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2. Gemeinde, Pfarrei, Pfarrgemeinde – eine babylonische Sprachverwirrung

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Von Andreas Unfried

Mit dem Konzil und mit der Synode haben die Katholiken die Gemeinde entdeckt. Spät genug möchte man aus evangelischer Perspektive sagen. Aber dafür immerhin nachhaltig, können wir dagegenhalten! Der Pastoraltheologe Ferdinand Klostermann stand im und nach dem Konzil für den Slogan: „Wo Pfarrei war, soll Gemeinde werden“. Und das entsprechende pastorale Programm war erfolgreich wie kaum eines in der deutschen Kirchengeschichte. Weder haben wir je einen so hohen Grad an ehrenamtlicher Mitarbeit in der Kirche gesehen wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, noch stand uns je eine differenziertere Theologie der Gemeinde zur Verfügung als im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils und seines regionalen Appendix, der Würzburger Synode von 1972 bis 1975.

Die Würzburger Synode entwickelt klarer, als das dem Konzil möglich war, das Programm der Gemeindetheologie: Wo bisher das Milieu die Kirchenmitgliedschaft prägte, sollte nun die bewusste Entscheidung für den Glauben stehen. Der Christ der Zukunft werde ein Mystiker sein, sekundierte dazu der führende Dogmatiker jener Zeit, Karl Rahner, und meinte damit einen Christenmenschen, der selber etwas erfahren hat mit seinem Gott. Allerdings muss man konstatieren, dass die mystagogische Erschließung der christlichen Botschaft in jenen Jahren faktisch eher unterentwickelt blieb und die Umsetzung des Prinzips der Gemeinde weniger unter dem Fokus der Nachfolge Jesu als unter dem Fokus der Gemeinschaftsbildung geschah.

Ohne verantwortungsvollen Projekten der Gemeindeentwicklung zu nahe treten zu wollen, behaupte ich, dass der Prozess der Neuorientierung vielfach nach dem Muster verlaufen ist: Wo „Pfarrei“ war und nun „Gemeinde“ werden soll, da gründen wir „Pfarrgemeinde“. Ich will damit sagen, dass das neue Paradigma das alte nicht einfach ablöste, sondern dass man den alten Idealen die neuen einfach an die Seite stellte. Die Fronleichnamsprozession sollte so feierlich wie immer sein, aber dafür jetzt mit begleitendem Kinderwortgottesdienst und Neuem Geistlichem Lied von der Jugendband. Bei alledem gab man sich wenig Mühe um die Definition der Begrifflichkeiten. Pfarrei, Gemeinde, Pfarrgemeinde – letztlich sollte sich alles gleich anfühlen, mit dem deutlichen Akzent auf den Primat der Gemeinde vor Ort. Sie war die maßgebliche Sozialgestalt der Kirche Jesu Christi auf Erden. An manchen Orten wurde das ideologisch so weit getrieben, dass die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst in einer Nachbarpfarrei als unsolidarischer Akt gegenüber der eigenen Gemeinde gewertet wurde. Aber auch wenn das seltene Überzeichnungen gewesen sein mögen, so ist doch aufs Ganze festzuhalten, dass sich über die Jahre und Jahrzehnte vielfach und vielerorts eine sehr selbstbewusste (und teilweise sehr eigene) Identität als Gemeinde herausprägte.

Dabei gab man sich wie gesagt häufig wenig Rechenschaft über die konkrete Bedeutung des Begriffs „Gemeinde“. Vielfach schillert der Begriff zwischen theologischer Norm (vgl. die Aussagen der Apostelgeschichte zur Urgemeinde in Jerusalem), der Bezeichnung für die Gruppe der regelmäßigen Kirchgänger oder auch der Umschreibung für den Kreis der ehrenamtlich Engagierten. Kann man die Pfarrei soziologisch einigermaßen präzise erfassen (als Gesamtheit der in einem territorial umschriebenen Gebiet wohnhaften Katholikinnen und Katholiken), so ist dies für den Begriff „Gemeinde“ ungleich schwieriger. Was ist ein „regelmäßiger Kirchgänger“? Zählen jene, die einmal im Monat gehen, auch schon dazu? Und was ist mit denen, die regelmäßig immer Weihnachten kommen (allerdings nur da)? Vermeintlich einfacher ist es dann schon, den Gemeindebegriff auf die Mitarbeit in gemeindlichen Gruppen und Kreisen zu beziehen – freilich mit der schwierigen Konsequenz: Wie fasst man jene treuen Katholiken, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, aber – aus welchen Gründen auch immer – sich nicht in der Gemeinde engagieren wollen oder können? Der Begriff der Gemeinde bleibt daher neben der theologischen Norm („Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen“) ein eher emotionaler.

Das alles wäre nicht weiter schlimm, wenn sich nicht vieles, was man unter „Nähe“ in der Seelsorge versteht, auf diesen Gemeindebegriff bezöge. Eines der Hauptargumente gegen die „XXL-Pfarreien“ äußert ja die Befürchtung, durch diese ins Riesenhafte aufgeblähten Strukturen ginge die Nähe in der Seelsorge verloren. Im Blick ist dabei das alte Bild von der Herde und ihrem Hirten, der jedes seiner Schafe kennt und dem jedes einzelne mit seinem Schicksal am Herzen liegt – ein Bild, das übrigens auch kirchlich hochoffiziell im can. 529 des kirchlichen Rechtsbuchs CIC als Aufgabenumschreibung des Pfarrers beschworen wird. Aber gleichgültig ob diese Art der Hirtenspiritualität traditionell vom Pfarrer oder nachkonziliar-modern etwa vom Pfarrgemeinderat wahrgenommen werden soll, immer wird man soziologisch auf die Wahrheit stoßen, dass dies jenseits einer Gemeindegröße von, sagen wir, 300 Mitgliedern ein unerfüllbarer Wunsch bleiben wird. Schon in den sich jetzt langsam verklärenden angeblich goldenen Zeiten der frühen siebziger Jahre konnte der Pfarrer also nicht alle Gemeindemitglieder persönlich kennen, viel weniger konnte er allen nahe sein. Zuzugeben ist, dass viele Pfarrer aber nach wie vor genau diesen Anspruch an sich selbst haben und dies auch ihren Gemeinden signalisieren – häufig auch bei Übernahme weiterer Pfarreien in Personalunion. Vielfach wurde und wird dann versucht, durch effiziente Terminplanung und geschickte Organisation zumindest den Anschein zu erwecken, jederzeit und für alle da sein zu wollen.

Auf diese Weise wurde die Vorstellung genährt, persönliche Nähe durch den Seelsorger (im Idealfall der Priester, wenn es nicht anders geht, aber eben auch die Pastoralreferentin oder der Gemeindereferent) sei der gemeindliche Normalfall. Wenn sie als defizitär erfahren wurde, dann handelte es sich um das persönliche Defizit des jeweiligen Seelsorgers. Und so sitzt es auch, glaube ich, in der Selbstwahrnehmung vieler Priester und pastoraler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fest. Allenfalls wurde zur Entlastung der einzelnen Personen die These vertreten, dass in Wahrheit Rom Schuld habe, weil es aus bekannten Gründen der Reformunfähigkeit eine angemessene Ausstattung der Gemeinden mit Seelsorgern verhindere. Jetzt hielte ich die Eröffnung neuer Zugangswege zum Weihesakrament durchaus für sinnvoll, ja für notwendig, ebenso wie eine Öffnung der Kirche für die Gleichberechtigung der Frau. Auf einem anderen Blatt steht für mich allerdings, dass es eine seelsorgliche Betreuung, wie im Hirtenbild der eben beschriebenen Gemeindetheologie vorgestellt, in der ganzen Kirchengeschichte wohl nie gegeben hat und aus eigentlich nachvollziehbaren Gründen auch nicht geben kann. Selbst die urgemeindlichen Verhältnisse dürften andere gewesen sein – sicher jedenfalls die Wirklichkeit der paulinischen Gemeinden, die ihren Gründer und Seelsorger oft nur wenige Monate in ihrer Mitte hatten und ansonsten nur per Bote oder brieflich mit ihm in Beziehung stehen konnten.

Die Erfahrung von Nähe ist sicherlich andererseits die entscheidende Kategorie, an der sich eine erfolgreiche Pastoral von einer misslingenden unterscheiden lässt. Es muss aber präziser gefragt werden: Von wem geht diese Nähe aus? Und wem ist man nahe? Letzteres ist die Frage danach, wer zur Gemeinde gehört mit all den bereits erörterten Unsicherheiten der Definition. Ersteres ist die Frage danach, wer Subjekt der Seelsorge ist. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts haben wir dazu heftig die These der Befreiungstheologie diskutiert, dass jeder Getaufte und Gefirmte in dieser Weise Subjekt der Seelsorge werden solle. Die gesamtkirchliche Zurückweisung der Befreiungstheologie bezog sich meines Wissens nie auf diese Einsicht, die für sich in Anspruch nehmen kann, dass sie fest auf der Lehre von der Kirche, wie sie auf dem Konzil entwickelt worden ist, aufruht. Wenn dies aber stimmt, dann kommt für die Antwort auf die Frage, wer denn Nähe in der Seelsorge vermitteln kann, ein sehr viel größerer Personenkreis in Frage, als von uns bisher gemeinhin vorgestellt. Das ist auch nur gut und richtig so, denn der Kreis der seelsorglichen Zielgruppe wird sich ja auch erheblich weiten müssen, wenn wir uns nicht einfachhin zufriedengeben wollen mit der zunehmenden „Verkernung“ unserer Gemeinden und ihrer Verengung auf nur wenige gesellschaftliche Milieus.

Für problematisch halte ich dabei den gängigen Sprachgebrauch der „Pfarrgemeinde“, auch wenn er seit vielen Jahren bei uns „geadelt“ ist durch den „Pfarrgemeinderat“ und im alltäglichen Gebrauch der uns vertrauteste Begriff sein mag. Schwierig ist hier, dass der Begriff die Ebenen durcheinanderbringt, indem er eine soziologisch-organisatorische Begrifflichkeit (Pfarrei = Gesamtheit der auf einem bestimmten Territorium wohnhaften Katholikinnen und Katholiken) mit einem normativen Begriff wie dem der Gemeinde schlicht in eins setzt. Natürlich gibt er damit eine kirchliche Realität wieder, aber eben eine, die uns heute, so meine Überzeugung, zunehmend zum Problem wird. Ja, wir haben seinerzeit unseren Klostermann gelesen und versucht, aus „Pfarreien“ „Gemeinden“ zu machen. Indem wir aber faktisch „Pfarr-Gemeinden“ gebaut haben, haben wir die Erwartungen, die sich mit der alten Struktur verbunden haben, schlicht in die neue Struktur mitgenommen und die Erwartungen der neuen Struktur dazuaddiert. Der Pfarrer sollte fortan Hirte und Gemeindeleiter sein, moralische Autorität und Moderator von Willensbildungsprozessen, Spender der Sakramente und Animateur für ein möglichst reichhaltiges Gemeindeleben, starker Mann mit Richtlinienkompetenz und geschickter Makler zwischen verschiedenen Gemeindeinteressen – kurz: die eierlegende Wollmilchsau, als die sich viele Mitbrüder heute fühlen.

In unseren Diskussionen habe ich daher immer versucht, der beschriebenen „babylonischen Sprachverwirrung“ zu entgehen und terminologisch sauber von der Pfarrei zu sprechen, wenn vom theologischen und organisatorischen Rahmen die Rede ist. Pfarrei meint dabei im Sinne des CIC, can. 518, eine auf Dauer vom Bischof errichtete Gemeinschaft von Gläubigen, die einem Pfarrer anvertraut ist. Theologisch lässt sich die Pfarrei am sinnvollsten wohl verstehen als die kleinste Einheit, in der Kirche als Ganzes mit ihren vier Wesensvollzügen (gefeierter Glaube, gegebenes Zeugnis, tätige Nächstenliebe und praktizierte Gemeinschaft) verwirklicht ist. Unter Gemeinde bzw. Kirchort verstehe ich demgegenüber Orte christlichen Glaubens, wo sich Glaubensleben verbindlich und dauerhaft ereignet. Dies können in erster Linie natürlich die bisherigen Pfarrgemeinden mit ihren Kirchen und Gemeindehäusern, Kindertagesstätten und Pfarrbüros sein. Dies könnten aber auch Orte wie ein Behindertenheim, ein Eine-Welt-Laden oder ein Hospiz werden – immer unter der Voraussetzung, dass sich dort kirchliches Leben dauerhaft und verbindlich ereignet. Ohne die Auswirkungen einer solchen Neudefinition von Kirchorten bereits absehen zu können, würde ich mir davon einiges versprechen, was die Überwindung des pastoralen Schismas zwischen Caritas und Gemeindepastoral betrifft oder auch die Verengung des kirchlichen Lebens auf nur wenige Milieus.

Der Begriff der Kirchengemeinde behält seine Bedeutung innerhalb des Kirchenvermögensverwaltungsgesetzes und meint dort die juristische Person, also das Rechtssubjekt, das Verträge schließen und rechtlich verbindliche Absprachen und Verpflichtungen eingehen kann. In der „Pfarrei neuen Typs“ ist die Kirchengemeinde identisch mit der Pfarrei und wird konkret vertreten durch den Verwaltungsrat.

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