Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 32
3. Im Refugium des Stabmachers
ОглавлениеDas Portal spuckte Alex aus. Und genau so fühlte er sich auch. Doch verblüffenderweise konnte er das Übelkeitsgefühl recht gut verkraften. Der Boden blieb sauber.
»Na also, es wird langsam«, stellte Jen fest. »Noch ein, zwei Durchgänge und wir haben dich aus der Windelphase raus.«
Alex verlegte sich aufs Schweigen.
Sie waren in einem gemütlichen kleinen Raum herausgekommen. Ein Lesesessel stand in der Ecke, ein Regal an der Wand.
»Er wird nicht oft besucht, aber wenn, dann wird jeder Gast freundlich aufgenommen«, erklärte sie.
Ein runder Tisch stand neben dem Sessel. Auf der Platte manifestierte sich eine Kanne, dazu zwei Tassen, die sich mit schwarzer Flüssigkeit füllten.
»Das ist ja nett.«
»Lass stehen, wir bringen es besser direkt hinter uns«, erklärte Jen und steuerte den Ausgang an.
»Aber … Kaffee.« Er warf der Tasse, von der dampfende Schwaden aufstiegen, einen sehnsüchtigen Blick zu. »Vielleicht später.«
Sie gingen durch die sauberen Gänge eines lichtdurchfluteten Anwesens. Die Sonne schien herein, warme Luft war allgegenwärtig. Vor den Fenstern ragten grüne Sträucher in die Höhe. »Also, in Anbetracht der Tatsache, dass in Europa Winter ist, können wir nicht mehr dort sein.«
»Gut geraten, Sherlock. Ich tippe auf die Tropen. Aber so genau lässt sich das nicht sagen. Ein Teil von dem, was du siehst oder spürst, könnte eine Illusion sein. Illusionierungszauber werden von Magiern gerne angewendet, wenn es darum geht, das eigene Heim etwas aufzumotzen. Man gibt so gerne an.«
Unweigerlich zog sich Alex’ Magen zusammen. Er musste an die kleine Dreizimmerwohnung denken, in der er mit seiner Mum und seinem sechzehnjährigen Bruder Alfie lebte. Wenn er nur dort ein wenig Magie einsetzen könnte. Aber das war verboten, wie er mittlerweile wusste. Wenigstens bekam er als Lichtkämpfer ein monatliches Gehalt, das sogar recht üppig ausfiel. Damit konnte er die beiden unterstützen.
Sie betraten die Bibliothek.
Während Alex das Chaos nur langsam realisierte, in das sie unmittelbar hineingetreten waren, flog Jens Essenzstab förmlich in ihre Hand. Alarmiert schaute sie sich um. »Kannst du schon eine Schutzsphäre weben?«
»Eine normale, ja.« Er wusste um das Machtsymbol für einen Schutz der ersten Stufe. Für jenen der zweiten musste man jedoch Machtworte mit dem Symbol verknüpfen, was ihm bisher nicht gelungen war.
»Verdammt, verdammt, verdammt.«
Alex ging kurzerhand zu einem der am Boden liegenden Stühle, brach das Stuhlbein ab und hielt es wie einen Baseballschläger in der Hand. »Was?«, fragte er auf Jens ungläubigen Blick hin.
»Halte lieber deine Finger oben, um einen Zauber zu wirken.«
»Nenn es von mir aus Placebo.«
Vorsichtig stiegen sie über aus dem Regal gefallene Bücher, Aschereste und zerfledderte Folianten. An einigen Stellen der Wand hatten Kraftschläge gewütet und Teile des Putzes weggesprengt, Rußspuren bildeten Schlieren.
»Wer kann so mächtig sein und hier eindringen? Und ihn dann auch noch besiegen?«, flüsterte Jen.
»Ist er denn so stark?« Sichernd sah Alex sich um.
»Ich bitte dich … Ach so, du solltest vielleicht wissen, dass der Stabmacher auch ein Unsterblicher ist.«
»Ich dachte, die sitzen nur im Rat.« Er lugte hinter einen umgestürzten Beistelltisch.
»Normalerweise schon. Aber es gibt Ausnahmen. Sehr wichtige Positionen, solche, bei denen ein Verlust des Wissens gefährlich wäre, werden auch von Unsterblichen besetzt. Die Erschaffung eines Essenzstabes muss mühevoll erlernt werden. Das dauert Jahrzehnte.«
»Verstehe«, sagte Alex. »Da ist ein Unsterblicher praktisch. Einmal gelernt, geht das Wissen niemals verloren. Wer ist es?«
»Michel de Nostredame. Vermutlich kennst du ihn als …«
»Nostradamus«, keuchte er. »Echt jetzt? Kann er wirklich in die Zukunft sehen?«
Jen sprang nach vorne, rollte sich ab und richtete ihren Essenzstab in den Schatten zwischen zwei Regalen. Doch da war nichts. »Er konnte es Zeit seines Lebens und später auch als Unsterblicher. Bis der Wall errichtet wurde.«
»Oh. Und weil dieser seine Existenz aus den Sigilen aller speist …«
»Verloren alle Seher ihre Gabe, ja. Seitdem bereist er die Welt und trägt Schriften zusammen, die er einst schrieb, um die Zukunft vorauszusagen. Außerdem hält er Ausschau nach den Hinterlassenschaften anderer Seher. Ich wollte ihn heute auch auf Joshuas Erbe und unseren Folianten ansprechen.«
»Scheinbar kam dir jemand zuvor.«
Sie hatten die Untersuchung der Bibliothek abgeschlossen. »Niemand hier.«
»Vielleicht ist nur ein Experiment schiefgelaufen?«, überlegte Alex.
»Dieser Raum ist Nostradamus heilig. Jede Schrift enthält Prophezeiungen, Hinweise auf die Zukunft. Manche sind totaler Humbug, aber andere kostbarer als ein Essenzstab. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie auszuwerten.«
»Verstehe.«
Jen zeichnete ein Symbol in die Luft. Ihr Finger hinterließ eine magentafarbene Spur. Alex versuchte, das Machtsymbol zu analysieren, doch immer wenn er glaubte, die Funktion zu begreifen, verschwand das Wissen wieder. Als es vollendet war, entstand ein Ball aus Licht, der explodierte und einen Schauer durch den gesamten Raum jagte.
Aufmerksam sah Alex sich um.
Tatsächlich loderte neben dem wuchtigen Schreibtisch eine Energielohe empor, die langsam verwehte.
Jen ging daneben in die Knie. »Blut.«
»Verdammt.«
»Das ist gut. Na ja«, korrigierte sie sich schnell, »nicht wirklich. Aber wenigstens können wir nun einen Aufspürzauber anwenden. Er wird uns zu Nostradamus führen.«
»Kannst du daraus auch ablesen, ob er noch am Leben ist?«
Jen schluckte. »Nein. Gib mir etwas Ruhe, das wird jetzt kompliziert.«
Alex erhob sich. Während sie den Zauber wob, schlenderte er durch die Bibliothek. An der Wand hingen Gemälde, die Landschaften der Provence abbildeten. Andere zeigten Sternenbilder. Neben den von Hand gemalten klassischen Bildern gab es auch solche, die wirkten, als seien die Rahmen Fenster, die eine Aussicht auf den abgebildeten Ort zeigten. Er trat an eines jener eindeutig magisch erschaffenen Kunstwerke heran. Es zeigte eine idyllische Lichtung.
Ein Reh rannte im Dickicht vorbei, Schmetterlinge saßen auf einem gewaltigen Blatt, das sich zu beiden Seiten gen Erdboden bog. Gegenüber dem Bild öffneten sich Berghänge und boten einen atemberaubenden Anblick. Nebel hing über den Wipfeln, die Sonne brach sich in Wassertropfen. Es musste geregnet haben.
Er streckte die Hand aus.
Seine Fingerspitzen berührten ein Hindernis, das zu wabern begann. Als durchstieße er eine stehende Wasserfläche mit dem Finger, warf es Wellen. Auf der anderen Seite war Luft. Und Wärme.
Das Bild ist ein kleines Portal. Aber wie macht er das?
»Beeindruckend, oder?«, fragte Jen neben ihm.
Aufschreiend zuckte Alex zurück.
»Schön, dass du so gut Wache hältst«, kommentierte sie. »Wenn ich dich in Staub hätte verwandeln wollen, wäre das ziemlich einfach gewesen.« Sie seufzte. »Das hier muss total aufregend für dich sein. Mir wäre es auch lieber, du könntest dir alles in Ruhe ansehen. Aber, ich weiß nicht, ob dir das klar ist: Wir befinden uns in Lebensgefahr.«
»Tut mir leid.«
Sie nickte. »Komm.«
Von dem Blutfleck auf dem Boden führte eine durchscheinende, sphärisch anmutende Spur durch die Luft davon.
»Sie weist uns den Weg zu Nostradamus«, erklärte Jen. »Hoffentlich schnell genug.«
Alex warf einen letzten Blick auf den zerstörten Raum.
Dann folgten sie beide dem Leuchten.