Читать книгу XXL-Pfarrei - Andreas Unfried - Страница 9
1. Warum nicht alles bleiben kann, wie es ist. Und warum es besser ist, den Wandel zu gestalten, als ihn zu erleiden
ОглавлениеVon Andreas Unfried
Alle vier Jahre ist in unserem Bistum Visitation. Bischof oder Weihbischof ziehen dann durch den Bezirk und besuchen die Gemeinden und Pastoralen Räume. In der Regel wird dies begleitet durch eine Konferenz zu Beginn der Visitationsreise und einer zum Abschluss derselben. Mit schöner Regelmäßigkeit werden dabei auch die aktuellen statistischen Zahlen vorgestellt: zum sonntäglichen Kirchgang, zur Mitgliederbilanz, zur Sakramentenspendung – seit neuestem auch zu den gesellschaftlichen Milieus, wie sie in der SINUS-Studie beschrieben werden. Und jedes Mal zur großen Überraschung aller sind die Zahlen wieder schlechter geworden. Es sind mehr gestorben und ausgetreten, als getauft werden wollten. Es sind wieder weniger geworden, die sonntags zur Kirche gehen, und sogar weniger, die ihr Kind zur Erstkommunion anmelden. Von den Eheschließungen ganz zu schweigen. Ich erlebe das jetzt (nehme ich meine Ausbildungszeit hinzu) seit beinahe 25 Jahren so. Immer sind alle tief betroffen. Immer sagen alle, so könne es nicht weitergehen und man müsse ganz grundlegend etwas ändern. Fragt man dann aber genauer nach, was man denn zu ändern gedenke respektive was man in den letzten vier Jahren geändert habe, dann hört man (wenn überhaupt) meistens Rezepte vom Schlage: Da müssen wir uns eben mehr anstrengen und uns mehr Mühe geben. Da wird dann der Firmkurs zum Katechumenat für Jugendliche ausgebaut und aus der Erstkommunionvorbereitung wird eine mystagogisch-missionarische Glaubensschule für glaubensferne Eltern. Nichts gegen Anstrengung in der Pastoral. Nichts gegen neue Konzepte. Aber mit Verlaub: Sie laufen bei uns meist nach dem Prinzip: „Mehr vom Gleichen“. Es ist aber sehr fraglich, ob man ein Konzept, das die Erwartungen nicht erfüllt hat, tatsächlich verbessert, wenn man es einfachhin fortschreibt. Dem Fußball-Trainer, der angesichts einer Niederlagenserie seines Teams sein Spielsystem nicht überprüft und Varianten ausprobiert, wirft man spätestens nach der fünften Niederlage in Folge vor, die Mannschaft nicht mehr zu erreichen. Der goldene Handschlag ist dann meist nicht mehr weit. Enthebt uns aber unsere Arbeitsplatzsicherheit der Notwendigkeit, nach echten Reformen zu suchen? Das würde wohl niemand auch nur heimlich denken.
Verbreitet höre ich auf die Frage, warum man nicht versuche, etwas zu ändern in der Gemeindeseelsorge, auch die Antwort, das würde sowieso nichts nützen, da das Problem viel tiefer greife. Im Grunde hinge die Misere an der grundsätzliche Reformunfähigkeit der Kirche selbst. Und solange nicht tiefgreifende kirchliche Reformen, wie die Aufhebung des Pflichtzölibats, die Ermöglichung des Zugangs zum Weiheamt für die Frau, die Korrektur von offenkundig dem modernen Menschen nicht mehr zumutbaren Dogmen wie der Unfehlbarkeit des Papstes usw. usw., solange dies alles nicht in Sicht sei, sei der Versuch, vor Ort etwas zu reformieren, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Diese These hat natürlich etwas für sich: Erstens beweist sie sich sozusagen selbst. Denn ihre Anhänger brauchen nichts weiter zu tun, als untätig zu bleiben und zuzusehen, wie alles immer schlimmer wird. Zweitens hat sie den Vorteil, dass man selber an nichts schuld ist. Die Verantwortung liegt ja anderswo. Und man selbst hat ja oft genug gewarnt. Der gravierende Nachteil der Theorie ist allerdings, dass es den Schiffspassagieren auf der Titanic nicht wirklich etwas genutzt hätte, wenn sie schon beim Auslaufen aus dem Heimathafen den Kapitän auf die grundsätzliche Gefährlichkeit winterlicher Überquerungen des Atlantiks und die Unberechenbarkeit von Eisbergen aufmerksam gemacht hätten. Erhobenen Hauptes hätten sie zwar am Ende sagen können, dass sie es ja schon immer gewusst hatten. Untergegangen wären sie aber genauso wie alle anderen.
Wenn uns also etwas liegt an dieser Kirche, in der die meisten von uns von Kind auf groß geworden sind, dann sollten wir schleunigst zusehen, dass wir tatsächlich etwas ändern an den Zuständen, wie sie derzeit herrschen und sich immer weiter verschlimmern. Machen wir dazu einfach ein kleines Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, der Papst würde morgen feierlich erklären, dass ab sofort der Zölibat für Neupriester nicht mehr obligatorisch verlangt würde und das Diakonenamt künftig für Frauen geöffnet werde. Was würde passieren? Es gäbe natürlich einen medialen Rummel sondersgleichen. Nehmen wir den optimalen Fall, dass es darüber zu keiner Kirchenspaltung käme, sondern im Gegenteil eine Hinwendung der Jugend zur Kirche geschehe, dann würden in den Folgejahren sicherlich die Zahlen der Studierenden auf das Diplom in Theologie erheblich steigen. In fünf Jahren hätten wir dann die ersten Absolventen (und Absolventinnen), die anschließend in die zweijährige praktische Ausbildung übernommen werden könnten – natürlich im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Bistümer und mit dem Blick darauf, eine ungünstige Altersverteilung im pastoralen Personal insgesamt zu vermeiden. Will sagen: Im besten Fall hätten wir mit einer spürbaren Linderung der Personalnot in der Seelsorge in etwa zehn Jahren zu rechnen. Und mit jedem Tag, an dem die Voraussetzungen für unser Gedankenexperiment nicht vorliegen, verschiebt sich der Silberstreif am Horizont weiter nach hinten. Wie gesagt, wenn Sie der Auffassung sind, ohne die große kirchliche Reform sei nichts zu retten, dann ist das eben so. Konsequenterweise sollten Sie dann aber Ihr Engagement in der Kirche gänzlich einstellen, weil es ja sowieso letztendlich für die Katz ist.
Bei aller Sympathie für die prophetische Kritik an der Kirche und ihrer, meiner Ansicht nach, unbestreitbaren Reformbedürftigkeit ist mir aber meine Kirche viel zu lieb und teuer, als dass ich einfachhin zuschauen möchte, wie sie vor sich hin darbt. Ich habe auch grundsätzlich ein Problem damit, Dinge und Entwicklungen einfachhin zu erleiden, ohne versucht zu haben, das Geschehen auch zu beeinflussen. Schließlich sagt mir meine Lebenserfahrung, dass ich schon vielfach das Potential für echte Veränderung gröblich unterschätzt habe. Weder habe ich mir den Fall der Berliner Mauer vorstellen können noch hätte ich geglaubt, dass man Diktatoren gewaltfrei vertreiben kann oder dass eine wirtschaftsliberale Regierung aus der Atomkraft aussteigt. All dies aber ist geschehen – und noch eine Menge anderer unglaublicher Dinge. Dagegen wirkt das Projekt, unsere Gemeinden so zu reformieren, dass sie lebensfähig bleiben (oder wieder werden), ein bisschen wie Kindergeburtstag.
Eines dürfte dabei allerdings klar sein: Bei dem Wandel, der gegenwärtig ansteht, geht es um tatsächlichen Wandel, um echte Veränderung. Es ist die Schwachstelle jeder echten Veränderung, dass das Neue gegenüber dem Alten immer eigenartig farblos bleibt. Es liegt eben erst in der Zukunft. Und wenn man die rosig malt, setzt man sich völlig zu Recht dem Vorwurf der Schönfärberei aus. Man kann schließlich das Gegenteil nicht beweisen. Es liegt ja noch nicht vor. Demgegenüber haben die Kritiker, die vor allem vor den negativen Folgen einer Veränderung warnen, alle Plausibilität für sich, denn alle haben schon soundso oft erlebt, dass prognostizierte Folgen nicht eingetreten sind, während man anschließend mit unvorhergesehenen Nebenwirkungen seine liebe Not hatte. Das Alte, so miserabel und kritikwürdig es auch immer sein mag, hat den unbestreitbaren Vorteil, dass man es kennt. Man hat sich damit arrangiert. Es macht keine Angst mehr. Und wer sich lange genug mit dem Alten herumgeschlagen hat, der hat auch einen Weg gefunden, sich damit zu arrangieren. Denken Sie doch: Kaum waren die Israeliten einst nach dem Exodus in der Wüste Sinai angekommen, da sehnten sie sich bereits nach den „Fleischtöpfen Ägyptens“. Wie oft sie wohl vorher tatsächlich an diesen gesessen hatten? Aber in der Rückschau verklärte sich das Bild. Und die Gegenwart war karg genug, als dass die ferne Verheißung des Gelobten Landes ihre Stimmung nachhaltig hätte heben können.
Rechtfertigen solche Einsichten aber das Nichtstun? Ist auf diesem Hintergrund der Exodus ein Irrtum historischen Ausmaßes gewesen? Doch wohl nicht. Es ist unbestreitbar wahr: Es gibt keine Wandlung zum Nulltarif. Alle Veränderung bedeutet auch Kosten, beinhaltet Abschied und Trauerarbeit. Aber ist es wirklich ein Zukunftskonzept, im Wissen um diesen Sachverhalt und im Versuch, dies alles möglichst zu vermeiden, die Probleme nonchalant auf die nächste Generation weiterzuschieben? Ist solches „Uns trägt es ja noch“ nicht einfach Feigheit, einmal ganz abgesehen davon, dass man sich durchaus die Frage zu stellen hat, was der Geist Gottes von uns erwartet und wozu er uns heute ruft? Es ist doch nicht nur die Erde, die wir von unsern Kindern nur geborgt haben. Das gilt doch auch gleichermaßen von der Kirche.