Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 10
5. Castillo Maravilla
ОглавлениеJen betrat die Bibliothek.
»Was ist passiert?!«, fragte Kevin, der sie zuerst entdeckte. Sein dunkelblondes, kurz geschnittenes Haar wirkte zerzaust. Ein Bartschatten lag auf dem Gesicht, die Augen schauten müde drein. Vermutlich hatte er die letzten Stunden damit verbracht, Stärke zu beweisen, wie er es immer tat.
Daneben sah Chris, sein Zwillingsbruder, von einem Folianten auf. Beide glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sah man von dem Tattoo ab, das Chris' rechtes Schulterblatt zierte und auf den Oberarm überging.
Clara kam mit einer Papyrusrolle aus dem rückwärtigen Bereich. Jeder ihrer Schritte strahlte eine Mischung aus Eleganz und Zielstrebigkeit aus. Die dunkle Haut, das seidig-schwarze Haar, die leuchtenden Augen: Es gab niemanden – ob Mann oder Frau –, der sich nicht nach Clara umdrehte; erfüllt von Liebe auf den ersten Blick, Bewunderung oder Neid.
Jen sank in einen der Lesesessel. Zum ersten Mal seit Stunden konnte sie durchatmen. Nachdem Mark gestorben war und sein Sigil sich neu manifestiert hatte, war sie nach London gehetzt, um den Erben zu retten. »Die Schattenkämpfer waren schneller.«
Kevin erbleichte. »Ist er …«
Sie schüttelte den Kopf. »Seltsame Sache. Als ich ankam, lag er bewusstlos in einem erloschenen Bannkreis. Scheinbar hatte ein Parasit ihn entführt.«
»Wieso war er dann noch am Leben?«, fragte Chris.
Anfangs hatte Jen Schwierigkeiten gehabt, beide zu unterscheiden. Mittlerweile konnte sie Gestik, Mimik und Tonlage dem jeweils richtigen Bruder zuordnen. Zudem war Chris' Gesicht einen Tick schmaler.
»Keine Ahnung.« Jen nahm ein Glas Wasser entgegen, das Clara ihr reichte. »Sie hat ihm Essenz abgezogen, er wurde bewusstlos. Was danach passiert ist, weiß er nicht. Aber scheinbar nichts Gutes für das Drecksvieh. Ich hab die Überreste gefunden. Momentan untersuchen die Heiler unseren Neuling. Dann folgt der Test.«
Letzteres führte der Rat bei jedem Neuerweckten durch. So wurde die Farbe von Aura und Spur erfasst und die Stärke der Basismagie.
In den kommenden Tagen würde sich frisches Wissen über Magie in Alexander Kent manifestieren. Zuvor musste sie ihn zu den Lichtkämpfern und der Geschichte aufklären. Das war oft ein gewaltiger Schock, veränderte es die Sicht auf die Welt doch außerordentlich. Meist wechselten sich Euphorie über die neu gewonnene Macht mit einem Gefühlstief ab. Denn Magie forderte stets auch einen Preis.
»Wie ist er so?«, fragte Chris. Er saß mit verschränkten Armen auf dem Rand des Tisches. Die Spitze seines Tattoos lugte auf dem rechten Oberarm unter dem T-Shirt hervor.
Die Zwillinge waren charakterlich recht verschieden. Kevin genoss die Beziehung mit Max, war monogam bis in die letzte Haarspitze. Chris schien nicht für etwas Festes gemacht zu sein, hatte ständig Affären. Dabei ging er jedoch respektvoll mit seinen Gespielinnen um, weshalb Jen ihm das nicht übel nahm. Wehe aber, wenn seine Männlichkeit infrage gestellt wurde. Dann kam das Alphatierchen zum Vorschein.
»Er ist ein arroganter kleiner Macho«, murmelte sie. »Hat sofort mit mir geflirtet und was davon gemurmelt, dass der Tag vielleicht doch noch ein glückliches Ende nimmt. Er kommt aus einem üblen Londoner Stadtteil.« Sie barg das Gesicht in den Händen. »Ich vermisse Mark. Und dann bekommt ausgerechnet so ein Macho-Arsch sein Sigil.« Sie schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an das höhnische Lachen ihres Vaters wallte auf. Sie biss die Zähne zusammen. Gestern war Vergangenheit. »Lernt ihn einfach selbst kennen.«
Schweigen breitete sich aus.
Kevin nahm auf der Lehne ihres Sessels Platz, legte kraftspendend seine Hand auf ihre Schulter. »Was genau ist bei eurem Einsatz passiert?«
Erst jetzt realisierte Jen, dass sie der Gruppe noch nichts erzählt hatte. Sie berichtete, was im Herrenhaus geschehen war.
»Wächter?«, hakte Clara nach. »Moment.« Sie verschwand zwischen den Regalen und kehrte mit einem wuchtigen Verzeichnis zurück. »Zeig mal das Symbol.«
Jen hob das Smartphone in die Höhe.
Nach kurzem Suchen konstatierte die Freundin: »Nichts. Wer die auch waren, ihre Gruppe steht hier nicht.«
Chris' Bizeps trat hervor, als er die Schriftsammlung entgegennahm und durchblätterte. »Der Rat muss die Wächtergruppe für so wichtig gehalten haben, dass er sie aus dem Verzeichnis gelöscht hat.«
»Oder genauer«, korrigierte Jen, »das, was sie bewacht haben.«
»Dieser Foliant«, sagte Kevin. »Den besitzen jetzt allerdings die seltsamen Kuttenträger mit dem Auge auf der Stirn. Das war wirklich eingeritzt? Die haben doch echt alle ’nen Knall.«
In Jen wuchs der Zorn bei dem Gedanken an die Mistkerle. Sie waren für Marks Tod verantwortlich. Dafür würde Jen sie zahlen lassen. Die Trauer wurde von der Wut unterdrückt – noch. Sie konnte das nicht ewig durchhalten, doch einstweilen musste sie stark sein. Jeder von ihnen musste das. »Der Rat?«
»Einen Versuch ist es wert«, sagte Clara. »Aber was es auch mit dem Folianten auf sich hat, wir müssen ihn zurückholen.«
»Ich könnte den Globus nutzen«, überlegte Kevin. »Das Signal war schon einmal stark genug, uns den Aufenthaltsort zu offenbaren. Falls diese Hampelmänner noch mal auf die Magie zugreifen, können wir das Teil so vielleicht orten.«
»Also schön«, entschied Jen, »Kev, versuch es. Clara, kannst du Marks letzte Aufzeichnungen zusammentragen? Für das Archiv.«
»Natürlich.«
»Chris, beschaff uns einen Springer.«
»Aye, Ma'am.«
Sobald das Energiefanal auf dem Globus auftauchte, mussten sie handeln. Ein Tor zu benutzen, würde sie nur in die Nähe bringen. Doch im Gegensatz zu normalen Magiern konnten Sprungmagier aus sich selbst heraus kurzzeitig Portale etablieren. Diese allerdings hatten gegenüber dem über Jahrhunderte gewachsenen Portalnetz keinen dauerhaften Bestand.
Leider gab es nur fünf Sprungmagier, die ständig irgendwo im Einsatz waren. Sie brachten Gruppen in Zielgebiete und holten sie wieder ab, halfen bei der Infiltrierung von schwarzmagischen Anlagen oder der Bergung von Artefakten.
»Was wirst du tun?«, fragte Kevin.
»Ich halte Händchen bei unserem Nachwuchs.« Jen verdrehte genervt die Augen. »Möglicherweise erwürge ich ihn auch. Mal sehen.«
Sie verließ die Bibliothek. Über dem Castillo hing ein Schleier der Trauer. In den Gängen waren Lichtkämpfer unterwegs, die von einem Auftrag zurückkehrten oder zu einem solchen eilten. Mittlerweile wussten alle, dass einer der Ihren gestorben, ein anderer neu erweckt worden war.
Jen wandte sich von ihrem eigentlichen Ziel ab, trat hinaus auf einen der Balkone. Tief sog sie die beißende Kälte in die Lungen. Der Winter zog rasend schnell herauf, war früh über diesen Teil des Landes hereingebrochen. Rings um das Castillo ragte Geäst in den Himmel, Bäume und Sträucher, die ihr Blätterkleid verloren hatten. In der Ferne schwappte das Wasser in der Poolanlage, einzelne Blätter trieben darauf. Durch die kargen Baumwipfel konnte sie den See erkennen, der ebenfalls auf dem mehrere Hektar umfassenden Grundstück lag. Im Sommer wimmelte es hier vor Leben. Lichtkämpfer, die auf Pferden in den Wald ritten oder am Pool die Sonne genossen und entspannten.
Jetzt war alles tot.
Eine Träne löste sich, rann ihre Wange hinab, benetzte ihre Lippen. Sie schmeckte salzig. Zu Wut und Trauer gesellte sich Schuld. Wenn sie nur geblieben wäre, möglicherweise würde Mark noch leben. Ein gemeinsamer Zauber, verbundene Kräfte …
»Er wird es schwer haben, deinen Platz einzunehmen«, murmelte sie.
Das Säuberungsteam hatte das Herrenhaus mittlerweile untersucht. Normalerweise wurde der Essenzstab geborgen und an den Erben weitergegeben. Fand ihn niemand, suchte das magische Instrument sich selbst den Weg zu seinem neuen Besitzer.
Doch der feindliche Zauber hatte nicht nur das Sigilfeuer ausgelöst, auch der Stab war verbrannt. Alexander Kent würde also einen neuen bekommen. Eine weitere Herausforderung, die vor ihr lag. Sie mussten den Stabmacher aufsuchen. Darauf hätte sie gerne verzichtet.
Jen ließ den Balkon hinter sich, ging auf direktem Weg zum Ratssaal. Das wuchtige Portal aus Hexenholz war verschlossen, die eingeritzten und mit Ornamenten verzierten Symbole versiegelten den Raum.
Jen lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand.
»Ich habe ja nichts Besseres zu tun.«