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11. Memorum excitare II

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Die Szene erwachte sofort zum Leben. Beinahe wäre Clara Hunderte von Metern in die Tiefe gestürzt, als sie auf der Balustrade der Plattform einer gewaltigen Turmuhr erschien. »Himmel!« Sie machte einen Satz zurück.

Die Zeiger deuteten auf kurz vor zwölf.

Leonardo und Johanna standen Rücken an Rücken, die Essenzstäbe erhoben, und erwehrten sich einer Horde von Schattenkreaturen. Dazwischen sprangen Schattenkrieger heran, die mit gezückten Stäben Kraftschläge abfeuerten.

»Hm, das könnten die 70er oder 80er sein«, murmelte Chloe.

»Albert, vielleicht beeilst du dich etwas«, rief Johanna.

»Ist ja gut«, kam es zurück. »Ein alter Unsterblicher ist doch kein D-Zug.«

Der Professor stand auf einem Vorsprung, hatte sich um die Platte der Uhr gebeugt und friemelte an deren Innereien herum.

»Wenn das Ding zwölf Uhr schlägt, wird jeder Bewohner dieser Stadt zu Stein«, fluchte Leonardo. »Vielleicht wirst du doch lieber zu einem D-Zug.«

»Immer diese Hetzerei«, grummelte Einstein. »Reparier dies, Albert, reparier das. Ach ja, und bitte gestern. Ich weiß, verdammt noch mal, was auf dem Spiel steht.«

»Wir sollten wieder gehen«, sagte Clara.

»Warte, ich will sehen, wie das hier ausgeht«, erwiderte Chloe gebannt.

In der Ferne kam ein Schwarm geflügelter Kreaturen heran. Die ledrige Haut war bedeckt von tiefen Runzeln. Die Flügel besaßen eine beachtliche Spannweite, waren aber – wie sich kurz darauf herausstellte – gegen Kraftschläge immunisiert.

»Von wegen, Saint Germain ist verzweifelt«, fluchte Leonardo. »Es mag ja sieben Jahre gedauert haben, aber die Viecher sind verdammt effektiv.«

»Das konnte ja niemand ahnen«, brummte Johanna. »Die armen Nimags. Und dann gleich noch Steinzauber obendrauf. Wie kam er nur an das Artefakt heran?«

Hinter ihnen fluchte Einstein lauthals.

»Nur keine Eile, Albert«, rief Leonardo.

»Du kannst mich mal!«, kam es zurück.

Johanna grinste.

»Das Artefakt stammt angeblich aus den Katakomben unter Paris«, erklärte da Vinci. »Ich bin vor einigen Jahren bei der Suche danach auf alte Unterlagen darüber gestoßen, konnte es aber nicht finden. Irgendjemand war da wohl schneller. Es gab jedoch Gerüchte.«

»Ja?« Johanna schmetterte einen heransurrenden Kraftschlag ab und ließ den Boden unter einem der nahenden Schattenkrieger flüssig werden. »Das gibt wieder eine Sauerei.«

Der Schwarm in der Luft war fast heran.

»Angeblich hielt sie sich damals auch in Paris auf.«

»Oh.« Johanna schien sofort zu wissen, von wem die Rede war. »Na, diesen Zauber würde ich gerne auf sie anwenden und ihr Schattenfeld zu Stein machen. Das wäre doch was.«

»Oho, so brutal, meine Liebe?«, fragte Leonardo.

»Wenn es um sie geht, schon. Langsam hab ich genug. Dann hat sie dem Grafen das Artefakt vermutlich gegeben.«

»Gut möglich.« Leonardo malte mit der einen Hand ein Symbol in die Luft, das eine kobaltblaue Spur hinterließ. Mit der anderen schwang er den Essenzstab. Die Luft rings um die fliegenden Kreaturen flimmerte. Im nächsten Augenblick standen sie in Flammen.

Der Zeiger der Turmuhr rückte weiter vor.

»Albert«, drängte Johanna vorsichtig. »Ich will dich ja wirklich nicht hetzen.«

»Ich könnte jetzt in aller Ruhe ewig schlafen«, grummelte Einstein. »Tot sein. Stattdessen stehe ich hier, auf einem halb verfallenen Glockenturm im Nirgendwo, und werde gehetzt. Wollt ihr es vielleicht selbst machen?«

»Es ist fünf vor zwölf, Albert«, warnte Johanna.

»Du und deine Metaphern.«

»Nein, es ist wirklich fünf vor zwölf.«

»Oh, schon.« Einsteins zerzauster Haarschopf tauchte aus dem Gewirr aus Drähten auf. »Tatsächlich. Da sollte ich mich wohl etwas sputen.«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee, die du da hast«, bescheinigte ihm Leonardo trocken.

Johanna verpasste ihm einen Rippenstoß. Leise zischte sie: »Benimm dich.«

»Mir käme nie etwas anderes in den Sinn. Wollen wir nach dem Ganzen hier was trinken gehen?« Leonardo lächelte Johanna zu. »Ich kenne da ein schönes Fleckchen in Deutschland. Ein Weingut.«

»Du meinst, falls wir nicht als Steinstatuen enden?« Sie zwinkerte ihm zu. »Immerhin, diese Briketts hier werden uns nicht mehr gefährlich.«

Die verwandelten Nimags fielen als verkohlte Reste zu Boden.

Clara schluckte. Der Gedanke, dass das einmal unschuldige Menschen gewesen waren, die vom Grafen Saint Germain für seine Zwecke missbraucht worden waren, machte ihr erneut deutlich, dass dieser Mann keinerlei Gewissen besaß.

Der Zeiger der Turmuhr rückte auf eine Minute vor zwölf vor.

»Wir wären dann bei den letzten sechzig Sekunden angekommen, Albert«, rief Johanna. »Musst du es immer so spannend machen?«

»Das ist der Literat in mir«, kam es dumpf zurück. »Alles über drei Sekunden ist langweilig.«

»Ich mag ihn.« Chloe grinste verschmitzt. »Schade, dass wir das Ende schon kennen.«

»Ja«, kommentierte Clara trocken, »total schade.«

Zwischen den Schattenkriegern entstand ein dunkler Wirbel, als ein Sprungmagier auftauchte. Er griff nach seinen Kumpanen und verschwand.

»Toll«, kommentierte Leonardo. »Vielleicht hätten wir auch einen rufen sollen.«

»Eine gute Idee«, sagte Johanna. »Nur etwas spät.«

»Ha!«, rief Einstein. »Das war’s.«

Die Uhr blieb stehen.

»Weißt du, Albert, das nächste Mal feuern wir einfach einen Kraftschlag ab und zerschmettern das Ding.« Leonardo deutete grimmig auf die Uhr.

»Aber dann wäre sie kaputt gewesen.« Albert wirkte schockiert.

Johanna seufzte. »Ende gut, alles gut. Holen wir das Artefakt aus dem Ding und verschwinden wir. Ich brauche eine Auszeit.«

»Wie ich Saint Germain kenne, hast du maximal ein paar Tage.«

»Du meinst: wir.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Ich wusste es«, sagte Chloe. »Es gab ja Gerüchte, aber niemand wusste etwas Genaues. Die beiden waren mal ein Paar. Ha! Was meinst du, warum haben sie sich getrennt?«

»Das erfahren wir vermutlich in einem der anderen Mentigloben.«

»Echt?«

»Nein!«, rief Clara. »Und dafür sind wir auch nicht hier. Es geht um die Ratssitzung, verdammt noch mal. Die Abenteuer der Unsterblichen, ob magisch oder amourös, gehen uns nichts an!«

»Ist ja gut«, wiegelte Chloe ab. »Himmel, hoffentlich bekomme ich nie dein Gewissen. Ist ja übel.«

Wieder tauchten sie aus der Erinnerung auf.

»Also gut. Jetzt muss es aber klappen«, war Chloe überzeugt.

Sie stellten eine Verbindung zum nächsten Mentiglobus her. Das Büro verschwand, wurde ersetzt durch monochrome Farben.

Doch auf das, was nun geschah, waren sie nicht vorbereitet. Entsetzt starrten sie auf die Szene, die sich ihnen bot.

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik

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