Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 41
12. Aus zwei wird eins
ОглавлениеJen kam in die Höhe. Schweiß bedeckte ihre Stirn, ihre Laune war auf dem Tiefpunkt angekommen. Sie wollte diese Sache nur noch erledigt wissen.
Überall auf der Statue leuchteten Glyphen, Symbole und fein ausgearbeitete Verbindungen. Wer auch immer Nostradamus in den Steinkokon eingesperrt hatte, er verstand etwas von seinem Fach.
Sie führte den vorbereiteten Zauber aus.
Der Stein zerbröselte.
»Ah, endlich.« Michel de Nostredame kratzte sich an den Armen, den Beinen, dem Rücken. »Dieses Weib! Wart ihr schon mal für Stunden zur Bewegungslosigkeit verdammt? Es wird ja behauptet, das leiste der Meditation Vorschub. Ha! Von wegen. Du warst schon einmal hier.« Er beäugte Jen von oben bis unten.
»Heute bin ich nur Babysitter.«
»Pfff«, kommentierte Alex.
»Geistreich, Kent.«
»Ich gebe dir gleich geistreich, Danvers.«
»Du willst wohl zuschlagen.« Jen ballte die Fäuste. »Versuch es doch.«
»Ruhe!«, rief Nostradamus.
Sie verstummten.
»Wart ihr beide im Erinnerungsraum?«
»W…«, begann Alex.
»Ruhe! Nicken oder Kopfschütteln reicht.«
Sie nickten.
»Gemeinsam?«
Wieder ein Nicken.
»Das hat sie sich ja fein ausgedacht. Mitkommen!«
Nostradamus setzte sich so schnell in Bewegung, dass sie ihm kaum folgen konnten. Er eilte durch die Gänge, als müsse er einen Rekord aufstellen. Glücklicherweise nahm er einen anderen Weg als den, den sie gekommen waren. Jen konnte gut darauf verzichten, diese dämliche Kammer ein drittes Mal aufzusuchen.
Einige hundert Gänge und Treppen später standen sie in einem Raum von der Größe eines Fußballfeldes. Regal reihte sich an Regal, doch in keinem stand ein Buch. Stattdessen lagen dort Holzschatullen.
»Essenzstäbe«, flüsterte Alex.
»Exakt«, bestätigte Nostradamus. »Wir müssen uns etwas sputen, damit ihr sie noch erwischt.«
»Wen?«, wagte Jen zu fragen.
»Die Schattenfrau.«
»Sie war es also. Moment, sie ist noch hier?«
Nostradamus nickte eifrig. »Aber ja. Sie will etwas ganz Bestimmtes haben, das sich in meinem Besitz befindet.« Er lachte vergnügt, wobei seine Augen lausbubenhaft funkelten. »Es ist natürlich gesichert. Dazu gleich mehr. Zuerst benötigst du, Neuerweckter, deinen Essenzstab.«
»Alexander Kent«, stellte Alex sich vor.
»Sage ich doch, Neuerweckter«, sprach Nostradamus gedankenverloren. »Mal sehen. Jeder Stab ist einzigartig, musst du wissen. Dabei geht es nicht nur um die Art von Holz, die bei der Schaffung verwendet wurden. Auch die Zeit, die Reifung und die eingewobene Sigilgrundessenz sind ausschlaggebend.«
»Aha.«
»Schlagfertig«, kommentierte Jen.
»Falls du mal testen willst …«
»Ruhe!«
Beide schwiegen.
»Wo war ich? Ach ja, der Stab und das Sigil tasten einander ab, suchen einander, bis die perfekte Kombination gefunden ist. Diese Verbindung ist etwas sehr Kostbares, wie du in der Zukunft noch feststellen wirst. Erst wenn beide ihren Teil des Bandes geknüpft und die Verbindung aktzeptiert haben, entsteht die Einheit. Gut, gut. Tritt in die Mitte …«
»… Alex.«
»… Neuerweckter.«
Grummelnd trat er nach vorne.
Innerlich grinste Jen, konnte sich der Erhabenheit des Moments aber gleichzeitig nicht entziehen. An diesem Ort wurde eine Verbindung geschaffen, die einzigartig war. Dabei hatten nur wenige Magier das Privileg, den Augenblick der Verschmelzung so bewusst zu erleben. Die meisten erhielten nun mal den ererbten Stab, da jener bereits zu dem Sigil passte.
Nostradamus nutzte seinen Essenzstab, um ein Symbol in die Luft zu malen. Eine Holzschatulle schwebte von ihrem Platz herbei, landete auf einem kleinen Tischchen neben Alex.
»Bitte«, bedeutete der Stabmacher.
Mit zittrigen Fingern öffnete er die Schatulle und nahm den Stab heraus. Er bestand aus einem dunklen Holz, in das Riefen geschnitten waren. Wie alle anderen auch, war er unterarmlang. Symbole verzierten den abgerundeten Griff. »Okay.«
Nostradamus seufzte. »Benutze ihn. Führe deinen Zauber aus. Egal welchen.«
Er schwang den Essenzstab.
Im nächsten Augenblick krachten fünf der Regale einfach in ihre Einzelteile zusammen.
»Oh.« Nostradamus kratzte sich am Kopf. »Das ist nicht gut.«
Alex warf den Stab wieder zurück in das Kästchen, als wäre dieser giftig. »Sorry.«
»Ach, das ist noch gar nichts«, beruhigte ihn der Unsterbliche. »Einmal hat jemand den halben Raum zum Einsturz gebracht.«
Jens Grinsen verschwand schlagartig. »Dafür habe ich mich entschuldigt.«
»Das war auch kein Vorwurf, meine Liebe«, winkte Nostradamus vergnügt ab. Eine weitere Schachtel fand ihren Weg zu Alex. »Bitte.«
Zehn Zauber später gab es ein verbranntes Regal, einen geschmolzenen Teppich, eine Horde Stechmücken, die Jen hinterhergejagt war, und eine versengte Kutte für den Unsterblichen. Ihm war anzusehen, dass selbst er langsam die Geduld verlor.
»Wirklich, du bist ein harter Brocken. Angefüllt mit aggressiven Emotionen, doch stets darauf bedacht, das Richtige zu tun. Da ist eine Macht in dir, die ihresgleichen sucht.« Verblüfft schaute Nostradamus zwischen Alex und Jen hin und her. »Möglicherweise … nun, wir werden sehen.«
Wieder flog eine Schachtel herbei.
»Bitte.«
Vorsichtig griff Alex nach dem Stab. Sein Blick blieb an dem Holz haften, während er die Spitze gen Himmel richtete. Er schwenkte ihn, malte eines der komplexesten Symbole, die Jen je gesehen hatte, und murmelte Machtworte dazu. Ein gleißendes Licht entstand.
Jen riss die Augen auf. »Ein Avakat-Stern.« Der Zauber gehörte zu den anspruchsvollsten überhaupt. Er konnte in gefährlichen Situationen verlorene Essenz von einem zum anderen Magier übertragen. Ein einziger Fehler allerdings zerstörte die beteiligten Sigile vollständig und tötete damit beide Magier.
»Ha! Wer hätte das gedacht«, sagte Nostradamus. »Du hast deinen Stab gefunden.«
Alex lächelte. Er griff nach dem Etui, eher eine Schlaufe, und befestigte es am Gürtel. Sanft schob er den unterarmlangen Essenzstab hinein. Der Stern leuchtete noch einmal auf, bevor er wieder verwehte.
»Faszinierend«, kam es von dem Unsterblichen. »Es kommt nur alle paar Jahrhunderte vor, dass zwei Lichtkämpfer Stäbe der gleichen Grundessenz bekommen.«
»Bitte?«, fragte Jen.
Nostradamus machte sich daran, die Schatullen wieder zurück in die Regale fliegen zu lassen. »Es geschieht nur selten – und ich meine: unglaublich selten –, dass zwei Stäbe gemeinsam geschmiedet werden. Aus der gleichen magischen Essenz. Dies verlangt dem Essenzstabmacher unfassbar viel Kraft ab. Gelingt es aber, entsteht ein untrennbares Band. Nur verwandte Seelen können diese Stäbe führen. In diesem Fall sind es nicht irgendwelche Stäbe. Sie gehören zu den ältesten ihrer Art und wurden noch vom ersten Stabmacher erschaffen.«
»Ha«, sagte Alex natürlich prompt. »Meiner ist besser als deiner.«
»Mitnichten«, widersprach Nostradamus. »Ihr beiden tragt jeweils das Gegenstück des anderen.«
Jen starrte den alten Mann fassungslos an. »Wir beide«, sie deutete auf Alex und dann sich selbst, »sollen verwandte Seelen sein? Das ist lächerlich!«
»Nun, das werden wir gleich wissen. Stellt euch gegenüber auf.«
Murrend trottete Jen neben den Tisch.
»Stäbe in die Hand!«, befahl der Unsterbliche.
»Wird das jetzt ein Duell?«, fragte Alex hoffnungsvoll.
»Stäbe in die Hand!«
Sie taten es.
»Ihr beiden glaubt, den jeweils anderen zu kennen, weil ihr ein Erlebnis der dunkelsten Art aus seinem Leben gesehen habt«, erklärte Nostradamus. »Doch die Wahrheit ist facettenreicher, als ihr denkt. Denn, seid versichert, ihr beiden wurdet von den verwandten Stäben gewählt, weil sie stets wussten, dass es euch gibt und ihr eines Tages aufeinandertreffen würdet.«
»Das ist hoffentlich ein Scherz«, stöhnte Jen.
Nostradamus lächelte. Dann sprach er nur ein Wort: »Unum.«
Als habe jemand zwei Magnete in den Stabspitzen aktiviert, sausten die Essenzstäbe aufeinander zu. Die Spitzen berührten sich. Ein gleißender Blitz schoss vom Berührungspunkt ausgehend auf Jen und Alex zu.
Die Welt verging in einem Wirbel aus Farben, Formen und Erinnerungen.