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...und Finden

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Meine Hoffnung die Kindfrau im Gewirr der Straßen und Häuser Schwabings wiederzufinden wurde von Tag zu Tag geringer. Trotzdem konnte ich nicht aufhören nach ihr zu suchen. Die Gründe hierfür waren mir ebenso unklar wie meine widerstreitenden Gefühle. Für ein schnelles, folgenloses Abenteuer war der Aufwand, den ich betrieb schon viel zu groß. Dass mehr dahinterstecken könnte, wollte ich mir nicht eingestehen. Vielleicht eine Art Torschlusspanik. Soll es ja auch bei Männern geben. Wie oft würde es sich noch zutragen, dass ich mich von einer Frau derart angezogen fühlte? Nichts ist schwerer als sich von unerfüllten Träumen zu verabschieden.

Tagelang streifte ich durch Schwabing, gleich einem Elefanten in der afrikanischen Savanne auf der Suche nach dem lebensspendenden Wasser. Ich klapperte die Orte ab, an denen ich sie zu finden hoffte. Umsonst. Die Begegnung mit den Plätzen und den Gefühlen, die ich aus Kindheit und Jugend kannte wurde so ungewollt zu einer Reise in meine eigene Vergangenheit. Einer Reise zu all den Schmerzen meines erwachenden Lebens und all den Freuden. Längst im unergründlichen See der Zeit versunkene Erlebnisse wallten mit der Macht düsterer Wasser auf, mit einer Wucht die ich nicht erwartet hatte. Wie nah, wie farbig und wie bitter meine Jugend nach und nach aus dem Staub der Gassen auferstand. Längst verloren geglaubte Erinnerungen bahnten sich ihren Weg durch das Gestrüpp des Vergessens. War es wirklich die Suche nach dem Mädchen oder trieb mich lediglich ein sentimentales Gefühl zurück in meine Kindheit? Zu all den verpassten Möglichkeiten, den leichtfertig verschenkten Gelegenheiten. Doch wo begannen die Erinnerungen und wo endeten sie? Auf die Abfolge meiner Gedanken hatte ich keinen Einfluss. Sie machten sich an Kleinigkeiten fest, an einer Straßenecke, einem verwaschenen Namen oder einem aufgelassenen Geschäft.

Wieder spürte ich das verschämte Ahnen meiner ersten Liebe mit sechzehn. Grämte mich aufs Neue wegen lächerlicher Verfehlungen, weinte innerlich bittere Tränen, wenn ich an meine Schulzeit im Gymnasium dachte. Was hatte mich unser Englisch- und Französischlehrer drangsaliert. Er hasste mich und er ließ es mich spüren, damals in der neunten Klasse. Zu Schuljahresbeginn marschierte er durch die Tür und bellte, kaum hatte er mich erkannt, durch den Raum: „Na, hab ich dich wieder. Diesmal erwische ich dich.“ Und genau so kam es. Ich zitterte schon, wenn er im Stechschritt durch die Türe marschierte. Nackte Angst machte sich in meinem Leben breit. Kein Wunder, dass meine Leistungen in den Keller sackten.

Noch heute rinnt mir ein eiskalter Schauer über den Rücken, wenn ich an meine Selbstmorddrohung denke. Daran, wie ich mich hoch oben im vierten Stock außen an das Balkongeländer klammerte, unter mir in schwindelnder Tiefe der Betonboden und alles nur wegen eines Streites um ein Schälchen Heidelbeeren. Meine Großmutter schaffte diesen Aussetzer beherzt mit einer Ohrfeige aus der Welt.

„Damit löst du kein Problem“, schrie sie mich an. Reumütig kletterte ich zurück. Jede Verletzung, jede erlittene Bosheit, heute noch so schmerzlich spürbar wie einst und immer noch so peinigend, als wäre eine alte schwärende Wunde erneut aufgebrochen und sonderte stinkenden Eiter in mein Herz ab.

Ich strich um die Häuser, wie vor vierzig Jahren, damals schon auf der Suche nach einem Rock wie heute, immer mit einem schlechten Gewissen und stets auf dem Sprung davonzuflitzen. Schon als Kind, kaum schulpflichtig schlich ich durch die Neureuther Straße, zur Wohnung der unerreichbar Angebeteten, nur um einen Blick von ihr zu erhaschen. Was hatte ich sie im Ferienlager angehimmelt. Für sie schnitzte ich Rindenschiffchen mit versteckten Botschaften, die ich ihr heimlich in den Koffer schmuggelte. Heute erinnere ich mir nicht einmal mehr an ihren Namen, wohl aber an das mit dieser Liebe verbundene Gefühl. Auch als Kind kann man sich verlieben, tiefer sogar und reiner als in all den Liebschaften meines späteren Lebens.

Die Intensität der plötzlich hervorquellenden Emotionen überrollte mich, machte mich wehrlos. Ich hatte mich bemüht all die Sehnsüchte, die peinlichen Momente, die Scham sorgsam im dunkelsten Winkel meines Herzens unter einer dicken Schicht schwarzer Erde zu vergraben. Doch ein Herz vergisst nicht. Auf meinen ziellosen Streifzügen erkannte ich, wie mächtig all die gewaltsam verdrängten oder vergessenen Gefühle noch immer waren. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen, oder vor Trauer heulen sollte. Die Tränen weinen, die ich mir vor vierzig Jahren verkniffen hatte und die noch immer wie eine verklemmte Gräte in meiner Kehle feststeckten, nur darauf warteten mich zum Würgen zu bringen. Hätten die späten Tränen meinen Schmerz, meine Trauer gelindert? Ich gestand mir diese Schwäche nicht zu.

An einem wolkenlosen Nachmittag, nach einer anstrengenden Verhandlung beim Amtsgericht, unter den schattigen Bäumen des Elisabethplatzes ausruhend, entschied ich schweren Herzens der aussichtslosen Suche ein Ende zu bereiten. Ich hoffte, damit auch dem verhängnisvollen Strudel meiner Erinnerungen zu entkommen. Ich spürte, es tat mir nicht gut, die alten Wunden immer und immer wieder aufzukratzen. Zu viel war in den verflossenen fünfzig Jahren geschehen. Ich fürchtete erneut den Schmerz durchleiden zu müssen, in den der qualvolle Tod meiner zweiten Frau mich stürzte und der mich über Jahre in einen seelenlosen Zombie verwandelte. Dafür fehlte mir der Mut und mir graute davor abermals in diesen Abgrund aus Trauer und Verzweiflung blicken zu müssen. Es kostete mich schon genug Kraft die beißenden Erinnerungen an Trennung und Tod mühsam unter Verschluss zu halten. Das Leichentuch, unter dem das Grauen lauerte, war dünn.

War dies vielleicht der Grund warum ich so getrieben nach einer Frau suchte, mich zugleich aber scheute mich auf eine wirkliche Beziehung einzulassen? Nachts wurden meine Träume unruhig und Alpträume schüttelten mich. Ich durchlebte meinen bitteren Abgang aus dem Gymnasium, das vorläufig nicht erreichte Abitur wie einen Spuk, wirklicher als ich ihn mit neunzehn Jahren empfunden hatte. Ich spürte die vorwurfsvollen Blicke meiner Großeltern in meinem Rücken. Sie sagten nichts, doch ihr stiller Tadel stand greifbar im Raum. Sie hatten andere Pläne mit mir gehabt, die ich nicht mehr erfüllen konnte. Ich sah die kaum unterdrückten Tränen meiner Mutter. Allein in den Arm nehmen konnte sie mich nicht, dabei hätte ich ihren Trost so nötig gebraucht. Selten habe ich mich so verlassen gefühlt, so unverstanden. Ich empfand die schier unmenschlichen Anstrengungen erneut, die nötig waren um über den zweiten Bildungsweg doch noch zum Abitur zu kommen. Das Studium neben dem Job. Die Nächte im Schein der Schreibtischlampe, in denen mein Kopf schwer auf den Tisch sank und ich erschöpft über meinen Büchern einschlief. Das hat mich hart gemacht, unnachgiebig. Meine Frau beklagte sich oft darüber. Heute ist das alles Geschichte, muss Erinnerung sein und bleiben, mehr nicht. Schluss mit dem aufwühlenden Gedankenkarussell. Ich strich mir mit der flachen Hand über die Stirn, wie um mich aus diesem bösen, nicht enden wollenden Alptraum zu befreien. Ich kam mir vor wie ein in Todesangst zappelnder Schmetterling im Netz einer riesigen Spinne. Vergeblich suchte ich die klebrigen Fäden meiner Lebensbahn abzustreifen. Aber kann ein Mensch das überhaupt schaffen? Ist er nicht gerade wegen seiner brennenden Wunden ein unverwechselbares Lebewesen?

Die Sonne streichelte warm meinen Rücken. Plötzlich erkannte ich die im Sand spielenden Kinder wieder, hörte das Tschilpen der Spatzen, die um die Tische des Kaffees Wintergarten hüpften. Sah wie einige besonders dreiste Vögel über die Tische flatterten, die Kuchenkrümel aufpickten. Ich nahm staunend das satte Grün im milden Licht der Nachmittagssonne wahr und schnupperte den würzigen Duft, der vom nahen Käsestandl herüberzog.

Das Leben hat mich wieder. Glaubte ich. Mit all seiner Tristesse, dem täglichen Trott in der Kanzlei, den nervenden Mandanten mit ihren ständig gleichen Sorgen, ihrer Angst um das bisschen Habe. Sie kamen mir so belanglos vor und zweimal im Monat der gefühlskalte Sex mit Erika. Die Jagd an den Wochenenden, die mich zu nachtschlafender Zeit aus dem Haus trieb. Die öden Abende vor der Flimmerkiste mit Bier und Chips. Mit einem Achselzucken erhob ich mich, packte meine Mappe und schlurfte in Richtung Nordendstraße. Ein winziges Bedauern nahm ich mit, hieß mein Entschluss doch, mit dem Trugbild einer aufregenden Affäre Schluss zu machen. Wenigstens träumen wollte ich von einem Wiedersehen, auch wenn mir mein Verstand zuflüsterte, diese Wunschvorstellung würde niemals Wirklichkeit werden. Die Hoffnung jedoch aufzugeben noch ein wenig guten Sex abzubekommen, dafür fühlte ich mich noch zu jung, trotz meiner grauen Haare. Die Gelegenheiten mich auszuleben wurden spärlicher. Allein noch kam mir das Eingeständnis nicht über die Lippen, dass die Jahre der Fülle endgültig vorbei waren. Aber hatte es diesen Überfluss jemals gegeben? Log ich mir nicht etwas vor, während die eisige Wahrheit ganz anders aussah? Woher nahm ich die Hoffnung, ja stille Forderung, ich hätte noch etwas gut beim Leben? In meinen Augen war mein Kontoauszug mit der Buchungsnummer Liebe, sprich Sex noch lange nicht ausgeglichen. Doch das Kontobuch schien zugeschlagen und das seit langer Zeit. War es nicht mein verbrieftes Recht, nach all dem Herzschmerz, den ich durch den Tod meiner Frau erlitten hatte, auf ein bescheidenes Glück zu hoffen? Das Leben ist nicht gerecht, war es nie. Oder vielleicht doch? Wer kann das wissen bevor nicht der letzte Akkord von jemand Höherem angestimmt wird.

Allein, wie so oft im Leben, in dem Augenblick in dem man jegliche Hoffnung fahren lässt, geschieht das Unglaubliche. Wunder werden wahr, wenn man sie nicht mehr erzwingen will.

Ein Wagen der Straßenbahnlinie 27 rauschte heran, bremste mit schrillem Quietschen vor der Schauburg und heraus hüpfte sie. Die Zeichenmappe unter den Arm geklemmt. Sie trug einen dieser ausgeleierten Pullover, der knapp über den Po reichte, karmesinrot. Dazu eine graue Strumpfhose und speckige Wildlederstiefel. Ihre Haare wippten im Takt ihrer Schritte. Ich erkannte sie sofort. Bei Tageslicht erschien sie mir noch begehrenswerter als im schummrigen Neonlicht der Kneipe. Mein Herz hüpfte vor Freude. Vergessen die schwermütigen Gedanken, die Vorsätze zu denen ich mich mühsam durchgerungen hatte. Ich stürmte über die Straße, ohne auf die heranbrausenden Autos zu achten, stellte mich ihr in den Weg. Sie sah mich mit einem fragenden Blick an. In ihrem Gesicht arbeitete es. Sie versuchte sich an mich zu erinnern.

„Hey“, krächzte ich, heiser vor Aufregung, „kennst du mich noch? Vega im letzten Monat. Du hattest dieses monströse Bild bei dir.“

Langsam dämmerte es ihr.

„Der Herr Anwalt! Sorry, aber ich sehe jeden Abend so viele Gesichter. Da kann ich mich nicht immer erinnern.“

„Was machst du so?“

„Ich komme aus dem Malkurs“, sagte sie und zeigte auf ihre bunt marmorierte Mappe.

„Und, schon ein neues Bild gemalt?“ Ich hasse Smalltalk. Aber bei diesem für mich so unerwartetem Aufeinandertreffen fiel mir nichts Besseres ein.

„Einige, aber ich bin nicht zufrieden.“ Sie seufzte. „Es ist schwerer als ich dachte. Du hattest wohl recht.“

„Ein Künstler, der mit sich zufrieden ist, ist kein Künstler mehr.“ Blöder Allgemeinplatz, dachte ich. Das fängt ja gut an. Ich nahm mein zitterndes Herz in beide Hände, fragte.

„Hast du Zeit für eine Tasse Kaffee?“

Sie senkte zustimmend den Kopf, schien zu überlegen.

„Ich trinke nur Tee.“

„Das trifft sich wunderbar, da haben wir etwas gemeinsam“, freute ich mich und entschuldigend fuhr ich fort.

„Ich spreche sonst keine jungen, hübschen Frauen auf der Straße an. Nicht das du denkst, dass sei meine Masche.“ Ganz ehrlich war ich nicht.

„Selbst wenn. Wäre auch ziemlich einfallslos. Zumindest bist du nicht so anzüglich, wie die meisten Jungs, die nichts anderes im Sinn haben als mich auf kürzestem Weg ins Bett zu quatschen“, lachte sie verschmitzt.

Ich fühlte mich durchschaut.

„Weißt du, wo wir hier einen guten Tee bekommen? Es ist schon eine halbe Ewigkeit her, dass ich mich in Schwabing herumgetrieben habe.“

„Im Sobio gibt es den besten Chai in ganz Schwabing. Du magst doch Chai-Tee?“

Ich nickte brav, obwohl ich noch nie in meinem Leben einen Chai getrunken hatte. Jetzt nur keinen Fehler machen. Wir schlenderten nebeneinander her, die Nordendstraße zurück. Sie wirkte nicht so als sei ihr mein Überfall unangenehm.

„Was suchst du hier?“, wollte sie wissen.

„Ich folge den Spuren meiner Jugend“, erklärte ich leichthin und das war nicht gelogen, aber eben nur die halbe Wahrheit.

„Und hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“

„Nein! Um ehrlich zu sein, im Stillen hatte ich auch gehofft dich wiederzusehen. Aber ohne einen Namen, ohne eine Adresse ist das fast aussichtslos.“

„Rührend“, sie sah mich prüfend von der Seite an. „Ich bin fast jeden Abend in der Bar. Dort hättest du mich treffen können.“

„Habe ich mich nicht getraut. Außerdem so unter Beobachtung. Das wollte ich nicht.“

Sie warf mir einen verblüfften Blick zu.

„Schüchtern? So siehst du gar nicht aus.“

„Könnte man sagen. Eher bin ich wohl etwas aus der Übung.“

„Und warum wolltest du mich wiedertreffen?“

„Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf.“

„Wie schmeichelhaft. Was findest du denn so besonders an mir, dass du mir nachstellst?“

„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, ehrlich. Vielleicht ist es deine ungezwungene Art auf die Menschen zuzugehen. Deine ansteckende Fröhlichkeit, dein offenes Wesen.“

„Klingt komisch. So ein Kompliment hat mir noch keiner gemacht. Sonst betonen alle meine körperlichen Vorzüge. Dabei weiß ich, sie wollen nur mit mir in die Kiste hüpfen. Du scheinst anders zu sein, schwer einzuordnen.“ Sie legte ihre Stirn in Falten. „Scheinst dich tatsächlich für mich zu interessieren, nicht nur für meinen Busen.“

„Das tue ich, hätte ich sonst so lange nach dir gesucht.“

Wir standen vor dem Kaffee, suchten uns einen Platz an einem der geflochtenen Bistrotische, die dicht gedrängt an der Hauswand in der Sonne standen. Die Bedienung, wohl Studentin, schlurfte aus dem Laden.

„Hey Tiffy“, begrüßte sie uns. „Einen Chai wie immer?“

„Logo.“

„Und was trinkt dein Begleiter?“

„Ich probiere auch einen Chai-Tee.“

„Also zwei Chai, kommt sofort.“

„Tiffy, was für ein hübscher Name“, schmeichelte ich ihr. „Passt zu dir.“

„Eigentlich Tiffany. Mein Vater, unbekannterweise, war ein Fan von Audrey Hepburn, erzählt wenigstens meine Mutter. Du weißt schon, der Film, wo sie ihre Leberkäsesemmel vor dem Schaufenster des Juweliergeschäfts mampft und dabei die kostbaren Klunker beguckt.“

„Moonriver“, summte ich. „War auch einer meiner Lieblingsfilme. Die Single mit dem Song war eine der ersten Platten, die ich mir von meinem Taschengeld gekauft habe. Steht heute noch in meinem Schrank.“

„Alle nennen mich Tiffy, klingt flotter, frecher. Ich habe mich daran gewöhnt. Zuerst fand ich den Namen affektiert. Jetzt gefällt er mir ganz gut.“

„Ich finde er passt zu dir.“

„Ich hasse Schmeichler.“

Mir blieb buchstäblich das Wort im Halse stecken. Eine so direkte Ansprache bin ich nicht gewöhnt, zumal meine Mandanten es nicht wagen mir zu widersprechen. Einer der wenigen Vorteile meines Berufes. Die Bedienung stellte den dampfenden Chai-Tee vor uns auf den Tisch und es entstand eine kleine unangenehme Pause, in der wir verlegen umrührten und über den heißen Tee bliesen. Irgendwo läutete gedämpft ein Handy in meiner Nähe. Ich beobachte die Menschen genau, wenn der Klingelton ertönt. Die Hälfte von ihnen greift verstohlen in ihre Tasche und kontrolliert, ob der Anruf nicht doch für sie sei, selbst wenn sie ihren Klingelton kennen müssten. Handys sind die Tamagotchis der Generation X, dachte ich. In unserer Nähe saß niemand. Tiffy griff in einen ihren Wildlederstiefel und fischte ein Telefon heraus. Sie meldete sich, machte das Gespräch so kurz wie möglich. War wohl irgendein belangloses Blabla, wie meist in den Zeiten der grenzenlosen Telefonfreiheit. Jeder teilt heute mit jedem seine armseligen Erlebnisse und das meist so laut, dass die Umstehenden gar nicht anders können als am Gespräch teilzuhaben. Handyverschmutzung nenne ich das.

„Entschuldige“, murmelte sie, „war nichts Wichtiges.“ Sie schob das Handy wieder in ihren Stiefel. Ein merkwürdiger Aufbewahrungsort überlegte ich, das muss doch drücken.

„Ich wollte dich nicht anmachen“, nahm ich das Gespräch wieder auf.

„Lügner, ich sehe es an deinen Augen.“

Ein kleiner Ärger kroch in mir hoch. Ich bin es nicht gewöhnt mit Menschen umzugehen, die so radikal ehrlich sind. Besonders nicht in meinem Beruf, wo Verstellung zum Geschäft gehört.

„Habe ich dich verletzt?“

„Nein, nein“, log ich sie an.

„Schon wieder nicht ehrlich“, stellte sie fest. „So wird das nichts mit uns.“

Konnte sie in mein Herz sehen, meine Gedanken lesen?

„Wenn du mit mir befreundet sein willst, und ich denke das ist der Zweck deiner Suche, musst du ehrlich mit mir sein. Keine Spielchen, ich bin schließlich kein Teenager mehr.“

„Was soll ich dazu sagen?“

„Ehrlichkeit muss man sich leisten können. Wer tagein, tagaus vor seinem Chef buckelt, hat das verlernt. Mit so jemandem kann ich nichts anfangen.“

Wie wahr. Ihre Einsicht verblüffte mich. Fand ich sie zuerst nur körperlich anziehend, so machte sie mich jetzt neugierig. Sollte ich in einem blutjungen Mädchen eine geistig ebenbürtige Gegenspielerin gefunden haben? Die Sonne schien mir warm auf den Rücken, trotzdem fühlte ich mich nicht recht wohl. Auf was hatte ich mich da eingelassen? Nach einem schnellen Fick sah das nicht aus. Unauffällig brachte ich das Gespräch auf die Malerei. Ein, wie mir schien, Feld mit weniger Fußangeln. Ich fragte sie nach ihren Fortschritten in der Malschule und sie zeigte mir bereitwillig ihre Skizzen, die sie in der Mappe mit sich führte. Nicht untalentiert, dachte ich, aber schroff und aggressiv, wie ein Frontalangriff auf meine kleinbürgerliche Seele. Wir rückten dichter zusammen, so eng, dass ich den Sommer in ihren Haaren erschnuppern konnte. Wie ein Hauch grüne Limonen, wenigstens schien es mir so. Wie versehentlich legte ich meine Hand auf die ihre. Ihre gebräunte Haut war mit roten und grünen, blauen und gelben Farbspritzern gesprenkelt. Sie ließ mich gewähren, maß mich jedoch mit einem schnellen, strafenden Blick von der Seite. Erschrocken zog ich meine Hand zurück. Die Teegläser leerten sich und ich überlegte fieberhaft wie ich unser Treffen unauffällig verlängern könnte. Wir waren beide unschlüssig, richtiggehend verlegen. Ich empfand wie ein Schuljunge beim ersten Rendezvous mit der aus der Ferne Angebeteten und staunte darüber.

„Was willst du von mir“, sprach sie mich unvermittelt in ihrer direkten Art an. Sollte ich mit der Tür ins Haus fallen, ihr beichten, dass ich mit ihr schlafen wollte? Doch unverblümt meine Sehnsüchte auszusprechen, dazu fehlte mir der Mut. Auf offener Straße eine gescheuert zu bekommen, die Vorstellung schreckte mich. Sie schien meine Gedanken zu erraten, sagte aber diesmal nichts.

„Fürs erste würde mir deine Telefonnummer genügen“, wich ich aus.

„Die Nummer allein nützt dir nichts. Du meinst, ob ich etwas dagegen hätte, wenn du mich mal anrufst.“

„Exakt.“

Sie forderte mich, spielte Katz und Maus mit meinen Gefühlen und ich konnte mich, hilflos wie ich war, nicht dagegen wehren.

„Du siehst irgendwie verhungert aus, seelisch, meine ich.“

Woher wusste sie das?

„Darüber mag ich nicht reden.“

„Musst du nicht, so was spüre ich.“

Ich kam mir nackt vor unter ihrem Röntgenblick. Ein gefährliches Spiel, auf das ich mich da einließ. Doch gerade das machte seinen Reiz aus. Bei manchen Frauen kann ich mir gar nicht vorstellen, dass sie je in ihrem Leben Sex gehabt hätten. Anderen wiederum sieht man ihre Erfahrungen an. Da spielt ein bestimmtes Lächeln um ihre Lippen und ein verstehendes Glitzern blitzt in ihren Augen. Tiffy gehörte zu letzterer Kategorie. Noch dachte ich, ich hätte die Partie unter Kontrolle. Sie kramte in ihrem Umhängebeutel und fischte einen korallenroten Lippenstift heraus. Mit schwungvollen Ziffern malte sie ihre Nummer auf eine Serviette. Wie einen kostbaren Schatz barg ich den Zettel in der Brusttasche meines Sakkos. Mein Herz schlug einen Salto.

„Danke“, flüsterte ich, „danke.“

Ein wissendes Lächeln spielte um ihren Mund, machte mich unsicher und verlegen. Die Bedienung beäugte uns misstrauisch durch die Schaufensterscheibe. Zu lange schon saßen wir vor unseren leeren Gläsern.

„Willst du noch etwas trinken?“

Tiffy schüttelte den Kopf. Ich winkte der Kellnerin und bezahlte. Sie ließ es widerspruchslos geschehen, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Wahrscheinlich wird sie in der Bar ständig auf einen Drink eingeladen, schoss es mir durch den Kopf. Ich fühlte einen Stich in meinem Herzen. Sie stand auf und ich mit ihr. Durch den Erfolg, ihre Telefonnummer erhalten zu haben, ermutigt, fragte ich.

„Darf ich dich ein Stückchen begleiten.“

„Es ist nicht weit“, meinte sie spöttisch, „das schaffe ich gerade noch alleine. Aber wenn du unbedingt meinst.“

„Ist es dir peinlich mit so einem alten Dackel wie mir durch die Gegend zu ziehen?“

„Fishing for compliments“, grinste sie, „ich sag nix.“

Wir trotteten nebeneinander her und ich kam mir vor wie ein halbwüchsiger Pennäler, der vor dem Abschlussball des Tanzkurses seine Angebetete abholt.

„Ich find‘s auch komisch, aber was soll ich machen?“

Sie zuckte mit den Schultern. Schweigend gingen wir ein Stückchen. Ich gab mich meinen Fantasien hin, träumte von einer Romanze. Vor der Schauburg blieb sie ruckartig stehen, baute sich vor mir auf.

„Ich mag keine Geheimnistuerei“, sagte sie. „Ich habe einen Freund. Er arbeitet in Münster und kommt immer an den Wochenenden.“

Ich schluckte, fing mich rasch. Ihr Geständnis störte meine Pläne gehörig.

„Dann könnten wir uns doch mal unter der Woche treffen. Natürlich nur, wenn du Lust hast.“

„Weiß nicht.“

„Ist doch nichts dabei“, spielte ich meine Enttäuschung herunter, „mal miteinander Essen gehen, oder einen Spaziergang machen.“ Mehr sagte ich nicht.

„Du hast so hungrige Augen. Wie ein Steppenwolf. Da ist Vorsicht geboten.“

Sie hatte ihren Hesse gelesen.

„Und meine Zähne habe ich von einem Vampir, der mit Vorliebe anwesende junge Frauen aussaugt. Die Frauen im Fernsehen kommen immer so blutleer daher.“

Wider Willen musste sie lachen.

„Dann ist alles geklärt. Ich darf dich anrufen. Alles Weitere findet sich.“

„Schon Angst vor der eigenen Courage?“, reizte sie mich. Sie ließ sich auf das Spielchen ein.

„Das nicht, aber ich bin es nicht gewöhnt, so direkt zu sein.“

„Hast du so viel Zeit zu vertrödeln?“, fragte sie ernsthaft.

Wir bogen in die Bauerstraße, erreichten die breite Allee mit den Lindenbäumen. Milde Abendsonne färbte das Laub golden. Die dicht an dicht geparkten Autos waren mit schwarzer, klebriger Schmiere aus zusammengebackenem Zucker und Straßenstaub bekleckert. Jedes Jahr das gleiche, Myriaden von Blattläusen die sich mit süßem Saft vollsaugten. Ich kannte den ohnmächtigen Zorn der Fahrer, die jeden Morgen leise fluchend die verklebten Scheiben reinigen mussten. Im Sommer wird so der eingefleischteste Umweltschützer zum Baumhasser.

„Da bin ich“, verkündete Tiffy und schob eine schwere, geschnitzte Eingangstür auf. Wie in Trance folgte ich ihr. Im Hausflur wehte uns aufsteigende, muffige Kellerkühle an. An den Wänden klebten bis zur halben Höhe bunt gemusterte Fließen. Der Boden gepflastert mit durchgetretenen roten Sandsteinplatten. An der Treppe ein abgegriffener hölzerner Handlauf mit blanken Messingbeschlägen.

„Also dann, danke für den Tee.“ Sie streckte mir die Hand entgegen. Ein verirrter Sonnenstrahl huschte durch die bunt verglasten Fenster des Treppenhauses, malte farbige Kringel auf den Boden, wie die Scherben eines Regenbogens. Einen winzigen Augenblick zögerte ich, dann ergriff ich ihre Hand. Und weiß der Teufel, nicht mehr ganz Herr meiner Sinne, zog ich sie an mich. Den Arm mit der Aktentasche schlang ich unbeholfen um ihre Taille. Mein Gesicht näherte sich dem ihren, meine Augen versanken in ihren Augen. Ich küsste sie. Sie wich nicht aus. Ich presste meine Lippen gierig auf ihren Mund, schmeckte Lebkuchengewürze. Einen flüchtigen Augenblick bildete ich mir ein, sie erwidere meinen Kuss. Als sich unsere Lippen voneinander lösten, lächelte sie und maß mich mit einem versonnenen Blick, den ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu deuten wusste. Mit einem kehligen Lachen machte sie sich los.

„Doch Steppenwolf“, grinste sie. „Was erlauben Sie sich mein Herr, ich bin ein anständiges Mädchen“, schauspielerte sie. Tiffy trat zwei Schritte zurück, drehte sich um und hüpfte lachend die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ich hörte ihre Schritte. Hörte wie sie leichtfüßig von Stufe zu Stufe sprang. Ich sah ihr nach, überwältigt. Wie im Traum hallte ihre Stimme von oben.

„Ruf mich an.“

Ich nickte, ohne mir darüber im Klaren zu sein, dass sie mein Nicken nicht sehen konnte. Oben klappte eine Tür, fiel knarrend ins Schloss. Besoffen vor Glück taumelte ich aus dem Haus, starrte von außen an der Fassade hoch, in der Hoffnung, sie hinter einem der zweiflügligen Fenster zu erspähen. Doch nichts bewegte sich. Kein Vorhang bauschte sich, hinter dem sie sich hätte verstecken können. Die ersten Neonlampen flammten in den Büros im Hochparterre auf. Geschäftige Schatten glitten über die Wände.

Nach einer Weile unschlüssigen Wartens, schwebte ich zur U-Bahnstation Hohenzollernplatz. Die rechte Hand fest auf die linke Brust gepresst, wo ich in der Tasche ihre Telefonnummer versteckte.

Zuhause klemmte ich die Serviette mit der rot leuchtenden Telefonnummer an den Garderobenspiegel. Wie kitschig, dachte ich. Meine anfängliche Euphorie wich rasch nagenden Zweifeln. Ich war kaum fähig die mitgeführten Papiere zu studieren, malte stattdessen Strichmännchen auf meinen Block. Ich legte Tschaikowskys Violinkonzert auf. Die Geigenklänge stießen mich noch stärker in den Sumpf der Unsicherheit. Was zum Teufel hatte ich da begonnen und welchen Hafen steuerte ich an? War ich überhaupt noch der Steuermann oder schon der Galeerensklave? Gewiss, über allem stand meine unbezähmbare Sucht nach Sex. Aber falls ich tatsächlich zum Schuss kommen würde, was dann? Davonschleichen, wie ich es bei Erika tat, in stillschweigender Übereinkunft? Sie schien mir nicht der Mensch, mit dem man das machen konnte.

Nachts wälzte ich mich schlaflos hin und her. Vergeblich versuchte ich mich zu beruhigen, indem ich mir immer wieder vorsagte: Es ist nichts passiert, außer einem belanglosen Kuss unter Freunden. Gar nichts. Es gibt keinen Grund aufgeregt zu sein. Weit nach Mitternacht schlief ich ein, träumte von ihrem jungen verführerischen Körper, der in greifbare Nähe gerückt schien und doch meilenweit entfernt war.

Am nächsten Morgen erwachte ich mit dem Gedanken Tiffy sofort anzurufen. Aber ich wollte sie nicht bedrängen und schon gar nicht aufdringlich erscheinen. Ich geduldete mich, obwohl mir das Herz bis zum Halse klopfte, blickte ich nur auf die Serviette mit den knallroten Ziffern. Bevor ich ins Büro aufbrach nahm ich den Zettel noch einmal in die Hand, drehte ihn sehnsuchtsvoll, gleich einer kostbaren Reliquie. Flüsterte den Namen Tiffy lautlos vor mich hin.

„Alter Narr“, schimpfte ich mich, „sie will nichts von dir. Über das Alter einer romantischen Schwärmerei solltest du hinaus sein.“

Andererseits da war dieser Kuss, den ich auf meinen Lippen spürte als hätte sie ihn mir eben erst geschenkt. Ich glaubte Kardamom, Nelke und Zimt zu schmecken, leckte mir verstohlen die Lippen, obwohl gewiss nicht mehr das geringste Tröpfchen des Chai-Tees darauf haften konnte.

„Denk an deine Regeln“, hämmerte ich mir ein. Vergeblich. In der Kanzlei machte ich offensichtlich einen verstörten Eindruck, denn Erika taxierte mich mit einem fragenden Blick. Sie saß zugeknöpft wie immer an ihrem Schreibtisch, hämmerte einen Schriftsatz in die Maschine, musterte mich über ihre Brille. Ich war an diesem Tag so verwirrt, dass ich sogar vergessen hatte mir meine rote Fliege umzuhängen. Wortlos erhob sie sich und fischte aus meinem Spind eine Ersatzfliege, die sie mir, nicht ohne mich verunsichert von der Seite anzublicken neben die Kaffeetasse legte. Ihr üppiger Busen streifte mein Ohr, gefährlich nah. Übermütig gab ich ihr einen Klaps auf den Po.

Alte Gewohnheit dachte ich, auch wenn ich mir diese plumpen Vertraulichkeiten sonst nicht erlaube. Sie maß mich denn auch mit einem strafenden Blick, rauschte wortlos aus dem Raum. Ich wurde nicht schlau aus ihrem Verhalten, wollte mir aber in meinem euphorischen Zustand keine Gedanken über Erika machen. Zu sehr beschäftigte mich Tiffy. Meine Laune schwankte zwischen vergnügtem vor mich hin pfeifen und mutlosem dahindämmern.

An diesem Tag war ich zu nichts zu gebrauchen. Wie gut, dass mein Mandant für heute kurzfristig abgesagte. So grübelte ich den Tag vor mich hin. Mittags machte ich einen langen Spaziergang, fand mich vor einem Juweliergeschäft in der Kaufingerstraße wieder, in der Hand ein Lachsbrötchen mit viel Zwiebeln vom Viktualienmarkt. Mittagessen bei Tiffany, dachte ich. Am Nachmittag verfasste ich einen Schriftsatz zu einer Scheidung. Ein ungleiches Paar. Sie, deutlich jünger als er, hatte einen Liebhaber und er wollte sich nicht in das Unvermeidliche schicken. Seine Devise: wenn ich sie schon nicht mehr besitzen kann, soll sie auch keinen Cent aus meinem Vermögen erhalten.

Am schlimmsten war die Nacht. Alle Geräusche verstummten, nur das Ticken des Weckers zerhackte die Zeit. Ich konnte einfach nicht aufhören an Tiffy zu denken, in der endlos langen Dunkelheit, in der ich mich schwitzend, unruhig von einer Seite des Bettes auf die andere wälzte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich mich auf meine alten Tage, trotz aller Bedenken noch einmal so verknallen könnte. Aber gegen die Torheit des Alters ist niemand gefeit. Ich sah unseren Altersunterschied, doch ich wollte ihn nicht wahrhaben. Ich ahnte unsere Zukunft und scherte mich nicht darum. Sie war blutjung und erfrischend anders. Konnte ich der Verlockung dieses jungen Körpers widerstehen? Wollte ich es, trotz meiner ehernen Grundsätze?

Heiße Tage - liebestolle Nächte

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