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21. Nur eine unter vielen

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Jen ließ sich treiben.

Sie genoss das Gefühl, eingeschlossen von einer wogenden Masse aus Leibern durch die Straßen zu gehen. Es war Nacht in der City von New York.

Hätte jemand sie nach ihrem Hobby gefragt, die Antwort hätte ihn verblüfft. In Jens Zimmer im Castillo hing eine gewaltige Landkarte. Immer wenn sie sich einsam fühlte oder mit Problemen kämpfte, suchte sie über das Portalnetz eine Stadt auf. Dort wurde sie eins mit der Menschenmenge, ließ sich einfach treiben. Stundenlang glitt sie dahin, als eine von vielen. Eines Tages, das war ihr Ziel, wollte sie jede Stadt auf der Welt besucht haben.

Heute war es kein Neuland, das sie betrat. New York war eine altbekannte Freundin. Der Geruch, der von den kleinen Hotdog-Ständen ausging, das Parfüm der durchgestylten Partyjungs und -mädchen, das Hupen der omnipräsenten Taxis, all das war wie eine warme Umarmung, die ihr Geborgenheit spendete.

Natürlich war sie allein hierhergekommen.

Clara hatte sich unter einer scheinheiligen Entschuldigung zurückgezogen. Jen wusste längst, dass die Freundin eine Affäre mit Gryff, dem ersten Ordnungsmagier, am Laufen hatte. Doch die beiden wollten wohl das Feuer schüren, so lange es brannte, und verrieten es niemandem. Max und Kevin waren über ein Portal nach New Orleans gesprungen, um sich einen Jazz-Abend zu gönnen. Chris war vermutlich auch hier in New York oder London, vielleicht Berlin, möglicherweise Paris unterwegs. Er würde die Nacht keinesfalls alleine verbringen.

Jen wollte genau das.

So viel war geschehen, das ihr durch den Kopf geisterte.

Alexander Kent. Alex.

Er sah gut aus und wusste es. Ein kleiner Möchtegern-Macho, der unversehens an gewaltige Macht gekommen war. Sie würde auf ihn aufpassen müssen. Er wäre nicht der Erste, der Unfug anstellte. Vor seinen Freunden konnte er natürlich nicht angeben, die würden nur ein Fuchteln seiner Hände sehen. Dem Wall sei Dank. Trotzdem beunruhigte sie etwas. Die Jahre als Lichtkämpferin hatten Jen gelehrt, auf ihre Instinkte zu vertrauen. Was in den letzten Tagen geschehen war, wirkte … falsch. Anders gesagt: orchestriert. Ein unsichtbarer Puppenspieler stand im Hintergrund, wusste mehr als alle anderen und führte einen Plan aus.

Doch welchen?

Sie ließ ihren Blick über den Times Square schweifen. Leuchtreklame reihte sich an Leuchtreklame. Hier war alles bunt und hell, lebendig. Das Gegenteil von dem Ort, den sie einst ihr Zuhause genannt hatte.

Dort waren Stille, Einsamkeit und Tränen vorherrschend gewesen. Sie suchte die alte Villa und die Gräber höchstens ein-, zweimal im Jahr auf. Nun assoziierte sie mit den Steinen nicht nur das Ende ihrer Familie, nein, auch Mark würde immer damit verbunden bleiben.

Sie schüttelte den Kopf, vertrieb die trüben Gedanken. Dafür war keine Zeit. Zu viel geschah. Sowohl vor als auch hinter den Kulissen. Im Rat rumorte es. Es kam nur selten vor, dass alle Mitglieder herbeizitiert wurden. Gerade Einstein kam fast nie ins Castillo, meist verkroch er sich in seinem Labor.

Doch Jen hatte ihn gesehen, als er von den Katakomben heraufgestiegen war. Natürlich wusste sie von Clara und Max, dass der Einsatz des Erdbeben-Artefakts schiefgegangen war. Vermutlich hatte er es untersucht.

Sie blieb an einem Hotdog-Stand stehen, kaufte sich eine der ungesunden Kalorienbomben und biss herzhaft hinein. Während der Geschmack sich in ihrem Gaumen ausbreitete, ging sie weiter. Die Nacht war noch jung, die Straßen waren lang. Jen musste Ordnung in ihr Gedankenchaos bringen.

Vielleicht würde sie irgendwann, wenn ihre Gedanken zur Ruhe gekommen waren, in einer Disco haltmachen. Tanzen, sich bewegen, ein wenig vergessen. Sie vermisste Chloe. Deren Auftrag ging schon viel zu lang. Es wurde Zeit, dass die Freundin mit dem frechen Mundwerk zurückkehrte.

»Ich werde nachher einen für dich mittrinken.«

Um sie herum lachten Jugendliche, telefonierten, flirteten. Fast an jeder Hausecke machte jemand ein Selfie. Touristen vermengten sich mit Einheimischen in einer Atmosphäre der gemeinsamen Unbeschwertheit.

Jen sog diese Atmosphäre in sich auf.

So sollte es sein.

Sie warf ihre Haare zurück, lachte und ließ sich treiben. Das war Freiheit.

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik

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