Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 36
7. Trampel
ОглавлениеEntsetzt starrte Alex auf die Szene, die auf dem Glas ablief. Er achtete nicht länger auf Jen, obgleich eine jüngere Version von ihr die Hauptrolle in dem Szenario spielte.
Sie mochte etwa sechzehn sein, nicht älter. Umgeben von zwei anderen Mädchen schritt sie durch die Gänge einer Privatschule. Alle trugen die gleiche Uniform, ebenso den identischen hochnäsigen Blick. Die Lippen waren leicht gekräuselt, um deutlich zu machen, was sie von der Welt ringsum hielten. Sie stolzierten ganz oben, die Übrigen weit unten.
Scheinbar war gerade Pause.
Ein schüchternes Mädchen betrat den Raum, in dem sich das Trio Infernale stylte.
»Was tust du denn hier?«, fragte Jen herablassend.
»Ich muss auf die Toilette.«
»Hast du vielleicht um Erlaubnis gebeten, bevor du hereingestürmt bist?«, warf eine der anderen ein.
»Nennen wir sie doch ab jetzt Trampel«, schlug Jen kichernd vor.
»Also, Trampel, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«
»Ich musste nur auf die Toilette.«
»Wie vulgär«, befand Jen.
»Ich gehe wieder. Tut mir leid«, sagte das schüchterne Mädchen.
Doch weit gefehlt. Eine aus dem Trio stellte sich vor die Tür, eine andere verhinderte, dass das Mädchen in eine der Toilettenkabinen fliehen konnte.
Jen stylte sich in aller Ruhe zu Ende.
Als das Trio ging, blieb das Mädchen alleine zurück. Ein nasser Fleck hatte sich in ihrem Schritt ausgebreitet. Tränen rannen über ihre Wangen.
Die Wut, die in Alex hervorbrach, hätte beinahe jeden Schutz weggerissen, den er sich mit den Jahren errichtet hatte. Wie oft war er selbst gepeinigt Zeuge geworden, wie Jungs, die sich für etwas Besseres hielten, andere mobbten, um ihre eigene Stärke vor allen zu beweisen. Er selbst hatte in seiner Jugend viel mit sich anstellen lassen, weil er zu schüchtern gewesen war. Erst ein Befreiungsschlag, der ihn beinahe selbst in den Abgrund katapultiert hatte, hatte das geändert. Noch heute spürte er immer wieder Momente der Wut und des Hasses, in denen er einfach nur um sich schlagen wollte.
Logik und Vernunft spielten dann keine Rolle mehr, die Wut spülte alles hinweg. In den Jahren seines Erwachsenwerdens hatte er gelernt, dass in der zivilisierten Welt kein Platz für derartige Gefühle war. Nicht der körperlich Stärkere setzte sich durch. Nein, der Intelligentere, dem es gelang, die Gruppe hinter sich zu vereinen. Dabei spielte es meist nicht die geringste Rolle, ob man tatsächlich recht hatte, solange die anderen das nur glaubten – oder glauben wollten. Wieder andere suchten einfach die Nähe zur Macht, um im Fahrwasser aufzusteigen. So funktionierte es in den Jugendbanden daheim, wie auch in jeder »zivilisierten« Struktur, ob Politik oder Wirtschaft.
Diese Lektionen hatte er auf die harte Tour gelernt.
Und so war es auch an Schulen. Es gab jene, die das begriffen, sich die Macht nahmen und das Gegengewicht schufen, in dem sie mobbten. Und jene, die zu Opfern wurden.
Das bestätigte, was er über Jen gedacht hatte. Ein reiches Püppchen, das mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen war und seine Überlegenheit jeden spüren ließ.
Von Anfang an hatte sie auf ihn herabgesehen, war er nicht gut genug gewesen.
Am liebsten hätte er ihr die Faust ins Gesicht geschlagen.
Bleib ruhig.
Er schluckte. Sorgfältig legte er sich die Worte zurecht, die er herausbrüllen wollte.
Ein Riss im Glas machte das Vorhaben zunichte. Ein zweiter folgte. Ein dritter. Sich verästelnde Netze entstanden.
»Was ist das?«, fragte er.
Jen hielt ihren Essenzstab bereits in den Händen und wirkte, als habe ihr gerade jemand in den Magen geboxt. Erst jetzt begriff er, dass sie umgekehrt etwas aus seinem Leben gesehen hatte. »Keine Ahnung. Vermutlich nichts Gutes.«
Die Glaswände zerbarsten.
Aus der dahinter wallenden Schwärze schossen Kreaturen hervor, die einem Albtraum entsprungen schienen. Ihre graue Haut war von ledrigen Runzeln bedeckt, zwei Reihen messerscharfer Zähne ragten aus ihrem Maul. Sie funkelten Jen und Alex aus tückischen Augen an, kamen flügelschlagend aus der grenzenlosen Leere herangeschossen.
Blitzschnell zeichnete Jen ein Symbol in die Luft und murmelte dazu die Worte für eine Schutzsphäre der zweiten Stufe. Die Kugel umschloss sie beide, als die erste Kreatur heran war. Spitze Klauen schlugen in das Hindernis. Das Wesen stieß einen Schrei aus, der Alex zitternd in die Knie gehen ließ.
Die allumfassende Schwärze, ein ewiger Abgrund hinter dem Glas, machte ihm Angst. Allein vom Hinsehen bekam er das Gefühl, in die Leere zu stürzen. »Wir müssen hier raus!«
»Ach, wirklich? Jetzt, wo du es sagst.« Jen schoss Kraftschläge ab, die durch winzige Lücken in der Sphäre auf die Kreaturen trafen. Sie wurden zurückgeworfen, kamen jedoch sogleich wieder näher.
»Was sind das für Dinger?«
»Schattenkreaturen«, erklärte sie fahrig. »Sie gibt es in den verschiedensten Ausprägungen. Früher hätten die Menschen sie wohl Dämonen genannt. Diese Art hier nährt sich von dunklen Erinnerungen.«
»Und die können einfach so hier auftauchen?« Mittlerweile gab Alex seinerseits Kraftschläge ab.
»Nein. Das sollte nicht gehen. Sie müssen eine Ballung negativer Emotionen und Erinnerungen aufgespürt haben, kein Wunder. Aber die Barriere hätte sie abgehalten. Jemand hat den Schutz entfernt.«
Alex war durchaus klar, was das bedeutete. Jeden Augenblick konnte eine Hundertschaft Schattenkrieger hereinspazieren und den Kampf aufnehmen. Genau genommen geschah das gerade, obgleich es eben keine menschlichen Angreifer waren, sondern diese Kreaturen. »Wird dein Schutz halten?«
»Solange mein Sigil ausreichend Essenz abgibt, ja. Danach … Aurafeuer.«
Alex zwang sich dazu, den Schattenkreaturen ins Gesicht zu blicken. Angst war fehl am Platze. Sie benötigten eine Lösung. Eine Fluchtmöglichkeit.
Dann kam ihm eine Idee.
Mochte sich ihm auch bereits viel Wissen offenbart haben, manches fiel schon wieder dem Vergessen anheim. Wenigstens ein paar der einfachsten Zauber beherrschte er aber noch. Er schuf das Symbol für eine Gravitationsvektor-Umkehr. Die Schwerkraft wurde an bestimmten Punkten des Raumes verändert. Genauer: rund um die Glasscherben. Wie Pfeile schossen sie auf die Kreaturen zu, durchschlugen ihre Körper und ließen sie zerfetzt zurück. Jen warf sie mit Kraftschlägen in die Schwärze.
»Gute Idee«, kommentierte sie.
»Nun müssen wir nur noch hier raus.«
Langsam schoben sie sich zur gegenüberliegenden Tür. Wo neue Kreaturen auftauchten, setzte Alex sofort wieder die Glassplitter ein. Doch die nachkommenden Angreifer waren vorsichtiger. Sie glitten in schlingernden Ausweichbewegungen heran, und wo einer von Splittern zerfetzt wurde, kamen zwei neue nach.
Alex sprang zur Tür und rüttelte an dem Griff. »Wäre ja auch zu einfach gewesen.«
»Geh beiseite«, keuchte Jen. Sie gab ihm eine Sekunde, bevor sie den Kraftschlag ausführte. Doch nichts. Sie nahm ihren Stab und ließ die Holz-zu-Nebel-Transformation ablaufen. Wieder geschah nichts.
»Gemeinsam.« Alex zeichnete blitzschnell das Symbol.
»Warte.« Jen trat noch einmal an die Tür heran. Mit dem Stab ließ sie ein Symbol in das Holz einsickern. »Das schwächt die Struktur wenigstens etwas.«
Ihr gemeinsamer Schlag kam exakt zur gleichen Zeit und hob die Tür aus den Angeln.
Ohne sich umzusehen, rannten sie aus dem Raum.