Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 43
14. Unum (Jen)
ОглавлениеJen schluckte. Sah man es ihr an? Gemeinsam mit Trish und Marjella schritt sie den Flur entlang. Das Haar trug sie frisch gestylt, die Schuluniform betonte ihre Figur, und sie hatte – verbotenerweise – einen Hauch Parfüm aufgelegt. Zwar hatten die anderen den obersten Knopf ihrer Bluse geöffnet, sie verzichtete jedoch darauf. Niemand sollte den gewaltigen blauen Fleck sehen, den ihr Dad gestern verpasst hatte.
Sie war noch spät wach gewesen, als der übliche Streit begann. Dieses Mal hatte Jen ihrer Mum beistehen wollen. Zuerst hatte sie nachgeschaut, ob ihre Schwester bereits schlief. Glücklicherweise tat sie das. Dann hatte sie sich selbst Mut zugesprochen. Fünfzehn Minuten später trat sie ihrem Vater entgegen.
Der Schlag war so fest gewesen, dass sie minutenlang kaum Luft
bekommen hatte. Am Ende funkelte ihre Mum sie wütend an, weil sie sich eingemischt hatte. Und ihr Dad? Der war aus dem Haus getürmt, in sein Cabrio gestiegen und davongefahren. Das hatte ihre Mum hysterisch werden lassen, sie befürchtete, dass er sich nun eine Geliebte nahm.
Am nächsten Tag war alles beim Alten.
Sie saßen gemeinsam am Frühstückstisch. Ihr Dad trug den üblichen Maßanzug, wurde kurz darauf vom Chauffeur in die Firma gebracht. Mum schickte sich dazu an, die Bediensteten für den heutigen Tag mit Arbeit zu versorgen, bevor sie an ihren Gemälden weiterarbeitete. Sie trug wie stets den verträumten Blick, als sei die Welt um sie herum das wahre Gemälde, das sie zwar miterschuf, an dem sie jedoch keinen echten Anteil nahm.
Jana und sie wurden in die Schule gebracht.
Ein ganz normaler Tag.
Auch der Abend würde wie immer ablaufen.
Gemeinsam mit Trish und Marjella steuerte Jen die Toilette an. Die anderen respektierten sie als tonangebendes Trio. Das fand sie traurig. Niemand erhob sich, um dagegen zu protestieren. Sie hatten alle Angst.
Ihr wisst doch gar nicht, was Angst ist, dachte sie.
Während sie sich schminkten, betrat die Neue den Raum, die Jen bereits am Morgen aufgefallen war.
»Was tust du denn hier?«, fragte sie bewusst hochnäsig.
»Ich muss auf Toilette.«
»Hast du vielleicht um Erlaubnis gebeten, bevor du hereingestürmt bist«, warf Trish ein.
»Nennen wir sie doch ab jetzt Trampel«, schlug Jen kichernd vor. Sie wollte das andere Mädchen provozieren, aber die Neue reagierte nur mit noch mehr Schüchternheit.
»Also, Trampel, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«, wollte Marjella wissen.
»Ich musste nur auf die Toilette.«
»Wie vulgär«, befand Jen.
»Ich gehe wieder. Tut mir leid«, sagte das schüchterne Mädchen.
Jen bedauerte es. Es war stets dasselbe. Macht und Stärke siegten. Niemand widersetzte sich, keiner stellte Fragen oder holte Hilfe. Sie hatte es auf die harte Tour lernen müssen. Ihr eigener Dad konnte tun, was immer er wollte.
Trish stellte sich vor die Tür, Marjella verhinderte, dass das Mädchen in eine der Toilettenkabinen fliehen konnte.
Es war jener Augenblick, in dem Jen zwei Dinge in absoluter Klarheit und aller Konsequenz begriff. Die schweigende Mehrheit ließ sich immer von einer starken Minderheit kontrollieren, wenn diese genug Angst schürte. Das konnte auch ein einzelner Mann sein. Und sie realisierte, dass Trish, Marjella und sie nicht besser waren als ihr eigener Dad.
Jen stylte sich in aller Ruhe zu Ende, obwohl es innerlich brodelte. Urplötzlich war es da, das Mitleid. Sie verließen den Raum. Mit jedem Schritt, den sie tat, reifte die Erkenntnis in ihr heran, dass sie von niemandem erwarten konnte, sich aufzulehnen, wenn sie es selbst nicht tat.
Was war schon ein blauer Fleck?
Ohne ein weiteres Wort ließ sie Trish und Marjella stehen, rannte zurück zur Toilette.
Dort nahm sie das Mädchen in den Arm.
Von diesem Augenblick an widersetzte sich Jen ihrem Vater, so oft sie nur konnte. Er behielt stets die Oberhand. Mit der Zeit begann sie, blaue Flecken als Auszeichnungen zu betrachten. Immerhin versuchte sie, Widerstand zu leisten, das war das Wichtigste.
Sie und Paula – so hieß die Neue – wurden beste Freundinnen. Trish und Marjella suchten sich eine andere, um ihr Trio Infernale zu ergänzen. Fortan war Jen ebenfalls eine Außenseiterin. Es störte sie nicht im Geringsten.
So ging ihr Leben weiter.
Bis zu jenem Tag, an dem sich alles änderte. Ein Sturm zog auf. Dunkle Wolken schoben sich über die Villa, Regen prasselte auf die Fenster, Blitze erhellten die Nacht.
Nie zuvor hatte er sich so sehr betrunken. Nicht nur Jens Mutter bekam Schläge ab, auch Jana. Doch dieses Mal ließ Jen es nicht zu, stellte sich ihm mit aller Kraft entgegen. Sogar den Schürhaken des Kamins setzte sie ein.
Er war trotzdem stärker.
Jen lag am Boden. Faustschläge und Tritte prasselten auf sie ein. Vermutlich hätte er sie an diesem Abend getötet. Vielleicht wäre das sogar besser gewesen. Möglicherweise hätte das ihre Mum zur Besinnung gebracht, wäre sie mit Jana geflohen oder hätte ihn angezeigt.
Stattdessen geschah das, was niemand so recht begriff. Ein leuchtender Ball durchbrach die Wand, drang in ihren Körper ein und verschmolz mit ihrem Innersten. Als sie in höchster Not ihre Pein hinausschrie, materialisierte ein länglicher Stab in ihrer Hand.
Wut und Hass brachen sich Bahn.
Mit ihrem ersten Gedanken als erweckte Magierin entfesselte Jen das absolute Chaos. In einer gewaltigen Explosion zerbarst ihr Essenzstab, brachen Regen, Blitz und Donner über sie alle herein. In einem abrupten emotionalen Ausbruch tötete die Explosion ihren Vater, ihre Mutter und Jana.
Einzig Jen blieb zurück. Sie lag zwischen den Trümmern der Villa, wo Kevin und Chloe sie schließlich fanden.
Das Castillo wurde ihre neue Heimat, das Team ihre neue Familie. Es dauerte eine Weile, bis Jen die Ereignisse überwunden hatte, doch sie würden immer ein Teil von ihr bleiben.
Sie handelte in diesem Geiste und beschützte Nimags; um jeden Preis. Die Schatten ihrer Vergangenheit hatten sie geformt, wie sie jeden formten.