenarme, in deren Aussparung Glaskugeln ruhten. Anstelle des Gerümpels gab es verschiedene Tische mit kleineren Apparaturen.

»Was ist hier los?«, flüsterte er.

Sicherheitshalber hielt er seinen linken Arm mit der Leder­manschette leicht erhoben. Instinktiv verfiel er in die zweite Sicht. Überall ringsum war Magie, schwebte wie blauer Feenstaub umher. Testweise saugte er einen Teil davon in seinen Anima und bereitete sich gedanklich darauf vor, einen Mystischer Wall auszuführen.

Vorsichtig blickte er aus der Tür heraus auf den Gang, schlich zur Treppe, wartete ab. Nichts geschah. Niemand griff ihn an. Doch auch hier bemerkte er die Veränderung. Die Luft roch anders. Als hätte jemand ein Lagerfeuer angezündet – rußig. Stufe für Stufe stieg Matt ins Erdgeschoss hinauf, öffnete die Tür und betrat den Flur.

Das Erste, was er vernahm, war eine fremde Stimme. Sie gehörte zu einem Mann und kam aus dem Salon. Jemand war hier! Hatte Inés es tatsächlich geschafft und ihre Schicksalswächter oder gar Fatumaris-Abspaltungen die Barriere um das Herrenhaus durchdrungen? Antworteten Nic und Liz deshalb nicht?

Matt schlich zum Salon.

Ein Unbekannter ging darin auf und ab, die Arme vor der Brust verschränkt. Es schien, als führte er Selbstgespräche, brabbelte vor sich hin wie ein Verwirrter. Auf dem Tisch lag eine ausgerollte Konstruktionszeichnung. Von seiner Position aus konnte Matt nicht erkennen, was darauf gezeichnet war, doch der Unbekannte schien sich über etwas zu ärgern. Immer wieder blickte er auf das Papier und schüttelte den Kopf, fuhr mit den Fingern durch sein dunkles Haar. Der Backenbart war gepflegt – und völlig aus der Mode. Instinktiv betastete Matt seinen eigenen Bart. Die grünen Augen des Fremden waren klar und durchdringend, jedoch in weite Ferne gerichtet, als beschäftigte er sich mit einem unlösbaren Problem.

»Es muss möglich sein«, flüsterte er. »Die Zahl ist entscheidend. Und das Glas.«

Stille entstand.

Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, dass der Fremde ihn anblickte. Sein Spiegelbild war in der Vitrine zu erkennen, der Unbekannte hatte es entdeckt.

»Entschuldigung«, haspelte Matt. »Ich …«

»Schickt Euch der Bund?«, blaffte der Mann. »Wie Ihr meine Sicherungen auch durchdrungen haben mögt, hinaus mit Euch.«

»Welcher Bund?«

»Dieser Bart.« Der Fremde kam mit zusammengekniffenen Augen näher, fasziniert von Matts Anblick. »Kommt Ihr aus der Gosse?« Ein analytischer Blick tastete ihn von oben bis unten ab. »Und diese Lumpen. Seid Ihr ein wilder Magier?«

»Ich …« Wieder strich sich Matt über die struppigen Wangen. »Hatte über Nacht keine Zeit … wir waren auf der Flucht … Wer sind Sie? Und wie kommen Sie ins Haus?!«

»Es ist meines«, gab der Fremde zurück. »Der Eindringling seid Ihr. Mein Name ist Egmont Chavale.«

Instinktiv lachte Matt auf. »Das ist lächerlich. Egmont Chavale ist schon lange tot.«

»Das hättet Ihr wohl gern.«

Erst jetzt registrierte Matt, dass der Fremde während des Gesprächs langsam in Richtung Tisch getreten war, wo ein Spazierstock lag. Im Knauf funkelte ein bernsteinfarbener Anima.

»Lasst es besser bleiben!«, fauchte er.

Sicherheitshalber ließ er ein paar Funken aus seinem eigenen Anima in die Luft steigen. Wie feuerrote Glühwürmchen flirrten sie zu Boden.

»Also schön, Ihr wollt mich in meinem Haus bedrängen. Doch ich werde dem Bund keinesfalls meine Forschungsergebnisse übergeben. Die Wahrheit ist für alle gedacht. Den Kontaktor habt Ihr auch nicht bekommen.«

»Sie sind echt gut«, musste Matt gestehen. »Ist das alles hier magisch erschaffen, um mich zu verwirren? Wo sind Liz und Nic?«

»Das sind seltsame Namen, ich habe sie noch nie gehört. Wie habt Ihr den Schutz überwunden?«

Matt seufzte. »Sie wissen genau, dass ich durch den Spiegel gekommen bin. Also lassen Sie …«

»Den Spiegel?!«, unterbrach ihn der angebliche Egmont Chavale. »Aber das …« Seine Augen blickten hektisch hin und her. »Natürlich. Der wirre Blick, das verwahrloste Äußere … Ihr kommt aus einem anderen Reich.«

Ohne auf Matts Anima zu achten, raste Chavale davon, nur um kurz darauf mit einer Lupe zurückzukehren. Das ovale Glas war von einem Rahmen eingefasst, der mit seltsamen Zeichen bedeckt war.

»Hm. Hm.« Der wirre Alte begutachtete Matt wie einen seltenen Schmetterling. »Wie hoch die Intelligenz wohl ausgeprägt ist.«

»Lassen Sie den Unsinn. Ich komme nicht aus irgendeinem Reich, sondern aus Irland. Na ja, da bin ich geboren. Eigentlich bin ich in Spanien durch den Spiegel getreten.«

Der Kerl ließ das Glas sinken. »Spanien? Gibt es dort auch eine alte Stätte?«

»Im Mausoleum von Franko.«

»Davon habe ich noch nie gehört. Seid Ihr ein Archäologe?«

»Ich bin Matt. Und nein, wir waren … das ist eine lange Geschichte.« Es wurde immer ominöser. »Was ist mit dem Haus passiert? Als wir aufgebrochen sind, war alles verlassen und leer.«

Der Unbekannte wich zurück. Auf seinem Gesicht erschien ein seltsamer Ausdruck, eine Mischung aus Faszination und Erschrecken. »Verlassen«, echote er. »Sagt mir, welches Jahr schreiben wir?«

»Das Jahr?« Matt runzelte die Stirn und nannte es ihm.

»Ich wusste es! Die Spiegel der alten Stätten können so viel mehr.« Auf seinen nach wie vor verwirrten Blick ergänzte Chavale: »Es tut mir leid, mein junger Freund, aber Ihr befindet euch nicht nur weit entfernt von Spanien, Ihr seid auch in der Zeit gereist. Das hier ist das Jahr 1744.«

Eine Gänsehaut überzog Matts Körper, als er die Worte langsam begriff. Dicht gefolgt von eiskaltem Schrecken. »Aber wie ist das möglich?«

»Sagt Ihr es mir. Ich ahnte ja, dass die Spiegel zu mächtigen Dingen fähig sind, aber Zeitreise …« Chavale nahm erneut seinen Gang auf. »Sie müssen irgendwie auf ähnliche Art wie die normalen Spiegel die Kraftlinien der Erde anzapfen. Doch wie durchstoßen sie das Zeitgefüge?«

»Hallo?«

»Hm? Oh, natürlich.« Chavale flitzte davon, öffnete die Kellertür und polterte nach unten.

Matt folgte ihm gezwungenermaßen.

Vor dem Spiegel schnappte sich der Wissenschaftler weitere Apparaturen von seiner Werkbank und untersuchte das schwarze Glas. »Ja! Da sind Restspuren.« Es hätte nicht viel gefehlt und Chavale wäre auf und ab gehüpft wie ein Kind am Weihnachtsmorgen.

»Das ist toll«, erklärte Matt trocken. »Könnten Sie jetzt bitte die Passage wieder öffnen?«

»Wieder öffnen?« Der Magier schien fassungslos. »Das kann ich nicht, konnte ich nie. Der Spiegel steht hier, damit ich ihn studieren kann. Ihr seid doch hindurchgetreten, öffnet das Portal selbst.«

»Das kann ich nicht.« Matt starrte auf das Glas. »Ein Freund von mir, Nicholas Ashton, besitzt die Gabe, die dafür notwendig ist. Aber … ich glaube, das weiß er nicht. Es war quasi ein Unfall.«

»Das … ist schlecht.« Chavale ließ die Apparaturen sinken.

Mit den hochgeschlagenen Hemdsärmeln, der feinen Stoffhose und dem gepflegten Bart wirkte er wie ein zum Leben erwachter Anachronismus. Andererseits sahen in dieser Zeit wohl alle so aus. Es war Matt, der nicht hierher passte.

»Es muss doch eine Möglichkeit geben, das Portal wieder zu öffnen! Ich will nach Hause. Meine Freunde brauchen mich.«

Mit einem Mal kehrte alles zurück. Der Verrat von Inés Dubois, die Flucht, der Tod seines Bruders und die Tatsache, dass Angelos Freund noch am Leben war.

Matt war allein.

So weit entfernt von seinen Freunden, seiner Familie, als stünde er auf dem Mond.

In Chavales Augen war ein sanfter Glanz getreten. »Ich kenne diesen Blick nur zu gut. Ihr habt jemanden verloren.« Er trat zu Matt und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Kommt mit. In solchen Fällen hilft ein Scotch. Wir finden gemeinsam einen Weg.«

Es war seltsam. In einem Augenblick war der Wissenschaftler fasziniert gewesen, hatte in Euphorie gebadet, im nächsten wirkte er beherrscht, ja, sanft.

Sie stiegen die Stufen empor.

Irgendwie fand Matt den Weg zum Sessel, hielt plötzlich ein Glas mit honigfarbener Flüssigkeit in der Hand und trank. Es brannte in seiner Kehle. Chavale schlug ihm erneut kameradschaftlich auf die Schulter.

»Einst war ich ein junger Mann.« Der Magier sank auf das Sofa. »Hals über Kopf verliebte ich mich auf einer Reise nach Paris in die wunderschöne Brie Chavale. Sie war die Liebe meines Lebens.« Er lächelte in sein Scotchglas. »Alte adlige Magierfamilie. Ich malte mir keine großen Chancen aus, doch sie erwiderte meine Liebe. Wir heirateten heimlich, denn ihr Vater stimmte nicht zu, obgleich ich mütterlicherseits auch französischer Abstammung bin. Es war eine magische Verbindung. Um den Schmerz ihrer Familie nicht auf uns zu ziehen, nahm ich ihren Namen an.«

Er lächelte bitter.

»Der Vater hat es wohl nicht gut aufgenommen.«

Chavale lachte auf. »Wir verkündeten ihm die Wahrheit mit einem Lächeln.« Mit einem schnellen Zug leerte er das Glas. »Er tötete seine Tochter auf der Stelle.«

Matt zuckte zusammen. »Wie bitte?«

»Verbrannte sie vor meinen Augen. Danach versuchte er es bei mir. Wir kämpften, ich gewann. Dabei starb auch er.«

»Das ist …«

»Die Ehre ging ihm über alles. Und ich war nicht gut genug.« Er stellte das Glas beiseite. »Es gab mehr als einen Tag, an dem ich mir wünschte, die Uhr zurückdrehen zu können. Aber das Schicksal lässt sich nicht bezwingen.«

Wenn Matt solche Geschichten in alten Büchern las oder, wie jetzt, erzählt bekam, fragte er sich, wie die Menschheit überhaupt so lange hatte überleben können.

»Aber genug, Ihr seid an der Reihe.« Chavale schlug seine Beine übereinander. »Eine Geschichte für eine Geschichte.«

Zuerst langsam, dann immer schneller sprudelten die Worte aus Matt heraus. Von seinem Bruder, Nic und Liz, den Schicksalswächtern und dem Verrat von Inés. Irgendwann sackt er kraftlos zusammen.

»Das klingt alles sehr … interessant.« Chavale hatte schweigend gelauscht und lediglich ab und an Zwischenfragen gestellt. »Was sind Schicksalswächter? Und diese zwölf Häuser? Klingt faszinierend. Als hätte die Gesellschaft endlich alle Unstimmigkeiten überwunden – zumindest was grundlegende Prinzipien angeht. Gibt es noch Kriege?«

Matt stöhnte innerlich auf. Richtig, die 12 Häuser waren erst durch das Regnum entstanden. Zuvor hatten sich immer wieder Gruppen gebildet, die eifersüchtig über ihre Artefakte und Errungenschaften gewacht hatten. Doch als der Dämon die magische Gesellschaft an den Rand der Auslöschung trieb, war alles anders geworden.

»Mehr als genug«, sagte er kurz angebunden. »Aber das spielt doch jetzt auch keine Rolle.«

Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er sich in der Vergangenheit befand. Konnte er durch einen falschen Schritt, eine simple Information an Chavale, die Zukunft verändern? Was, wenn er es bereits getan hatte?

»Ich sehe an deinem erschrockenen Gesichtsausdruck, dass du dir der Konsequenzen deiner Reise bewusst geworden bist, mein junger Freund«, sagte Chavale und wechselte in die persönliche Anrede. »Es tut mir leid um deinen Bruder. Nimm dir Zeit zum Trauern, sobald du zurück bist. Doch wir müssen dich so schnell es geht in deine Zeit schicken. Sollten die falschen Personen erfahren, dass du dich hier befindest, werden sie deiner habhaft werden wollen. Machtvolle Geheimbünde trachten beständig nach Einfluss. Ich versuche, meine Erfindungen zum Wohle aller einzusetzen, aber man sieht am Kontaktor, dass das nicht immer funktioniert.«

In den Geschichtsbüchern stand, dass Egmont Chavale 1724 den Kontaktor entwickelt hatte, womit die magische Gesellschaft mobile Kommunikation lange vor den gewöhnlichen Menschen erhalten hatte. Vier Jahre später hatte er die ersten Spiegel in die Kraftlinien der Erde eingefädelt, um ein Netzwerk aufzubauen. In den Jahren danach war es ruhig um ihn geworden. Wie Matt jetzt wusste, war das die Zeit, in der sich der Wissenschaftler mit den schwarzen Spiegeln beschäftigt hatte.

1744 war er spurlos verschwunden.

Das war in diesem Jahr. In wenigen Monaten.

Es gluckerte, als Chavale mehr von dem Scotch nachgoss. Matt trank. Er wollte die geballte Wucht an Problemen vergessen. Am liebsten hätte er sich in den Armen von Angelo verkrochen, dessen Muskeln gespürt und damit das Wissen, dass er sich fallen lassen konnte. Doch das würde wohl nie wieder sein.

Gabriel war am Leben.

Ohne darüber nachzudenken, trank er den dritten Scotch. Bei jedem Glas schenkte sich Chavale auch selbst ein und stürzte die Flüssig­keit hinunter. Der Wissenschaftler schien durch seine Erzählungen in die Vergangenheit zurückversetzt worden zu sein, alte Wunden waren aufgerissen.

»Es geht vorbei, junger Freund«, versprach Chavale. »Irgendwann ist der Schmerz ein Hintergrundlauschen … ich meine Rauschen. Du wirst gar nicht mehr daran denken. Nur manchmal. Wenn du daran denkst. Hm. Eben hat der Satz noch Sinn ergeben.«

»Sinn?«

Sie begannen über die Sinnhaftigkeit des Seins zu philosophieren. Mitten in der Diskussion begann Matt zu lachen. Er saß in der Vergangenheit fest, im Haus eines Mannes, der vor langer Zeit gestorben war. Und sie führten philosophische Gespräche, während sie Scotch tranken.

An welcher Stelle hatte er den Weg verloren?

Immerhin, er musste hier keine Angst davor haben, dass ihn jemand verfolgte oder Inés vor der Tür stand.

Ihm kam ein verwegener Gedanke.

Konnte er womöglich tatsächlich in die Zeit eingreifen? Eine Warnung an Jeremiah schicken, bevor dieses Biest zuschlagen konnte? Vielleicht ließ sich sogar das Regnum verhindern. Die Möglichkeiten waren unbegrenzt.

»Ich bin in der Vergangenheit!«

Chavale betrachtete ihn mit trüben Augen und schief gelegtem Kopf. »Das bist du, mein junger Freund. Und alle Ideen, die dir jetzt womöglich sinnvoll erscheinen, werden am morgigen Tag ihren Charme verloren haben. Du wirst realisieren, dass du nur ein winziges Steinchen bist, ein Zahnrad in einem Uhrwerk von den Ausmaßen einer Kathedrale.«

Er sprach weiter, doch seine Worte wurden zu einem monotonen Gebrabbel, das keinen Sinn mehr ergab.

Matt beschloss, noch einen Scotch zu nehmen und dann Pläne zu schmieden. Er würde exakt notieren, wie er die Vergangenheit verändern konnte, um die Zukunft neu zu gestalten. Mit allen Details. Auch wenn er nicht allzu viel über den Verlauf der Geschichte vor dem Regnum wusste. Oder danach.

Trotzdem.

Es würde funktionieren. Er konnte alles schaffen. Die Welt lag ihm zu Füßen.

Ein weiteres Glas Scotch folgte.

Seine Gedanken zerfaserten, wurden zu einem zähflüssigen Honig. Wohlige Wärme umfing ihn.

Matt schlief ein.

Die 12 Häuser der Magie - Schicksalskämpfer

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