Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 38
9. Die Mentigloben
Оглавление»Wow«, entfuhr es Clara.
Über ihnen an der Decke schwebten Drahtmodelle der ersten Flugzeuge und Gleiterflügel. Die Wand war behangen mit allerlei Gemälden, die Leonardo einst angefertigt hatte; er hatte sie direkt noch einmal gemalt.
Chloe deutete auf eines davon. »Und, hat er endlich mit der Sprache herausgerückt?«
»Wer für das Mona-Lisa-Porträt Modell saß? Nein.«
So ziemlich jeder versuchte, dem Unsterblichen diese Information zu entlocken. Angeblich sogar Johanna von Orléans, der er ein Replikat gemalt hatte. Doch er schwieg eisern.
Wie im Büro seiner Ratsgefährtin, gab es auch hier einen Globus. Natürlich völlig veraltet. Er stammte aus Leonardos Zeit des ersten Lebens als Nimag. Die Landesgrenzen hatten sich längst vollständig verschoben.
Auf nahezu jedem freien Fleck im Raum stapelten sich Papiere, dicht beschrieben mit der krakeligen Handschrift des Unsterblichen, unlesbar. Seine Marotte, alles rückwärts mit der linken Hand zu schreiben, machte es schwer, die Notizen zu entziffern.
»So, wo sind diese dummen Dinger jetzt?«, überlegte Clara.
Chloe lachte. »Komm schon, Bibliotheks-Girl, so einfach wird es auch wieder nicht. Dachtest du, wir spazieren hier herein und die Dinger schweben unter der Decke.« Sicherheitshalber schaute sie nach oben. »Nein.«
»Okay, ähm, Hackerbraut, aber wo suchen wir?« Chloes Vorliebe dafür, jedem Kosenamen zu verpassen – und diese zudem noch ständig zu wechseln –, konnte einem den letzten Nerv rauben.
Sie öffneten Schubladen, Schränke, klopften den Holzboden ab, hoben jedes Gemälde an, um einen möglicherweise verborgenen Tresor zu finden und prüften den Raum mit Indikatorsprüchen auf maskierte Dimensionsfalten.
»Und ich dachte, wenn ich erst zurück bin, gibt es wieder Action«, grummelte Chloe. »Stattdessen kriechen wir hier herum und es ist kein Einsatz in Sicht. Hätte gerne ein paar Schattenkrieger vermöbelt.«
Clara wusste, dass die Freundin nicht der emotionale Typ war. Sie ging mit Trauer anders um als die übrigen. Marks Verlust schmerzte sie jedoch sehr. »Willst du nicht wenigstens eine Andeutung über deinen Auftrag fallen lassen?«
»Würde ich ja gerne. Aber das kriegen die raus, verlass dich drauf. War echt streng geheim.«
»Muss auch mal sein. Bin trotzdem froh, dass es vorbei ist. Wie läuft’s mit Gryff?«
»Ach, wir …« Clara starrte die Freundin entsetzt an. »Du weißt davon?«
»Ich bitte dich. Wie sollte ich den Moment vergessen, als du mit einem Stapel Bücher in den Armen hoch erhobenen Hauptes aus der Bibliothek stolziert und mit ihm zusammengeknallt bist. Dass er gerade vom Training kam und sein Shirt abgestreift hatte, hat dich echt umgehauen, was?« Sie grinste frech.
Clara verpasste ihr einen Ellbogenstoß. »Wir haben uns danach wunderbar unterhalten.«
»Klar. Vermutlich mit einfachen Worten. So was wie: Ah. Oh. Ja. Tiefer.«
Ihre Wangen wurden heiß. »Du bist unmöglich.«
»Ach, Mensch, jetzt nimm nicht immer alles so ernst. Ist ja schlimm mit dir. Freut mich doch, wenn es passt. Wird das was Ernstes?«
Die Frage ließ das altbekannte Kribbeln in Claras Magen wieder aufflammen. Bisher hielten sie das Ganze locker. Eine Affäre. Und eine Freundschaft. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatten sich ihre Emotionen aber längst verselbstständigt. »Ich glaube schon.« Die Worte waren heraus, bevor sie sie zurückhalten konnte.
»Toll!«, rief Chloe. »Aber nicht, dass du mir plötzlich Ordnungsregeln rezitierst. Lass dich nicht noch braver machen, als du sowieso bereits bist. Das reicht völlig.«
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein sehr gemeiner Mensch bist?«
»Klar.« Chloe nickte eifrig. »Das passiert mir täglich. Und?«
»Ach, vergiss es.«
Sie lachten beide.
So sehr sie das unbeschwerte Plaudern auch abgelenkt hatte, so sehr wurde Clara nun unruhig. Die Zeit lief ihnen davon. Chris konnte Leonardo nicht ewig aufhalten. Sie mussten den verdammten Mentiglobus finden. Schnell.
»Hmmmm«, kam es von Chloe. »Wir sollten uns vielleicht überlegen, wer er ist.«
»Was meinst du damit?«
»Na, Leonardo. Warte mal.« Sie zog ihren Essenzstab und ging in die Knie. »Er ist Erfinder und mag Geheimnisse. Mal schauen, ob hier irgendwo ein Illusionierungszauber zu finden ist.«
Ein Wabern breitete sich explosionsartig von dem Punkt im Boden aus, an dem Chloe das Enthüllungssymbol gezeichnet hatte. Und tatsächlich war die Reaktion verblüffend mannigfaltig.
Ein Gemälde verschwand und gab einen dahinterliegenden Schacht frei. An einer Stelle des Bodens wurde ein verschlossener Eisensafe sichtbar, und im Inneren der Drahtmodelle, die unter der Decke schwebten, erschienen sie tatsächlich.
»Die Mentigloben!« Clara holte die Drahtgitter mit ein paar einfachen Fingerübungen herunter.
»Hm«, sagte Chloe.
»Was?«
»Das da«, sie deutete auf die Modelle, »sind sieben Mentigloben. Welcher davon ist jetzt der richtige?«
»Tja, wir werden wohl nachschauen müssen.«
»Bist du irre?!« Clara sah hektisch zur Tür. »Abgesehen von einer gewissen Zeitknappheit können wir das unmöglich tun.«
»Warum?«
»Es wäre unethisch.«
Chloe stemmte die Hände in die Hüften. »Also, mal schauen, wir brechen hier ein, nutzen Chris für ein Ablenkungsmanöver, durchsuchen das gesamte Büro und wollen eines der Dinger auslesen.« Sie deutete auf die gläsernen Kugeln. »Aber da ist es natürlich unethisch, wenn wir alle überprüfen.«
Clara trat einen Schritt zurück. Fahrig strich sie sich über das Gesicht. Falls Gryff jemals von dieser Sache erfuhr, würde er ziemlich mies drauf sein. Abgesehen davon fühlte der Gedanke sich widerlich an, in den Erinnerungen eines anderen herumzuschnüffeln. »Das sind Leonardos private Aufzeichnungen.«
Chloe sank auf die Kante des Schreibtischs. »Das weiß ich. Aber wenn es einen Verräter im Rat gibt, dann müssen wir das wissen. Der Einsatz dieses Erdbebenartefaktes hätte beinahe Chris, Kevin, Jen und Alex gleichzeitig das Leben gekostet. Das wäre ein regelrechtes Aurafeuerwerk geworden.«
Bedauerlicherweise war das ein schlagendes Argument. Nicht, dass es Claras moralische Bedenken zerstreut hätte, doch manchmal heiligte der Zweck eben die Mittel. Oder? Immerhin war es ebenso möglich, dass Leonardo selbst der Verräter war und nur von sich ablenken wollte.
»Uns bleibt wohl keine Wahl«, murmelte sie.
»Nein«, sagte Chloe. »Und Spaß habe ich daran nicht im Geringsten, das versichere ich dir.« Sie griff in die Höhe, nahm die Mentigloben und reihte sie auf der Tischplatte nebeneinander auf. »Dafür darfst du aussuchen, mit welchem wir beginnen. Vielleicht haben wir ja Glück und es ist auf Anhieb der Richtige. Die Chancen stehen auf unserer Seite.«
Clara verzog abschätzig die Lippen. »1:6 ist wohl kaum eine gute Chance.«
Chloe grinste. »Du bist nur viel zu pessimistisch. Also, womit geht es los?«
Sie deutete auf einen der Mentigloben in der Mitte. »Der hier.«
Die Freundin nickte.
Clara berührte die Glaskugel mit den Fingern, Chloe ebenso. Da es sich um ein magisches Artefakt handelte, musste keinerlei Zauber gewoben werden. Es reichte, wenn man die Worte aussprach, die die Verbindung herstellten. Beide räusperten sich. Dann sprachen sie die Machtworte, die den Eintauchvorgang in die Erinnerungen auslösten.
»Memorum excitare.«
Und die Welt verging.