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2. Überraschung

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Clara schob ihre Zehen unter der Bettdecke hervor – und zog sie sofort wieder zurück. Der Raum war eine Eisgruft. Einmal mehr verfluchte sie die Ungerechtigkeit der menschlichen Anatomie. Ständig fror sie, während den Männern so warm war, dass sie die Fenster aufrissen oder magisch die Temperatur senkten.

Neben ihr atmete Gryff Hunter, oberster Ordnungsmagier des Castillos, gleichmäßig ein und aus. Er schlief.

Sie drehte sich zur Seite, stützte den Ellbogen ab und betrachtete ihn. Sein Dreitagebart war drauf und dran, zu einem Vollbart zu werden, das dichte, dunkle Haar umrahmte wellig sein Gesicht. Die Decke reichte ihm nur bis zu den Hüften. Typisch. Vermutlich würde er sich nach dem Aufwachen darüber beschweren, dass es viel zu warm gewesen war.

Die nackte Brust war von dünnen Härchen bedeckt und so breit wie ein Wandschrank.

Sanft fuhr sie die Kuhle zwischen den Brusthügeln nach, was ihm einen leisen Seufzer entlockte.

Ein letztes Mal sog sie den Anblick ein, dann schlug sie die Decke zur Seite. Zitternd stieg sie in ihre Hose, streifte das Shirt darüber und richtete die Haare. Vermutlich würde ihr jeder ansehen, dass sie gerade wilden Sex gehabt hatte. Andererseits ahnte niemand etwas von der Affäre, die Gryff und sie am Laufen hatten. Und so sollte es auch bleiben.

Sie lächelte, biss die Zähne zusammen, als der altbekannte Kopfschmerz wieder zuschlug. In den letzten Tagen kam das ständig vor. Vermutlich war sie ultimativ verspannt.

Das gleichmäßige Atemgeräusch verstummte. Träge hob Gryff ein Augenlid. »Du gehst schon?«

Sie kam noch einmal zurück und setzte sich auf die Bettkante neben ihn. »Die anderen brauchen meine Hilfe.«

»Die Recherche?«

Sie nickte. »Wir geben nicht so schnell auf.«

»Das mag ich so an dir.« Er zog sie aufs Bett und verabschiedete sich mit einem feurigen Kuss. Sein Bart kratzte. »Gib mir Bescheid, sobald ihr etwas habt.«

»Aber klar.«

»Und geh in den Krankenflügel«, riet er ihr. »Diese Kopfschmerzen sind nicht normal. Verspannungen schön und gut, doch das geht bereits zu lange.«

»Möglicherweise liegt es auch daran, dass ich mich regelmäßig in einer Eisgruft halb nackt auf dem Bett herumwälze.«

»Ach was, dabei wird es einem doch warm«, erwiderte er mit seinem typischen Lausbubengrinsen, das sie so sehr mochte. »Das lockert die Muskeln. Wir sollten es noch etwas kälter …«

»Vergiss es!« Sie winkte ab. »Das nächste Mal wirke ich einen Feuerzauber.«

Ein Blick in den Raum machte abermals deutlich, dass das keine gute Idee war. Auf einem breiten Tisch stapelten sich Papiere zu laufenden Ermittlungen. Dazwischen standen Tassen, Teller mit Essensresten – die mittlerweile zu unheiligem Leben erwachten –, und benutzte Kleidungsstücke lagen herum.

»So ein reinigendes Feuer täte deinem Zimmer ganz gut, Mister Ordnungsmagier.«

Ein Kissen flog Clara ins Gesicht. »Ich mag meine Unordnung.«

Sie kicherte. »Du bist nur zu faul, etwas daran zu ändern. Aber schon in Ordnung.« Sie ging zur Tür und summte leise: »Brenn Feuer, brenn.«

»Das hab ich gehört«, kam es vom Bett.

Kichernd verließ sie Gryffs private Räume. Über einen Umweg in die Küche, wo sie sich mit einem Sandwich und Kaffee eindeckte, stieg sie nach oben ins Turmzimmer. Dort warteten bereits die Zwillinge Chris und Kevin sowie Max.

Chris lag auf dem Boden. Er hatte sein Shirt abgelegt und machte Liegestütze. Die Rücken- und Schultermuskulatur arbeitete unter der Anstrengung, kleine Schweißperlen rollten über seine Haut. Das Tattoo auf dem rechten Schulterblatt, das bis auf den Oberarm hinab reichte, bewegte sich im Takt der Muskelanspannung.

»Seht ihr«, sagte er, »ich bin total fit. Warum sieht Leonardo das nicht ein?«

»Himmel«, kam es von Kevin. Er war ebenfalls trainiert, wenn auch nicht ganz so stark wie sein Bruder. Sein Gesicht wirkte schmal, der Körper schlank. Das braune Haar war mittellang, an der Seite kurz geschnitten. »Wenn du Leonardo nicht endlich in Ruhe lässt, verbannt er dich in die Zentrale am Nordpol.«

»Es gibt kein Haus am Nordpol«, warf der Dritte im Bunde ein. Max war Kevins Freund, was auch erklärte, weshalb er ständig bei ihnen im Turmzimmer abhing, obwohl er nicht mehr zum Team gehörte. Das leicht verstrubbelte, dunkle Haar verlieh ihm ein unschuldiges Aussehen, was so mancher Feind schon unterschätzt hatte. In diesem Augenblick machte er erneut eine seiner geliebten Kaugummiblasen, worauf Kevin sie kurzerhand plattdrückte.

Clara musste kichern, als das Kaugummi nun überall in Max’ Gesicht klebte. »Idiot.« Er gab seinem Freund einen Rippenstoß.

»Was meinst du damit, dass es keine Zentrale am Nordpol gibt?«, fragte sie.

»Das mit dem Haus dort ist nur ein Mythos. Wenn Lichtkämpfer zu frech werden, kriegen sie das erzählt«, erklärte Max.

»Ach so.« Clara biss herzhaft in ihr Sandwich und spülte mit Kaffee nach.

»Du siehst müde aus.« Chris kam in die Höhe, schnappte sich sein Shirt und schlüpfte wieder hinein. »Ich dagegen bin topfit.«

»Die Recherche«, log Clara schnell. »Frustrierend.«

Sofort sank der Fröhlichkeitsindex im Raum unter null.

»Wem sagst du das«, kam es von Max. »Die alten Fallakten von Mark sind weiterhin unter Verschluss. Ich konnte nicht mal Referenzen von Jens Protokollen herstellen. Es tut mir leid, aber mehr als die Notizen wirst du nicht bekommen.«

»Was ist mit den Mentigloben?«

Die winzigen Erinnerungsspeicher, die äußerlich wie einfache Glaskugeln aussahen, wurden nach wichtigen Einsätzen genutzt, um die Erinnerung zu konservieren. Zugriff darauf war jedoch nur mit Genehmigung des Rates gestattet, handelte es sich doch um die privaten Gedanken und Erlebnisse von Lichtkämpfern, die darin gespeichert wurden.

»Keine Chance«, seufzte Max. »Der Rat hat alles weggesperrt.«

Clara fuhr sich frustriert durch die Haare. »Der Foliant ist auch eine Sackgasse. Jen konnte ihn nicht lesbar machen, die Prophezeiung kam ebenfalls nicht mehr zum Vorschein.«

Chris setzte sich auf die Tischkante. Unschuldig ließ er seinen Blick über Claras Sandwich gleiten. Blitzschnell schnappte er danach. »Du isst das nicht mehr, oder?« Herzhaft biss er hinein. »Bin krank … brauche die Mineralstoffe und so.«

Sie schlug ihm auf den Hinterkopf, beließ es aber dabei. Irgendwie konnte man ihm nie böse sein, dem großen Kindskopf. Kein Wunder, dass er so gut mit Alex auskam. Sie waren vom gleichen Schlag.

»Tja, damit bleibt nicht mehr viel«, konstatierte sie. »Nur noch …«

»Die Schattenfrau.« Kevin ging zum Tisch, der vollgestopft war mit Bildbänden aus verschiedenen Epochen. »Da ist es gerade umgekehrt. Sie ist überall.«

»Was?« Clara trat näher.

»Wir haben uns überlegt, dass sie derzeit ja mit Saint Germain und dem dunklen Rat zusammenarbeitet. Warum also sollte sie das nicht schon früher getan haben?«, überlegte Max.

»Also haben wir die Katastrophen herausgesucht, in die er unseres Wissens nach verwickelt war«, spann Kevin den Faden weiter. »Schau.«

»Die Titanic-Katastrophe«, flüsterte Clara. Auf dem Bild war eine Frau in schwarzem Kleid zu erkennen, die einen Schleier und Handschuhe trug. Nur wenn man genau hinsah, erkannte man den dunklen Nebel in den Ärmeln.

»Und hier«, Kevin schob weitere Schwarz-Weiß-Bilder zu ihr herüber.

»Die Hindenburg-Katastrophe«, stieß Clara heiser hervor. Das Bild zeigte erneut eine Frau in einem modischen Kleid mit Schleier, die am Rand des Feldes stand, umweht von Feuer und Rauch.

Und so ging es weiter.

Kevin präsentierte Bilder zum Erdbeben in San Francisco, zum Großbrand von London und weiteren Katastrophen der Weltgeschichte.

»Diese Frau ist ja schlimmer als Saint Germain und die anderen Mitglieder des dunklen Rates zusammen.«

Chris nickte. »Ziemlich. Deshalb wird sie ja auch seit über einem Jahrhundert gejagt. Aber sie scheint immer einen Schritt voraus zu sein. Wenn es einem Ordnungsmagier je gelingen sollte, sie zu schnappen und in den Immortalis-Kerker zu werfen, wird er einen Orden von der Größe des Castillos bekommen.«

»Moment.« Clara zog ein Bild hervor. »Das Erdbeben. Entstand das nicht durch den Einsatz dieses Artefaktes, das Leonardo in den Katakomben eingesetzt hat?«

»Das hat zumindest Johanna gesagt, und er hat es bestätigt«, sagte Max, der mit ihr Zeuge der Tat gewesen war.

»Du glaubst, dass sie das Erdbebenartefakt manipuliert hat?«, fragte Chris.

»Das kann nicht sein«, warf Max ein. »Ich habe mitbekommen, wie Leonardo mit einem der Ingenieursmagier gesprochen hat. Die Manipulation erfolgte erst hier, in den Katakomben.«

Clara kam ein furchtbarer Verdacht. »Was ist, wenn die Schattenfrau zum Rat gehört?«

Kevin winkte ab. »Ich glaube kaum, dass der Graf von Saint …«

»Nein«, unterbrach sie ihn. »Zu unserem Rat. Überlegt mal, das Nebelfeld verbirgt sie komplett. Und es wäre eine Erklärung, wie sie das Artefakt hier manipulieren und auch damals, als der Wall entstand, anwesend gewesen sein konnte.«

»Du glaubst doch nicht, dass Johanna oder Tomoe oder C…«, begann Kevin.

Erneut unterbrach Clara. »Es könnte jeder sein. Vielleicht ist es ein Mann, der sich als Frau ausgibt.«

»Das wäre mal was«, murmelte Max. »Aber ernsthaft, ist das nicht ein bisschen weit hergeholt? Außerdem war die Schattenfrau schon eine Ewigkeit lang aktiv. Ein paar der Unsterblichen scheiden also aus, die kamen erst später dazu. Einstein zum Beispiel.«

Clara ballte die Fäuste. »Sie ist für Marks Tod verantwortlich. Ich will verdammt noch mal wissen, wer sie ist und weshalb sie uns immer einen Schritt voraus ist.«

Mit einem Knall flog die bisher nur angelehnte Tür zum Turmzimmer zu.

Alle fuhren herum.

»Mein Riechzinken nimmt das Aroma von Paranoia auf«, erklang eine Stimme. Die Freundin trug ihr Haar noch immer neongrün und hochgestellt, ihre grünen Augen leuchteten, als sie einen Blick in die Runde warf. Freche Sommersprossen bedeckten ihre bleiche Haut, ein Piercing glänzte an der Unterlippe. Auf dem rechten Handgelenk war ein Krallen-Tattoo zu sehen. Die Hände steckten in ledernen, fingerlosen Handschuhen. »Überraschung. Na, habt ihr mich vermisst?«

»Chloe!«

Im nächsten Augenblick wurde die Freundin in eine Gruppenumarmung gezerrt.

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik

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