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17. Verschollen

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Stille hing über dem Castillo.

Clara schaute von den Papieren auf. Sie stand kurz davor, Max einen Kaugummi in den Mund zu schieben, damit irgendein Geräusch die Stille durchbrach. Er wirkte geknickt, wie ein Häufchen Elend. Zusammengekauert saß er auf der Couch im Turmzimmer. Die letzten Tage hatte er ihr geholfen, fast manisch versucht, Kevin, Chris und Jen zu finden. Doch mit jedem Rückschlag war die Hoffnung ein bisschen mehr geschwunden.

Johanna und Leonardo ließen sie gewähren. Nach der Rückkehr aus den Katakomben waren die weißen Steine nur noch daumengroße Klumpen gewesen. Clara hatte sie in einer Schatulle verstaut.

Wenn sie an den Unsterblichen dachte, wurde Clara wütend. Sein Vorpreschen hatte das alles erst ausgelöst. Ein Sprungmagier hatte ein Einsatzteam nach Berlin gebracht. Doch tief unter der Erde, wo zuvor das Refugium gewesen war, gab es nichts mehr. Der Hohlraum war fort. Zerstört.

Kommt schon, wo seid ihr?

Die Freunde lebten noch, das war eindeutig. Andernfalls hätte Aurafeuer sie alle bis ins Innerste gepeinigt und vier Erben wären erwacht. Gleichwohl handelte es sich um ein mächtiges Artefakt, das für die Ereignisse verantwortlich war. Konnte es das Aurafeuer vielleicht unterdrücken? Die Ungewissheit setzte Clara zu.

Max zerfraß es innerlich. Sie wollte ihm helfen, doch ihre Versuche waren erfolglos geblieben.

»Vier Tage.« Max' Stimme war nur ein Flüstern. »Wenn sie entkommen wären, hätten sie längst eine Möglichkeit gefunden, mit uns Kontakt aufzunehmen.«

»Vielleicht hat dieser Bund des Allsehenden Auges sie an einen anderen Ort gebracht – alle vier.«

Als Antwort erntete sie ein Schulterzucken. »Möglich.«

Sie rieb sich die müden Augen. All ihre Ansätze führten ins Leere. Auf den Suchgloben war nichts zu sehen, Aufspürzauber versagten – ihr gingen die Ideen aus.

In ihrer Verzweiflung hatte sie gar das Unfassbare getan und Kontakt mit ihrer Familie aufgenommen. Es hatte doch den einen oder anderen Vorteil, wenn Mutter, Vater und alle sechs Geschwister Magier waren. Derartige Dynastien gab es durchaus. Zeugten zwei Magier ein Kind, besaß es ebenfalls ein Sigil, meist sogar ein stärkeres. Allerdings führte das dazu, dass irgendwo auf der Welt auch ein Schattenkämpfer entstand. Der ewige Ausgleich der Kräfte, der niemals ins Ungleichgewicht geraten durfte.

Bedauerlicherweise hielten ihre Eltern große Stücke auf ihr Können. Undiplomatisch konnte man es mit »Arroganz« umschreiben. In diesem Fall indes wussten sie keinen Rat.

Plötzlich erklang Johannas Stimme über den Kontaktstein und riss Clara aus ihren Gedanken.

»Clara, Max, kommt sofort zum Portalraum.«

Während sie noch aufsah, preschte Max von der Couch, verwandelte sich in einen Wirbelwind und sauste davon.

Sie erreichten den Portalraum binnen kürzester Zeit. Vor einem der Pentagramme standen zwei Ordnungsmagier, dazwischen Johanna.

»Jemand hat ein Portal in das Netzwerk integriert«, sagte sie. »Leider fehlt der korrekte Schlüssel.«

Jedes neue Portal musste nicht nur im bestehenden Verbund verankert werden. Um zu verhindern, dass Schattenkämpfer auf diese Art eindrangen, musste eine Schlüsselfolge in den Anker eingewoben werden. Sie waren lang und äußerst komplex, in der Regel kannten sie nur die Portalmagier.

Tauchte ein Portal ohne Schlüssel auf, wurde es normalerweise sofort zerstört, ebenso alle Personen oder Objekte, die von dort in das Netzwerk eindrangen.

»Vielleicht sind es Kevin und die anderen«, sagte Max.

Gryff Hunter, der oberste Ordnungsmagier, kam herbeigeeilt. »Ich war zufällig hier. Ein Portal?«

Johanna hielt ihn zurück. »Ich werde das neue Portal nicht zerstören. Sollte jemand anderes hier ankommen, werden wir sofort reagieren.«

»Aber …« Gryff starrte sie entsetzt an. Er trug ein weißes Shirt, darüber eine Lederjacke. Die Jeans endeten in braunen Boots. An der Brust hing seine Plakette. In diesem Augenblick hätte er sich problemlos gegen Johanna stellen können. Die Regeln durften nicht einfach außer Kraft gesetzt werden. »Was erwartest du, wer oder was kommt hierher durch, Rätin?«

»Verlorene Freunde.«

Gryff ließ seinen Blick über Max und Clara wandern. Natürlich wusste er um das Verschwinden der anderen. Er war in die Ermittlungen eingebunden, hatte auch Berlin besucht, um sich vom Fortschritt der Recherche zu überzeugen. Unbemerkt von den anderen nickte er Clara aufmunternd zu. »In Ordnung. Aber wenn das eine Falle ist … Der Bund weiß, dass wir nach einer Spur suchen. Das alles könnte fabriziert sein, um einen gefährlichen Gegenstand hierher durchzuschleusen.«

»Möglich«, gab Johanna zu. »Aber ich vertraue auf meinen Instinkt. Die letzten paar Jahrhunderte haben ihn geschärft.«

Ein Totschlagargument, das wohl jeder Unsterbliche anbringen konnte. Insgeheim war Clara ihr dankbar, auch wenn sie die Gefahr erkannte, in die Johanna das Castillo damit brachte. Es mochten durchaus ihre Freunde sein, die da kamen. Falls es sich jedoch um eine Falle handelte, würden sie das Leben aller aufs Spiel setzen.

»Bist du bereit, das Castillo auf deinen Instinkt zu verwetten, Rätin?«

Johanna nickte.

In diesem Augenblick wandte sich einer der Ordnungsmagier direkt am Portal um. »Falls wir den Transfer aufhalten wollen, müssen wir es jetzt tun. Was auch immer auf dem Weg ist, es erreicht uns in wenigen Sekunden.«

Clara fragte sich nicht zum ersten Mal, was geschah, wenn der hiesige Zugang nun geschlossen wurde. Es gab unzählige Gerüchte darüber, was mit jenen passierte, die noch auf der Reise waren. Gefangen im Limbo für alle Ewigkeit? Umgeleitet auf ein anderes Tor? Eingefroren bei der Passage?

Sie bekam eine Gänsehaut.

»Wir lassen es offen«, sagte Gryff. »Aber wir warten hier nicht einfach ab.« Er ging zu seinen Leuten. Jeder von ihnen zeichnete einen Teil des Machtsymbols für eine Schutzsphäre.

In einem dreifarbigen Glühen entstand eine Kugel rund um das Portal. Lange würde sie einen Angriff nicht abhalten, doch Zeit konnte man damit allemal erkaufen.

Keinen Augenblick zu früh.

Claras Blick saugte sich an der wabernden Magie fest.

Alex stolperte daraus hervor. Ihm folgten Kevin – der den bewusstlosen Chris trug – und schließlich Jen. Alle vier sahen aus, als hätten sie die letzten Tage in der Wildnis verbracht.

Die Lippen rissig, die Kleidung verschlissen, die Augen blutunterlaufen – es war entsetzlich.

Gryff handelte gedankenschnell. Die Sphäre fiel zusammen.

Als Kevin in die Knie brach, fing der Ordnungsmagier Chris auf. Alex machte noch zwei Schritte, dann klappte er ebenfalls zusammen. Max sprang nach vorne und hielt ihn. Jen stützte sich an der Wand ab. Ihr Körper schien aufgeben zu wollen, doch sie ließ es nicht zu.

Clara hatte noch nie zuvor eine Frau kennengelernt, die sich selbst so viel abverlangte. Aufgeben war nie eine Option. Sie stand bis zuletzt. Immer.

Der Schatten von dem, was sie einst war. Vor dem Erwecken. Clara schluckte. Ein Opfer.

Jen umklammerte mit ihrem linken Arm den Folianten, als sei er das Kostbarste auf der Welt. Das Werk bestand aus einem zerfledderten Einband, die handgewobenen Fäden lösten sich bereits. Trotzdem konnte sie die Macht spüren, die davon ausging.

»Du hast eine Menge zu erklären, Rätin«, krächzte Jen an Johanna gewandt. »Wusstest du es?«

Die Rätin erwiderte ihren Blick verblüfft. »Wovon sprichst du?«

Sie hustete. Mit zittrigen Beinen hielt sie sich gerade noch aufrecht. »Feuerblut, Silberregen, Ascheatem.«

Und während die Heilmagier hereinstürmten und Jen endgültig in sich zusammensackte, während der Foliant zu Boden stürzte und Max zu Kevin eilte, während die Ordnungsmagier die bewusstlose Jen untersuchten und Clara sich fühlte, als breche soeben ein Sturm los …,

… entgleisten die Gesichtszüge von Johanna von Orléans.

»Nein«, flüsterte sie.

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik

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