Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 33
4. Echos aus dem Gestern
ОглавлениеJen schaute sich aufmerksam um, die Lippen zu einem Strich zusammengepresst. Sie wollte Alex keine Angst machen, es reichte, wenn einer von ihnen der Panik nahe war. Natürlich hatte sie sofort versucht, mit dem Kontaktstein Johanna, Leonardo, Clara und Kevin zu informieren. Doch sie war nicht zum Castillo durchgekommen. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, ein Dämpfungsfeld um diesen Ort zu errichten. Natürlich konnte es sein, dass der Schutz noch von Nostradamus erschaffen worden war. In dem Fall wurde ihnen dessen Sicherheitswahn nun zum Verhängnis. Wer ihn auch immer angegriffen hatte, musste über verdammt mächtige Magie gebieten. Ein Unsterblicher, geschult durch die Jahrzehnte, in diesem Fall sogar Jahrhunderte des Lebens und obendrein in unzähligen Kämpfen erprobt, ließ sich nicht so einfach ausschalten.
Bedauerlicherweise kamen trotzdem zahlreiche Feinde infrage, denen sie so etwas zutraute. Saint Germain und der dunkle Rat, die wenigen anderen, die diesen zuarbeiteten, möglicherweise der Bund des Sehenden Auges – von dessen Existenz sie erst kürzlich erfahren hatten – oder die Schattenfrau.
Letztere war zweifellos stark, sie schien etliche Jahrhunderte auf dem Buckel zu haben. Andererseits hatte sie – soweit Jen wusste – niemals selbst so offen angegriffen. Das übernahmen meist die anderen. Sie war eher eine Intrigantin, die aus dem Hintergrund wirkte. Dem Schatten. Ihre Bezeichnung trug sie nicht umsonst. Wie gerne hätte Jen dieses elende Miststück mit einem gezielten Zauber erledigt und das Schattenfeld aufgehoben. Wer mochte wohl darunter zum Vorschein kommen?
Sie pirschten durch die weitläufigen Gänge, jederzeit darauf bedacht, sich eines Angriffs zu erwehren. Doch nichts geschah. In Jen reifte der Verdacht heran, dass Nostradamus einfach nur hatte beseitigt werden sollen. Denn dadurch kamen die Lichtkämpfer nicht länger an neue Essenzstäbe.
Sie stiegen Treppenstufen empor, rannten Gänge entlang und erreichten schließlich eine wuchtige Holztür, die offen stand. Die Spur führte direkt hinein. Jen sprang mit erhobenem Stab voran. Alex folgte dichtauf. Auch hier erwartete sie keine böse Überraschung.
»Seltsam.« Sie sah sich um.
Und realisierte im gleichen Augenblick, wo sie sich befanden.
»Zurück!«
Doch die Eingangstür schlug dumpf zu, ein Klacken ertönte.
»Was ist los?« Panisch warf Alex den Kopf hin und her, suchte nach einer herannahenden Gefahr.
»Das hier ist die Erinnerungskammer. Normalerweise betritt man sie alleine. Aufgrund dessen, was der Raum offenbart – und Nostradamus’ späterer Prüfung – wird der Essenzstab zugeteilt. Das wird jetzt …«
Stein wurde zu Glas.
Von einem Augenblick zum nächsten standen sie in einem gläsernen Kubus, dessen Wände, Boden und Decke wie überdimensionale Monitore erschienen. Es war allerdings kein Fernsehprogramm, das übertragen wurde.
Jen starrte entsetzt auf die Szene, die sich ihr bot.
Alex stand in einer heruntergekommenen Unterführung, umringt von anderen Jugendlichen. Er war um die zwanzig Jahre alt, vielleicht etwas älter. Auf seinem Kopf saß eine Basecap, deren Schirm im Nacken hing. Seitlich lugte sein dunkelblondes Haar hervor. Er trug einen Hoodie und weite Baggyhosen, die Füße steckten in prolligen Nike Shox. Das Goldkettchen um seinen Hals machte das Bild perfekt.
Unter dem Grölen seiner Freunde, die ihn anfeuerten, schlug er einem anderen jungen Mann die geballte Faust ins Gesicht. Blut spritzte. Das Knacken einer brechenden Nase war zu hören.
»Und, gibst du es freiwillig her?«, sagte die junge Version von Alex.
Der andere schüttelte den Kopf. Tränen rannen über seine Wangen, er biss fest die Zähne zusammen.
Alex zuckte gelangweilt mit den Schultern. Seine Faust schoss erneut voran. Und wieder. Und wieder. Am Ende lag der andere am Boden. Sein Gesicht glich einer breiigen Masse aus aufgeplatzter Haut, einer gebrochenen Nase, blutenden Brauen und zugeschwollenen Augen. Der junge Alex schickte einen Tritt in den Magen hinterher. Unter dem noch lauteren Gegröle seiner Freunde zog er dem Liegenden den Geldbeutel aus der Hosentasche.
Gemeinsam trollten sie sich.
Jen war geschockt von so viel Brutalität. Natürlich hatte sie im Kampf gegen die Schattenkrieger einiges erlebt. Manipulierte Menschen, die schlimme Dinge unter dem Einfluss von schwarzer Magie oder Artefakten taten. Magier, denen das Leben von Nimags völlig egal war, sahen sie diese doch als bessere Sklaven an.
Besonders unter den Schattenkriegern war – indoktriniert durch den dunklen Rat – ein Gedanke zum allgemeinen Konsens geworden: Die magische Welt litt unter dem Wall, der erschaffen worden war, um Nimags zu schützen. Eine völlige Verkehrung der natürlichen Ordnung der Dinge. Nach über einem Jahrhundert war es an der Zeit, die Machtverhältnisse umzukehren. Manche glaubten gar, dass Nichtmagier ohne eine starke Kontrolle gar nicht in der Lage waren, den Frieden auf der Welt zu bewahren.
Zugegeben, Jen sah auch Nachrichten. Kriege überall auf der Welt, Anschläge, wohin man blickte. Autokraten und Diktatoren, die aus dem Leid der Menschen Kapital schlugen, die auf dem Altar der angeblichen Sicherheit die Freiheit opferten. Trotzdem sah sie ebenso das Gute. Den Frieden. Die Freiheit. Demokratien in aller Welt, die versuchten, es besser zu machen.
Ihr Blick fiel zurück auf das blutende, wimmernde Bündel. Wie konnte in einem Menschen nur so viel Hass stecken? Jen hatte in Alex’ Augen gesehen, als dieser zugeschlagen hatte.
Da war Hass.
Jeder Schlag hatte ihr Innerstes erschüttert und Erinnerungen an andere Schläge an die Oberfläche gespült. Jene, die sie abbekommen hatte. Die sie zum Opfer gemacht hatten. Das Opfer eines Mannes, der schlug und Seelen zerstörte, weil er es wollte. Weil er es konnte. Weil es ihm gefiel.
Während die junge Ausgabe von Alexander Kent grölend Pfundnoten aus dem Geldbeutel zog, blieb der zusammengeschlagene Jugendliche zitternd zwischen Abfall, leeren Bierflaschen und zertretenen Zigarettenschachteln liegen. Er atmete noch, schwebte aber eindeutig zwischen Leben und Tod.
Jen ballte die Fäuste.
Es kostete sie jedes Quäntchen an Selbstbeherrschung, keinen Kraftschlag zu weben und gegen Alex zu schicken. Immer wieder musste sie sich vergegenwärtigen, dass diese Tat Jahre zurücklag. Das Sigil hatte ihn aus einem bestimmten Grund erwählt, ihn zum Lichtkämpfer gemacht.
Trotzdem tobte die Wut wie ein verzehrendes Feuer durch ihr Innerstes.
Auf dem Glas drehte der geschundene Jugendliche sich zur Seite und spuckte Blut auf den Boden.
In Jens Mund entstand ein metallischer Geschmack. Wie oft hatte sie selbst Blut gespuckt? War mit ihrer Mum in eine Privatklinik gefahren, wo mit dem richtigen Sümmchen niemand Fragen stellte?
Wunden wurden getackert, gelasert und mit Pflastern besprüht. Gebrochene Knochen waren die Folge eines Unfalls, »Kinder, Sie wissen ja, wie die so sind, Doc.«
Ich darf mich davon nicht beeinflussen lassen, klammerte Jen sich an die Logik.
Dieser Raum war nicht dazu gedacht, ihn gemeinsam mit einer anderen Person aufzusuchen. Jeder musste sich den eigenen Dämonen stellen. Sie schloss die Augen, um die Bilder zu vertreiben. Die Vergangenheit war genau das, vergangen. Sie durften ihre Handlungen davon nicht beeinflussen lassen!
Doch obgleich Jen gelernt hatte, ihre Emotionen zu bändigen, wusste sie, dass sie Alex nie wieder mit den gleichen Augen sehen würde.