Читать книгу Heiße Tage - liebestolle Nächte - Andreas Zenner - Страница 6

Vom Suchen…

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Eine Woche später fand das Fußball-Sommermärchen ein jähes Ende. Ein schwarzes Ungeheuer aus Italien namens Balotelli mit halb kahlgeschorenem Schädel bombte Deutschland vom Platz. Die Vision der Europameisterschaft platzte wie ein mit Träumen und Erwartungen zu prall gefüllter Luftballon. Über Nacht verschwanden die Fahnen in den Fenstern und die Autowimpel, wanderten schamhaft in den Kofferraum.

Mein Wunschtraum, von einem Abenteuer mit der schönen Unbekannten jedoch, zersprang nicht. Im Gegenteil, er wuchs sich zur Obsession aus, die mich tagsüber besonders aber des Nachts, wenn ich halbwach im Bett lag, plagte. Sie ähnelte meinen nächtlichen Jagdausflügen mit dem einzigen Unterschied, diesmal konzentrierte sich meine Sehnsucht auf eine einzelne Person. All meine Gedanken kreisten nur noch um sie und ich überlegte krampfhaft, wie ich sie auf unverfängliche Weise wiedersehen könnte. Vor meinem geistigen Auge malte ich mir aus, wie wir uns küssten, miteinander im Bett landeten. Das Prickeln in meinem Bauch, als hätte ich ein Glas Champagner getrunken, wollte auch nach einer Woche nicht weichen. Die Sehnsucht überrumpelte mich mit ungeahnter Wucht, ich konnte mich im Büro nicht mehr konzentrieren und Erika machte mich vorwurfsvoll auf drei schwerwiegende Fehler aufmerksam. So konnte es nicht weitergehen.

Ich beschloss nach ihr zu suchen, auch wenn meine Chancen sie zu finden gegen Null gingen. Ich kannte ja nicht einmal ihren Namen. Das Trugbild ihres halb entblößten Busens raubte mir den Verstand und ich bemerkte wie ich häufiger mit meinem kleinen Freund in der Hose dachte als mit dem Kopf. Natürlich hätte ich schnurstracks in die Bar laufen können, doch dazu fehlte mir ohne Alkohol der Mut. Ich wusste sie arbeitete nicht jeden Tag dort und außerdem kam ich mir unendlich peinlich vor. Älterer Mann steigt jungem Mädchen nach, das Gerede konnte ich mir lebhaft vorstellen.

Am Mittwoch fuhr ich nach der Arbeit mit der Linie Siebenundzwanzig vom Stachus bis zur Haltestelle Nordendstraße. Ich wollte ganz unverfänglich das Terrain sondieren, bildete ich mir ein. Ihr vielleicht ganz zufällig über den Weg laufen. Mein Gott, wie lange saß ich schon nicht mehr in einer Straßenbahn, hatte mich von der Tageshektik in den Untergrund, in die U-Bahn drängen lassen. Dorthin wo die Dunkelheit alle Lebensfreude erstickt und Neonlicht die Gesichter seltsam fahl erscheinen lässt. Das Lied von der Trambahnritzen-Reinigungsdame schoss mir durch den Kopf. In meiner Jugend fuhren sie noch, die alten Straßenbahnen mit dem offenen Perron und dem Scherengitter davor. Wir Kinder liebten es im Freien zu stehen während die Häuser gemächlich an uns vorüber zogen. Ich schlenderte durch die mir von früher her vertrauten Straßen, in der vagen Hoffnung, ihr zu begegnen, stolperte über die Gehsteige, das Kopfsteinpflaster meiner Jugend. Ausgetretene Pfade, die mir heute so fremd vorkamen als befände ich mich in einer fremden Stadt und nicht in meinem Schwabing. Die Aktentasche mit den Schriftsätzen, die ich am Abend noch durchsehen musste, unter den Arm geklemmt. In den Achseln meines langärmeligen Hemdes bildeten sich hässliche Schweißflecken. Es war heiß, heiß trotz des späten Nachmittags. Die Schwüle lauerte in den aufgeheizten Straßen, bereit jeden anzuspringen der sich bewegte, gleich einem tollwütigen Hund. Schläfrig schaukelte der Sommer in den Linden, die den Elisabethplatz umstanden, ein wenig Schatten spendeten. An solchen Tagen erinnert mich Schwabing an eine italienische Stadt wie Perugia, oder San Gimignano. Müde klang das Klappern der Kaffeetassen aus der kleinen Konditorei neben dem Spielplatz, der Duft von frisch Gebrühtem kitzelte mich in der Nase. Meine Anspannung wich unmerklich einem Wachtraum, der mich in meine Kindheit zurückschleuderte. Bilder aus Gegenwart und Vergangenheit mischten sich wie die Glassteine in einem bunten Kaleidoskop. Meine Wahrnehmung sprang aufgeregt hin und her wie eine Kompassnadel, die sich nicht entscheiden kann. Es gelang mir nicht Ordnung in meinen wirren Kopf zu bringen. Irritiert setzte ich mich auf eine Bank, beobachtete die im Sandkasten wühlenden Kinder. Die Stadt hatte um den Spielplatz aus Betonpollern und dicken Holzbohlen einen Kral errichtet, einem Bullenkäfig nicht unähnlich. Passend für Kinder, die man um jeden Preis unter Kontrolle haben will. Vor der Umzäunung parkten dicht zusammen geschoben die Kinderwagen in Reih und Glied gleich den Autos auf einem Supermarktparkplatz.

Ich hätte nicht erwartet, dass mich die Erinnerungen an meine Jugend so überrumpeln könnten. Wo war es geblieben, das Schwabing meiner Kindheit? Alles erschien mir an diesem Nachmittag so bieder, so völlig ohne Flair. Wo war der Glanz geblieben, wo der Zauber, wo das Abenteuer? Die Verlockungen meiner Kindheit, die Verheißungen meiner Jugend, hinweg gespült von einer Woge stumpfer Bürgerlichkeit. Untergetaucht der Besitzer des Taschenbuchladens in der Nordendstraße, mit dem wuscheligen Haar und dem immer verschlafenen Blick, der mehr einem Studenten glich denn einem Buchhändler. Wir Gymnasiasten holten uns dort die ersten Anregungen für eine uns erwartende und wie wir glaubten, großartige Zukunft. Wir ahnten noch nichts von den Nackenschlägen des Lebens, dem Schmerz, dem Versagen. Damals brannten wir noch. Lasen Alberto Moravia „Die Gleichgültigen“ und dünkten uns dabei schrecklich intellektuell. Wo ist die Schauburg geblieben, in der vor vierzig Jahren noch die neuesten Filme über die Leinwand flimmerten. Wir gingen nicht in diesen Kinokommerzpalast. Wir lümmelten uns lieber in den verschlissenen Plüschsessel im Occam oder im Isabella, bei Kunst und Gauloises. Das Gebäude steht noch, grau und massig, aber mit seinem abblätternden Putz heruntergekommen. Nach einem Film, nach der Tanzstunde hockten wir im Hahnhof an blankgescheuerten Holztischen bei einem Schoppen Wein und lästerten. Es musste immer der billigste sein, die Nummer 1a, ganz oben auf der Karte. Wenn uns der Hunger plagte, wir waren immer hungrig, bedienten wir uns an trockenem Brot und Senf, die auf dem Tisch standen und nichts kosteten. Für mehr reichte unser knappes Taschengeld nicht. Wir klatschten über unsere Lehrer und spintisierten von Mädchen, ereiferten uns über die politische Lage. Schimpften über den stiernackigen Verteidigungsminister Strauß und seine Aufrüstung. Damals glaubten wir noch an ausgleichende Gerechtigkeit und politischen Anstand.

Ich sah sie vor mir, als wäre es erst gestern gewesen, die katzenkopfgepflasterten Straßen meiner Schulzeit, auf denen ich mit dem Rad herumgurkte und mir dabei manch aufgeschrammtes Knie holte. An heißen Sommersonntagen holte ich meinen Freund Jürgen in der Blütenstraße ab und wir rasten mit unseren Rennrädern quer durch die Stadt, den schattigen Forstenrieder Park an den Münchner Badestrand am Starnberger See. Dort fielen wir ausgepumpt auf unsere Handtücher und starrten verstohlen den Evastöchtern im knappen Bikini nach. Linsten unter dem Arm versteckt hinüber ins Gebüsch, wenn sich eine von ihnen das nasse Badezeug vom Körper streifte. Erstes Ahnen einer Welt voller Sehnsüchte, voller erregender Abenteuer. Tastende Annäherungsversuche und das schamhafte Erröten, wenn wir einen Korb bekamen. Hat sich daran etwas geändert? Ich denke nicht, außer vielleicht, dass ich um Jahre älter und grauer geworden bin. Ich erinnere mich an meine erste Liebe, Brigitte, die in der Pestalozzistraße hinter dem Sendlinger Tor wohnte. Bei ihr holte ich mir die ersten linkischen Küsse, voller Unschuld. Spielte mit ihr das neue aufregende Spiel der Liebe, das ich damals noch nicht begriff, sie aber schon. Ich schrieb ihr schwülstige Gedichte und kindliche Liebesbriefe, die ich an einem geheimen, nur ihr bekannten Platz für sie versteckte. Wie oft tanzte ich nachts nach Hause, verzaubert und voller Glück, unter den schwankenden Lichtern der Straßenlaternen. Auf dem weiten Weg durch die schlafende Stadt versuchte ich vergeblich meine liebestollen Gedanken wieder zu ordnen. Unzählige Male strich ich mir mit dem Zeigefinger über die glühenden Lippen, auf denen ich noch ihre Küsse spürte und ihren nach Erdbeeren schmeckenden Lippenstift, ungläubig ob dieser neuen, wunderbaren Erfahrung. Was wusste ich damals schon von der Liebe? Sie schien mir den Himmel auf Erden zu versprechen. Woher sollte ich wissen, dass sie auch bitteres Leid mit sich führen würde. Allenfalls aus den Romanen, die ich unter der Bettdecke versteckt im Lichtkegel einer Taschenlampe zu dutzenden verschlang?

Und heute? Was ist aus mir geworden? Wo sind sie geblieben die schmerzhaft, betörenden Liebeswirren meiner Jugend? Ich bin ein verbitterter alter Mann, dem das Leben klammheimlich den Zauber gestohlen hat und der sein armseliges Sehnen einzig und allein auf ein flüchtiges sexuelles Abenteuer ohne Liebe lenkt. Heute fünfzig Jahre später fürchte ich: Liebe verursacht nur Schmerzen und klebt wie pappsüßer Honig auf den Zähnen. Sie findet nur in den Gazetten der Regenbogenpresse statt und in den Köpfen einiger unbelehrbarer Optimisten. Trotz meiner zwei Ehen weiß ich rein gar nichts über diese ungeheure Macht, die in unseren Herzen eine so tiefe Begierde zu wecken vermag. Wahrscheinlich, hatte ich mich noch nicht satt getrunken am goldenen Becher, gefüllt mit dem Nektar der Götter. Was sonst zum Teufel tat ich hier? Warum lief ich fast zwanghaft jedem Rock nach und sprang aus meinem Karton wie ein Schachtelteufel, sobald mir ein weibliches Wesen schöne Augen machte. War mir das Leben etwas schuldig geblieben, dass ich gedachte jetzt einzufordern? Ich ahnte, ich saß in derselben Mausefalle wie in meiner Jugend. Ein Hänfling im Käfig seiner Lust. Der einzige Unterschied, im Jahre 2012 fliege ich sehenden Auges in den Vogelbauer und ich zähle keine achtzehn Jahre mehr.

Was machst du hier, du alter Tor, fuhr es mir durch den Kopf. Wie groß ist deine Chance diesem Traumengel zu begegnen und auf welches Hirngespinst gründet sich deine Hoffnung, außer auf eine flüchtige Fata Morgana deiner lüsternen Phantasie? Was wusste ich von ihr? Sie hatte ein paar freundliche Worte mit mir gewechselt, mehr nicht. Wie kam ich nur auf die absurde Idee, sie könnte etwas für mich empfinden, sie die Namenlose. Klammerte ich mich vielleicht an das erneute Auflodern eines längst verschüttet geglaubten Gefühls, von dem ich fürchtete, es unwiederbringlich verloren zu haben? War dieses Sehnen mit meiner Rolle als Großvater und Witwer vereinbar? War dieses Begehren meiner nicht unwürdig? Eine kaum zu tolerierende Alterstorheit, für die ich mich in meinem Herzen schämen sollte, kaum dass ich sie erdachte. Leidenschaft für eine blutjunge Frau schickt sich nicht im Herbst des Lebens. Ich bin nicht Charlie Chaplin oder Johann Wolfgang von Goethe, die sich über diese Skrupel hinwegsetzten. Ich sollte wie meine Altersgenossen Golf spielen und mich auf meinen Ruhestand vorbereiten, was für mich nichts anderes ist, als ein Sterben auf Raten. Ich seufzte. Mein Sehnen scherte sich einen Dreck darum, dass ich zweiundsechzig bin.

Waren es die Straßen, die Ecken mit den vertrauten Namen meiner Jugend, die überraschend dieses schwärmerische Gefühl in mir weckten? Ich staunte, wie ich mit der Wucht einer Kanonenkugel um Jahrzehnte zurück katapultiert wurde.

Versonnen hockte ich auf einer grünen Bank auf dem Elisabethplatz, den Kopf in die Hand gestützt.

Um mich herum tobten ein paar Fünftklässler aus dem Giselagymnasium gegenüber. Sie genossen wohl eine nachmittägliche Freistunde. Die halbwüchsigen Mädchen jagten die Buben über den Platz, bewaffnet mit Plastikflaschen voller Wasser. War das ein Gejohle, wenn sie einen der Gejagten mit Wasser vollspritzen konnten. Außer Atem füllten sie ihre Flaschen am Rinnsal des Bärenbrunnens wieder auf. Seit meiner Kindheit balanciert hier ein steinerner Bär auf einer Kugel. Auf dem Sockel verwitterte Sinnsprüche. „Wasser macht die Augen hell“, konnte ich entziffern.

„Die Realität sieht anders aus“, schimpfte ich mich laut. Betreten schlich ich durch die Georgenstraße zur U-Bahnstation unter dem rosafarbenen Schweinchenbau der Universität. Was wusste ich von ihr? Ich hatte nichts außer ein paar bierseligen Erinnerungen. Natürlich könnte ich in die Kneipe gehen, würde sie vielleicht dort treffen, nachts. Doch ich wagte es nicht. Was, wenn sie mich brüsk zurückwies? Ich wollte meinen Traum wie ein kümmerliches Fünkchen Glut am Leben halten. Dabei kannte ich nicht einmal ihren Vornamen, hatte nichts woran ich meine Gefühle festzurren konnte, außer dem heißen Kribbeln in meinem Bauch, das ich aus meiner Jugend kannte und das ich einer flüchtigen Romanze zuordnen konnte. So blieb mir nichts als eine allmählich verblassende Erinnerung an einen Abend in einer Bar mit ein paar Bierchen zu viel.

Zu allem Überfluss raunte in meinem Hinterkopf unablässig die heimlich mahnende Stimme, die mich aufforderte meine eisernen Regeln einzuhalten.

Doch nichts ist schwerer als eine liebgewordene Fantasie zu begraben.

Heiße Tage - liebestolle Nächte

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