Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 25
20. Zwischen den Welten
ОглавлениеAlex stand zwischen den Hausruinen am Rand des Feldes und blickte in die Ferne. Der Wind hatte aufgefrischt, auf dem Spielplatz nahe der Baustelle drehte sich das Karussell, wippte die Schaukel vor und zurück.
Wie allen Lichtkämpfern war auch ihm ein Zimmer im Castillo angeboten worden. Er hatte angenommen, um die Studien in Ruhe ausüben zu können, doch am Ende des Tages würde er stets nach Hause zurückkehren. Gut, er hatte erst einmal wieder seinen gesamten Mageninhalt ausgekotzt, als er das verborgene Portal in London verließ. Aber es war schon nicht mehr so schlimm gewesen. Laut Chris würde es noch ein-, zweimal passieren, dann hatte sich sein Körper daran gewöhnt. So würde er stets wechseln, zwischen seinem Leben als Magier und dem eines Nimags.
Ein Kind zweier Welten.
So konnte er am besten seine Mum unterstützen. Außerdem musste ja jemand auf Alfie achtgeben. Der Nachwuchsmacho sollte es irgendwann mal besser haben als Alex. Jugendbanden und Kleinkriminelle bekamen jeden, der hier aufwuchs, früher oder später in ihre gierigen Fänge. Bei seinem kleinen Bruder würde das anders ablaufen, dafür würde er sorgen.
Immer wieder glaubte er, in der Ferne das grüne Licht zu sehen, den Energieball, der auf ihn zuflog. Der Moment seiner zweiten Geburt, wie Clara es genannt hatte. Das magische Erbe war erwacht. Ein Augenblick, den er niemals vergessen würde.
Alex wandte sich einer der Hausbaracken zu.
Wenn er wütend war, joggte er durch halb Brixton. Wollte er nachdenken, stieg er die unverputzten Zementstufen empor. Wasserpfützen patschten unter seinen Füßen, wo der Regen Lachen gebildet hatte. Das Geräusch hallte zwischen den weiten, unbebauten Stockwerken wider, verfing sich in den Säulen und verschwand.
Auf dem Dach blieb er stehen und ließ den Blick schweifen. In der Ferne ging die Sonne unter. Es gab nichts zu sehen, was er nicht bereits hundertmal gesehen hatte. Die altbekannten Felder, Häuser und Unterführungen. Dazwischen lungerten Jugendliche auf den Straßen herum, alte Männer und Frauen standen an offenen Fenstern und bliesen Rauch in die Luft. Hier wie da schlich ein Penner durch die Gassen, immer darauf bedacht, nicht mit einer der Banden aneinanderzugeraten. Die hatten oft Spaß daran, Schwächere zu schubsen, zu treten oder Schlimmeres zu tun.
Durfte er seine Magie einsetzen, um hier etwas zu verändern?
Er schluckte.
Würde er das überhaupt dauerhaft können?
Denn da war die eine Sache, über die er mit niemandem gesprochen hatte. Worte, die nur an sein Ohr gedrungen waren. Die Bedeutung hatte sich erst viel später entfaltet, als er Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken.
Huan hatte neben dem Altar gestanden, auf ihn herabgeblickt. »Gesprochen wie ein Nimag, der du sein solltest«, hatte der Kampfmönch gesagt, bevor er die tödliche Sigilklinge hervorzog.
Wie ein Nimag, der du sein solltest, hallten die Worte in Alex' Gedanken wider. Und wieder. Und wieder.
Mittlerweile hatte er begriffen, dass es ungewöhnlich war, wenn ein Magier starb und sich dessen Sigil in direkter Nähe einen Ersatz suchte. Bisher war das wohl niemals vorgekommen. Dazu die seltsame Begebenheit, dass die Schattenkämpfer diesen Mark unbedingt hatten töten wollen.
Bin ich fälschlicherweise erwählt worden?
Endlich hatte er es geschafft. Alex war jemand. Nicht länger ein arbeitsloser Möchtegern unter ein paar Tausend, die hier vor sich hinvegetierten; vergessen von der Gesellschaft, verleumdet von der Politik. Jetzt konnte er etwas verändern, er besaß Macht. Als Lichtkämpfer würde er Unschuldige vor dunkler Magie beschützen.
Ich kann tatsächlich etwas bewirken. Es darf kein Fehler gewesen sein.
Er trat ganz an den Rand der Baracke. Sieben Stockwerke ging es nach unten. Ein Grinsen bildete sich auf seinem Gesicht.
Mit ausgestrecktem Finger malte er ein Symbol in die Luft. Die bernsteinfarbene Spur blieb bestehen, während er es vollendete. Er musste nicht einmal darauf achten, ob ihn jemand sah. Der Wall verbarg Magie vor Menschenaugen – vor Nimags. Erinnerungen schwanden, die Realität wurde maskiert, es bestand keine Gefahr.
Mit einem letzten Strich komplettierte er das Symbol. Dann trat er einen Schritt nach vorne …
… und sackte in die Tiefe.
Er schrie.
Ein Schrei, der in ein Lachen überging, als sein Fall sich verlangsamte. Die Schwerkraft wurde aufgehoben. Er kicherte, lachte, jauchzte vor Glück, wie ein Kind, das gerade das Fahrradfahren gelernt hatte. Ganz langsam glitt er zu Boden, kam sanft zwischen Kies und Erde auf.
Ich bin ein Magier.
Er hob die Arme in die Luft. »Ich bin ein Magier!«
Gut, wenn das nun jemand hörte, hielt man ihn vermutlich für bekloppt. Und da es hier ziemlich viele gab, die plemplem waren, sich aber kein Psychiater jemals hierherverirrte, war er sicher.
Doch Alex war sich sicherer denn je. Er hatte seine Bestimmung gefunden. Was es auch mit Mark, den Kampfmönchen, der Schattenfrau und irgendwelchen Prophezeiungen auf sich haben mochte: Er würde das Rätsel lösen.
Komme, was wolle, seine magische Kraft gehörte ihm.
Und niemand würde sie ihm wieder wegnehmen.
Das war das wahre Leben, von dem er so lange ausgeschlossen gewesen war.
Fröhlich ein Lied pfeifend, hin und wieder einen Stein wegkickend, ging er nach Hause. Er war bereit.