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8. Wir werden keine Freunde

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Sie rannten den Gang entlang, sprangen um die Ecke und kauerten sich auf den Boden. Vorsichtig lugte Jen zurück. Doch die Schattenkreaturen konnten den Raum nicht verlassen. Ihr Geschrei drang bis in den Gang, aber keine von ihnen setzte zur Verfolgung an.

Die Panik ließ nach.

Und die Wut kehrte zurück.

»Was bist du eigentlich für ein Mensch?«, flüsterte sie.

»Komisch, das Gleiche wollte ich dich auch gerade fragen«, spie er förmlich aus.

Sie kamen gleichzeitig in die Höhe, standen sich Auge in Auge gegenüber.

»Ich habe keinen wehrlosen Jungen zusammengeschlagen und getreten«, schleuderte sie ihm kalt entgegen.

Alex’ Gesicht nahm die Farbe frischen Kreidestaubs an. »Das … ich …«

Jen winkte ab. »Lass mich raten. Du warst jung und hattest eine furchtbare Kindheit.«

»Du hast ja keine Ahnung, Miss Hochwohlgeboren. Bringst andere Mädchen dazu, sich vor Angst in die Hose zu machen.«

Ein Schlag in die Magengrube hätte sie nicht schlimmer treffen können. Für einen Augenblick drehte sich alles. Die Erinnerung schoss empor und hieb ihre Klauen in Jens Seele. »Du … das war …«

»Lass mich raten«, echote Alex, »du warst jung und hattest eine beschissene Kindheit.«

Darauf hätte sie so viele Antworten gehabt. Doch sie schwieg. Alexander Kent war ein brutaler Schläger. Er hatte verletzt und zerstört, dafür gab es keine Entschuldigung. Aber sie würde keinesfalls erneut die Kontrolle verlieren. »Wir werden keine Freunde mehr. Wenn das hier vorbei ist, werde ich Johanna bitten, dich in ein anderes Team zu versetzen.«

»Na, Halleluja!«, rief er aus. »Dann muss ich nicht mit einer widerlichen Mobberin zusammenarbeiten, die in mir eine unehrenhafte Inkarnation ihres verstorbenen Partners sieht und keine Ahnung vom echten Leben hat!«

»Ach, kein Faustschlag?«, provozierte sie. »Willst du dich nicht vielleicht etwas abreagieren, hm? Eine gebrochene Rippe ist doch mindestens drin.«

Alex biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Wangenknochen hervortraten. Einen Augenblick lang war sie überzeugt davon, dass er sie tatsächlich angreifen würde. Doch er atmete nur tief ein und wieder aus. »Du. Weißt. Gar. Nichts.«

»Dito!«, brüllte sie heraus. Boah, er schafft es immer wieder. Lass dich nicht provozieren, Danvers.

Sie verschränkte die Arme und wandte sich ab. »Finden wir den Stabmacher. Danach will ich dich nicht mehr sehen.«

»Das kann ich nur unterschreiben«, erwiderte er kalt.

Endlich sickerten ihre Emotionen dahin zurück, wo sie hingehörten. Unter eine Decke aus Selbstbeherrschung, tief verborgen in ihrem Inneren. »Also los.«

Die Spur verblasste langsam, war aber noch ausreichend sichtbar. Sie folgten ihr. Das Schweigen tat gut. Keiner von ihnen hatte dem anderen etwas zu sagen.

Jen hatte ja geahnt, dass der Raum Dinge aus ihrem Leben preisgeben würde, doch ausgerechnet dieses Ereignis? Wieso? Natürlich war es furchtbar gewesen, aber lediglich ein Ausschnitt. Da gab es weitaus Schlimmeres. Oder? Manchmal waren es die kleinen Schnitte, die man auf der Seele eines Menschen hinterließ – oft auch unbewusst –, die nie wieder heilten.

Das führte zu der Frage, was er wohl noch getan hatte. Gehörte das Gesehene zu den schlimmen Dingen? Natürlich kannte sie Gerüchte über die sozialen Brennpunkte von Großstädten. Mittlerweile wusste sie, dass Alex aus dem Stadtteil Brixton in London stammte, genauer: Angell Town. Ein gefährliches Pflaster. Warum also hatte sie so gar kein Verständnis?

Weil ich die andere Seite der Gewalt kennenlernen durfte. Und die Folgen daraus, wenn man dem Durst nach Rache nachgibt, überlegte sie.

Der Weg durch Nostradamus’ Refugium schien kein Ende zu nehmen. Wo der Seher es auch errichtet hatte, Platz musste es hier zur Genüge geben. Es war nicht ungewöhnlich, dass Magier das Innere ihres Domizils mit Dimensionsfalten gegenüber dem äußeren Anschein vergrößerten. Das barg allerdings Gefahren für die Struktur. Nur die besten Architektmagier wagten sich an komplexe Falten.

Das Paradebeispiel für ein Netzwerk aus solchen Dimensionsfalten und Türportalen war das Archiv. Über die gesamte Erde verteilte Räume, die miteinander verbunden waren und den Eindruck erweckten, dass es sich um ein einzelnes Gebäude handelte. So war es ihr zumindest in einer Vorlesung erklärt worden. Betreten hatte sie das Archiv noch nie. Es galt als heiliger Ort, der nur von den Ratsmitgliedern aufgesucht werden durfte – und das auch nur auf Einladung der Archivarin. In wenigen Ausnahmefällen erhielten Lichtkämpfer einen temporären Zugang. Sie hatte allerdings noch nie zuvor von einem Fall gehört, bei dem das geschehen war.

Sie passierten eine Kreuzung.

Irgendwann änderte sich der Baustil. Zuerst unmerklich, dann abrupt. Die ausladenden Kronleuchter, die Landschaftsmalereien, die bestickten Vorhänge – all das erinnerte Jen an das französische Barock.

»Immer mal was Neues«, kommentierte Alex. »So wird es nie langweilig. Anstatt neu zu dekorieren, legt man einfach ein paar Räume dazu, die anders gestaltet sind.« Er schüttelte den Kopf. »So viel zu einer kleinen beengten Wohnung.«

Ihr lag ein spitzer Kommentar auf der Zunge, aber sie wollte nicht erneut streiten. Das hier war ein Einsatz. Nostradamus war in Gefahr, ihr Gegner möglicherweise noch vor Ort.

Und mochte Alex auch ein arroganter Mistkerl sein, so war er aktuell doch ihr Schützling. Als Newbie konnte er sich gegen einen echten Angriff niemals verteidigen. Dafür war sie zuständig. Eine Aufgabe, die sie zu respektieren gedachte.

Duellieren kommt später.

Der dicke Teppich dämpfte ihre Schritte. Jen erwartete hinter jedem Mauersims eine hervorspringende Kreatur oder den Angriff eines Schattenkriegers. Doch nichts geschah. Sie gingen einfach nur immer weiter.

Schließlich mündete der Gang in eine umlaufende Galerie. Fein gearbeitete Stuckarbeiten ragten aus den Wänden. Sie stellten Wasserspeier, Dämonen und Engel dar. Drei Stockwerke unter ihnen standen Statuen auf Granitpodesten. Die Balustrade ging bis zur Hüfte, war aus weißem Sandstein gehauen.

»Wow«, flüsterte Alex. »Das ist echt beeindruckend. Ist das da vorne Himmelsglas?« Er deutete auf ein gewaltiges Fenster aus schwarz schimmerndem Glas.

»Bearbeitetes, ja«, bestätigte Jen. »Das Glas selbst schützt vor magischen Schlägen. Man kann es jedoch in jahrelanger Arbeit verfeinern und um gewisse Potenziale erweitern. Das hier ist eine Meisterarbeit.«

Sie folgten der Spur, die die Treppe hinab zu den Statuen führte.

Jen schluckte.

Fast erwartete sie, dass die steingehauenen Bildnisse von ihren Sockeln stiegen und sie angriffen. Doch auch hier blieb eine Attacke aus.

Die Spur endete vor einer Statue, die nicht auf einem Granitblock stand, sondern inmitten der anderen.

»Lustig«, sagte Alex. »Genau so hab ich mir den alten Zausel immer vorgestellt.«

Jen riss die Augen auf. »Das ist er!« Sie betrachtete die Statue von oben bis unten. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass die Augen lebendig waren. Sie bewegten sich, waren vor Panik geweitet.

»Shit«, entfuhr es Alex. »Jemand hat ihn in eine Statue verwandelt.«

Jen prüfte den Zauber mit einem simplen Indikatorspruch. »Er wurde nicht transformiert. Es ist nur eine Steinschicht, die den Körper umgibt, den Sauerstoff aber durchlässt. Nostradamus ist unversehrt, kann sich aber nicht bewegen.«

»Hört er uns?«

»Ja.«

Alex grinste, wobei er vermutlich glaubte, dass es einnehmend rüberkam. »Sorry für den alten Zausel. Nett, dich kennenzulernen.«

Jen schluckte. »Ich zerbreche jetzt den Stein. Das wird wehtun.«

Vorsichtig erschuf sie den Zauber.

Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik

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