Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 39
10. Memorum excitare I
ОглавлениеIn einem Moment standen sie noch in Leonardos Büro, im nächsten bereits im Ratssaal. Die Umgebung war vollständig monochrom. Personen, Gegenstände, alles war in Schwarz-Weiß getaucht. Immerhin handelte es sich um eine Ratsversammlung, das ließ hoffen.
Doch als Clara die Anwesenden musterte, wich die Euphorie der Ernüchterung. Die Frauen trugen einfarbige Einteiler. Der obere Teil lag hauteng an, ein einfacher Schnitt, und ging in einen kurzen Rock über. In der Mitte saß ein breiter, schmuckhafter Ledergürtel.
Die Männer steckten in weiten Schlaghosen, dazu eng anliegende Shirts, die im Hosenbund steckten, und eine Jacke darüber. Ihre Haare waren schulterlang. Die der Frauen dauergewellt.
»Ach, na ja, wenigstens ist es kultig«, murmelte Chloe, die gegen jede Art von Konformität anging.
Beinahe hätte Clara losgekichert. Gleichzeitig war es aber gespenstisch. Kleidung und Haarschnitt mochten sich von dem der heutigen Zeit unterscheiden, doch die Gesichtszüge waren identisch. Unsterblich müsste Frau sein.
Farbtupfer entstanden aus dem Nichts, die Erinnerung lief ab.
Clara sprang zurück, als ein wütender Einstein rief: »So geht das nicht! Du kannst nicht einfach lospreschen.«
Natürlich konnte keiner der Anwesenden sie sehen oder mit ihnen interagieren. Es war nur eine Aufzeichnung.
»Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen, hm?«, ereiferte sich Leonardo. »Er hat junge Männer und Frauen entführt und mit Wandelzauber an ihnen herumexperimentiert. Vampire, dass ich nicht lache. Dieser Idiot ist wahnsinnig.«
»Eines kann man dem Grafen von Saint Germain sicher nicht vorwerfen – wahnsinnig zu sein«, sprach eine grazile Frau mit japanischen Gesichtszügen.
Clara konnte nicht anders, als beeindruckt zu sein. Tomoe Gozen war die erste Samurai-Kriegerin der bekannten Geschichte gewesen. Sie unterrichtete im Castillo ab und an Nahkampf, doch in der Regel kümmerte sie sich um die Vermehrung des Geldes der Lichtkämpfer. Ihre Zeit als aktive Kämpferin lag lange zurück.
»Nein, wohl nicht«, sagte Leonardo. »Aber ich konnte nicht warten. Leben hingen davon ab.«
»Du bist ein Hitzkopf«, widersprach Johanna von Orléans. »Wenn du uns kontaktiert hättest, hätten wir Saint Germain womöglich schnappen können. Stattdessen ist er entkommen und hat die Unterlagen seiner Experimente mitgenommen. Wer weiß, wie weit er schon fortgeschritten war?! Falls wir in den nächsten Monaten von einer Horde gewandelter Nimags angegriffen werden, ist das deine Schuld.«
»Dank mir wurden Wandlungen unterbrochen«, erwiderte Leonardo konsterniert. »Das hat fünf Nimags das Leben gerettet. Hätte ich ihren Tod einfach zulassen sollen?«
Stille breitete sich aus.
»Natürlich nicht«, sagte Einstein schließlich. »Aber wenn wir den Einsatz etwas besser vorbereitet hätten, wäre Saint Germain jetzt in Gewahrsam.«
»Ich schwöre, wenn dieser Mistkerl in einer Zelle des Immortalis-Kerkers sitzt, werde ich höchstpersönlich den Schlüssel wegwerfen«, kam es von Tomoe. »Und falls der dortige Aufenthalt auch nur ansatzweise einer Novum-Absolutum-Zelle gleicht, ist es keine angenehme Erfahrung, glaubt mir.«
Clara wusste, dass es als absolutes Tabu galt, einen Unsterblichen zu töten. Zudem war es völlig sinnlos, wurde doch sofort ein neues Ratsmitglied ernannt. Niemand wusste, wie das ablief, aber plötzlich gab es jemand anderen, der sich um die Menschheitsgeschichte verdient gemacht hatte und der einfach da war.
Daher waren sowohl die Lichtkämpfer als auch die Schattenkrieger dazu übergegangen, die unsterblichen Feinde gefangen zu nehmen.
Hierfür gab es den Immortalis-Kerker. Dort wurden die Unsterblichen des dunklen Rates inhaftiert, falls man ihrer habhaft wurde. Da Lichtkämpfer grundsätzlich niemanden töteten, wenn es sich vermeiden ließ, wanderten auch die Schattenkrieger dorthin. So wurde zudem verhindert, dass Erbe der Macht entstanden. Die Zeit im Inneren war vollständig eingefroren, die betreffende Person konnte jahrelang eingesperrt bleiben, nahm subjektiv aber nur Sekunden wahr.
Umgekehrt besaßen die Schattenkrieger den Novum-Absolutum-Kerker. Hier landeten gefangene Unsterbliche der Lichtkämpfer. Die dortigen Zellen waren bisher glücklicherweise leer geblieben, sah man von einem bedauerlichen Zwischenfall ab. Tomoe Gozen war vor vielen Jahren in die Hände des dunklen Rates gefallen, der sie eingekerkert hatte. Trotz intensiver Suche war es den Lichtkämpfern erst drei Jahre später gelungen, sie zu befreien. Die Zeit schien dort nicht stillzustehen. Stattdessen wurde der oder die Gefangene vom absoluten Entzug aller äußeren Eindrücke gepeinigt. Er oder sie schwebte im Nichts, war sich der verstreichenden Zeit aber bewusst. Drei Jahre Hölle.
Die Erfahrung hatte Tomoe verändert. War sie zuvor eine der aktivsten Unsterblichen gewesen, die durch die Welt zog und überall Schattenkrieger bekämpfte, hatte sie sich seitdem zurückgezogen. Sie gründete die Holding der Lichtkämpfer, über die Aktienanteile, Immobilien und andere Werte gebündelt und vermehrt wurden. Das machte sie ausgezeichnet. Das Vermögen des Rates wuchs seither ständig.
»Was, glaubt ihr, wollte er mit der Wandlung von Menschen in Schattenkreaturen erreichen?«, überlegte Einstein.
»Gute Frage, Albert«, kam es von Johanna. »Langsam scheint er fieberhaft nach einer Möglichkeit zum Angriff zu suchen. Die letzten Attacken auf dem Kristallschirm des Castillos waren ja wohl eher verzweifelter Natur.«
Tomoe ging gelassenen Schrittes auf und ab. »Möglicherweise ist dieser Aktionismus gar nicht so sehr gegen uns gerichtet. Meine Kontakte munkeln, dass Dschingis Khan den Versuch unternehmen will, die Macht im dunklen Rat an sich zu reißen.«
»Ha!«, rief Leonardo triumphierend. »Das wäre doch mal was. Würde ihm recht geschehen.«
»Ich glaube kaum, dass das gut für uns ist«, gab Einstein zu bedenken. »Saint Germain ist ein Taktiker, ein Logiker. Dschingis Khan würde sofort lospreschen. Er ist brutal und eiskalt, bedauerlicherweise aber auch hochintelligent. Er hat nicht umsonst ein Weltreich erschaffen. Der Berechenbarere von beiden ist der Graf.«
»Wenn er aus Verzweiflung diese Experimente durchführt, kann man ihn wohl kaum als berechenbar bezeichnen«, konterte Leonardo. »Außerdem kann es uns egal sein, wer da an der Spitze steht. Die großen Offensiven müssen doch sowieso von allen abgesegnet werden, oder nicht?«
»Das schon«, erklärte Tomoe. »Nur hält sich meist niemand daran. Wenn einer dieser Idioten einen Plan fasst, führt er ihn auch aus. Und keiner will ihn oder sie am Ende zur Rechenschaft ziehen, weil sie genau wissen, dass sie es irgendwann selbst tun werden.«
»Hm«, kam es von Einstein. »Ein wenig wie bei uns.«
»Also, Albert«, sagte Johanna. »Wir würden nie …«
»Keinesfalls«, warf Leonardo ein. »Nicht ohne Rücksprache.«
»So was käme hier nie vor«, vollendete Tomoe.
»Ha!«, rief Clara. »Das sagt der Richtige.« Sie deutete auf Leonardo. »Der macht doch immer, was er will.«
»Er ist schon knuffig.« Chloe trat vor den Unsterblichen und begutachtete ihn von oben bis unten. »Hat was.«
Sie lauschten dem Schlagabtausch noch eine Weile, doch schließlich brachen sie den Erinnerungsaufruf ab. Es war offensichtlich, dass sie hier nichts mehr über den angeblichen Verräter erfahren würden. Die Erinnerung zerfaserte und entließ sie zurück in die Wirklichkeit.
Dieses Mal wählte Chloe einen der Mentigloben aus. Wieder tauchten sie ein in eine längst vergangene Zeit.