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6. Ein Ablenkungsmanöver

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»Nicht schon wieder.« Leonardo da Vinci rollte genervt mit den Augen.

Chris versuchte, es nicht persönlich zu nehmen. Wenn er schon als Ablenkungsmanöver herhalten musste, konnte er das doch direkt verwenden, um seiner Sache erneut Gehör zu verschaffen. »Ich bin fit. Gesund.«

»Da sagte mir Schwester Theresa aber etwas anderes«, erwiderte der Unsterbliche.

Leonardo trug sein dunkles, gelocktes Haar mittellang, den Dreitagebart hielt er gepflegt. Die obersten Knöpfe seines Hemdes waren leger geöffnet, ein Lederband mit blauem Kontaktstein zierte den Hals, ergänzt durch eine Ledermanschette am linken Handgelenk. Der Essenzstab steckte, wie bei fast allen Lichtkämpfern, in einer Spezialschlaufe am Gürtel.

Chris hatte ihn vor dem Vorlesungssaal abgefangen, wo er Ingenieursmagie unterrichtete. Ein sehr komplexer Magiezweig, für den sich nur Wenige interessierten. Leonardo war stets miserabel gelaunt, sobald er den Saal verließ, weil die Handvoll Anwesender, die die Stühle besetzten, innerhalb kürzester Zeit einschliefen. Obendrein war er gezwungen, seine Notizen in normaler Schrift an der Tafel zu verewigen; nicht wie er es sonst tat, rückwärts mit der linken Hand geschrieben.

»Ich könnte Liegestütze machen«, bot Chris an. »Das würde beweisen, dass ich körperlich fit bin.«

»Du wurdest entführt, deiner Magie beraubt und von einem Kampfmönch quer durch einen Raum geschleudert. Laut Schwester Theresa hattest du Knochenbrüche und Prellungen, Blutergüsse und Schürfwunden.«

»Sie kann echt was, unsere Theresa.« Vorsichtig schaute Chris sich um. Mit der Heilerin war nicht zu spaßen. Die hatte Pfeffer im Arsch. »Sie hat quasi ein Wunder gewirkt.« Er breitete beide Arme aus.

»Zweifellos«, murmelte Leonardo. »Sollen wir sie dazuholen und das Ganze mit ihr besprechen?«

»Nein, nein, sie hat viel zu tun. Das ist nicht notwendig«, wiegelte er schnell ab. »Ich brauche einen Einsatz«, bettelte er weiter. »Oder wenigstens den Zugang zur Kampfhalle. Von mir aus auch einen Illusionierungskampf.«

»Recherche ist wichtig«, verkündete das Universalgenie kategorisch. »Unser Wissen zu mehren, ist bedeutsam.«

»Komisch«, erwiderte Chris, »ich erinnere mich an ein paar geschichtliche Aufzeichnungen, in denen in Bezug auf Leonardo da Vinci vom Kampf gegen Geheimlogen die Rede ist. Du hast Flugapparate selbst ausprobiert, dich heimlich duelliert und warst ein ziemlicher Aufreißer.«

Der Unsterbliche wirkte verdutzt. »Nun ja, es waren andere Zeiten. Außerdem hieß das nie ›Aufreißer‹.«

»Schürzenjäger?«

Leonardo winkte ab. »Das steht nicht zur Debatte.«

»Gab es da nicht nach deiner Erweckung zum Unsterblichen – und der Verjüngung – ein Duell zwischen dir und Dschingis Khan?«

Bei der Erwähnung des dunklen Ratsmitglieds verdüsterte sich Leonardos Gesicht. »In der Tat.«

»Und wurdest du dabei nicht verletzt?«

Der Unsterbliche schnaubte. »Das war etwas anderes.«

»Inwiefern?«

Leonardo schien zu überlegen, ob er Chris direkt hier und jetzt eine Lektion in Kampfmagie angedeihen lassen sollte. Doch dann seufzte er auf, ließ die Schultern hängen und sagte: »Ich wollte einen Happen essen. Leiste mir Gesellschaft, und ich erzähle dir davon. Aber mach dir keine …«

»Hoffnungen? Nie.«

Breit grinsend ging Chris neben Leonardo her. Unmerklich reckte er den Daumen in die Höhe.


Max kniff die Augen zusammen. »Ah, da, er gibt das Okay-Zeichen. Es hat funktioniert. Sie gehen nicht zum Büro.«

Kevin grinste breit. »Gut gemacht, Bruderherz. Da musst du jetzt durch.« Mal schauen, ob du es diplomatisch hinbekommst oder am Ende zur Strafe in der Ingenieursmagievorlesung antanzen darfst.

Sie rannten beide in Richtung des Unsterblichenflügels, wie er genannt wurde, weil dort der Rat seine Büros hatte.

»Glaubst du, er kann Leo überzeugen, ihm einen Persilschein auszustellen?«, fragte Max.

Kevin kicherte. »Niemals. Der hat viel zu viel Angst vor Schwester Theresa. Die würde auch vor einem Unsterblichen nicht haltmachen und ihm ordentlich den Kopf waschen.«

Ein lustiger Gedanke, wie er fand.

»Nach dem Gespräch mit Leonardo wird dein Bruder nie wieder für ein Ablenkungsmanöver zur Verfügung stehen«, vermutete Max.

»Das darf er mit Chloe ausmachen, die wird ihm den Kopf schon geraderücken. Im Duett mit Jen.«

»Apropos, sollten sie und Alex nicht langsam zurück sein?«, überlegte er. »Ich dachte, es dauert nicht lange, wenn Nostradamus einen Essenzstab erwählt.«

Kevin zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt weiß das niemand so genau. Es gibt kaum jemanden, der einen neuen Stab benötigt. Der sucht sich ja den Nachfolger automatisch und ist sigilgebunden.«

Sie grüßten im Vorbeigehen ein befreundetes Team, das gerade von einem Einsatz zurückkehrte.

»Jen hat damals auch einen neuen Stab gebraucht«, bemerkte Max.

Kevins Magen verkrampfte. Ja, das hatte sie. Die Erweckung von Jens Macht war ein Paradebeispiel dafür gewesen, was schiefgehen konnte. Er hatte sie gemeinsam mit Chloe in den Trümmern gefunden. Zwischen Blut und Toten und ihrem zerstörten Essenzstab. »Sie hat nichts darüber erzählt. Weißt du ja.«

»Jap. Aber vielleicht hat sie ein paar Andeutungen fallen lassen?«, fragte sein Freund. »Da waren wir ja noch nicht zusammen, du und ich.«

»Das hätte ich dir erzählt. Aber nein, hat sie nicht.« Kevin hatte Jen versprochen, niemals darüber zu sprechen. Es blieb ihr überlassen, wem sie von dieser grauenvollen Nacht berichtet.

»Vielleicht wird Alex das Geheimnis endlich lüften«, überlegte Max, wobei er eine Kaugummiblase machte und sie platzen ließ.

Kevin seufzte innerlich. Den Kampf gegen das Kaugummi würde er niemals gewinnen. »Du kannst ihn ja fragen.«

Sie erreichten den Zugang zum Unsterblichkeitsflügel, wo Chloe und Clara bereits warteten.

»Also gut, wir halten Wache. Und ihr legt los.«


»Sind quasi schon auf dem Weg«, flüsterte Clara.

»Du kannst ruhig normal sprechen.« Chloe zwinkerte. Nur, um die Stimme zu einem Flüstern zu senken. »Wir stehen nämlich noch auf dem Gang.«

Max und Kevin lachten.

Sie ließen die beiden Jungs zurück und schlichen tiefer in die Gangfluchten. Jeder Unsterbliche hatte hier ein Büro, wobei sich die meisten jedoch ständig woanders aufhielten.

Johanna war die inoffizielle Leiterin des Castillos. Leonardo war meist mit Konstruktionen, Theorien oder dem Entwickeln gänzlich neuer Zauber beschäftigt. Einstein befasste sich noch immer am liebsten mit Physik. Er versuchte, die grundlegenden Eigenschaften der Magie zu entschlüsseln, deren Gesetzmäßigkeiten sich größtenteils jeder Definition entzogen. Und so hatte auch jeder und jede der übrigen Unsterblichen Eigenheiten, die sie von ihrem normalen Leben als Nimags in die Unsterblichkeit getragen hatten.

Vor Leonardos Büro blieben sie stehen.

Clara schluckte. Sie fühlte sich schuldig. Andererseits hatte sie Verantwortung für ihr Team, ihre Freunde. Da war es ihr gutes Recht, gegen eine solche Geheimniskrämerei vorzugehen, oder nicht?

Chloe drückte die Klinke herunter und trat ein.

Aus dem Nichts heraus entstand ein Nebelgebilde. Es zeigte Leonardo. Seine Stimme hallte aus dem magischen Äther in die Wirklichkeit: »Ich bin zurzeit nicht anwesend. Kommt später wieder.«

Das Gebilde zerstob.

»Das hätte er echt charmanter ausdrücken können«, fand Chloe. »Also schön, finden wir den verdammten Mentiglobus – und dann nichts wie weg.«

Vorsichtig drangen sie tiefer in das Büro vor.

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik

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