Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 24
19. Wie Feuer und Wasser
Оглавление»… haben wir in mühevoller Kleinarbeit das Pentagramm rekonstruiert«, sagte Kevin. »War gar nicht so leicht. Alter, ich hab mir echt gewünscht, ich hätte diesen Zweig vertieft. Aber wer beschäftigt sich freiwillig mit Portalmagie?«
Sie saßen gemeinsam im Turmzimmer.
Max und Kevin auf ihrem gewohnten Platz auf der Couch. Obgleich Ersterer ständig Kaugummiblasen machte, die mit einem ordentlichen Knall zerplatzten, lächelte Kevin nur. Überhaupt waren die beiden noch unzertrennlicher als zuvor, sofern das überhaupt möglich war.
Chris hing quer im Sessel und lauschte gespannt den Worten seines Bruders. Er war erst seit Kurzem aus dem Heilschlaf erwacht, hatte von den Ereignissen ab dem Augenblick seiner Bewusstlosigkeit nichts mehr mitbekommen. Er hatte sein Shirt abgestreift und massierte seine Schulter, wodurch das Tattoo seltsame Formen aus Hautfalten und dunkler Farbe annahm.
»Wie habt ihr vier Tage ohne Wasser und Nahrung überleben können?«, fragte Clara.
Jen seufzte. Sie stand mit verschränkten Armen neben dem Bücherregal. »Das war seine Idee.«
Alex grinste machohaft überheblich. Doch dann ruderte er überraschend zurück: »Ich habe nur gesagt, dass es doch toll wäre, wenn so ein Essenzstab auch als Wünschelrute einsetzbar wäre, um Wasser zu finden.«
»Was er tatsächlich ist«, kam es von Clara.
»Genau.« Er legte die Füße auf den Couchtisch. »Irgendwie wusste ich plötzlich den Zauber – ist schon lustig mit diesen ererbten Erinnerungen –, und Jen hat ihn dann ausgeführt. Wann bekomme ich endlich auch so einen Essenzstab?«
Chris griff nach hinten, kramte zwei Bier hervor und reichte eines davon weiter an Alex.
»Das war meins«, protestierte Kevin.
»Bruderherz, sei gegenüber unserem Neuling mal etwas freigiebiger.«
»Du hättest ihm auch deines geben können.«
Chris nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche. »Sorry, aber jetzt hab ich schon daraus getrunken. Wäre unhöflich.« Er prostete Alex zu.
Jen verdrehte die Augen. Vermutlich würden sie als Nächstes gemeinsam in Feinripp-Unterwäsche Fußball schauen. »Es müssen noch ein paar Vorbereitungen getroffen werden. Man geht nicht einfach in einen Laden und holt ihn ab. Der Essenzstab ist ein mächtiges magisches Artefakt, das auf dein Sigil zugeschnitten ist.«
»Okay. Also wann?«, wollte Alex hartnäckig wissen.
Wofür mache ich mir überhaupt die Mühe? »Bald!«
Ein zufriedenes Grinsen war die Antwort.
Hier gibt es zu viel Testosteron, überlegte Jen. Wird Zeit, dass Chloe wieder auftaucht. »Interessant, dass Johanna und Leonardo uns den Folianten überlassen haben.« Sie nickte mit dem Kinn in Richtung Tresor, in dem das mächtige Artefakt verstaut lag.
»Hat vermutlich mit dem Rauch zu tun, der aus deinem Mund kam«, sagte Kevin.
»Du bist echt die Erbin von Joshua.« Mit einem Knall zerplatzte das Kaugummi von Max. »Irgendwie hab ich das alles schon für einen Mythos gehalten. In der Bibliothek gibt es kaum Aufzeichnungen zu damals.«
»Vermutlich haben die alles ins Archiv verbannt.« Clara wirkte nachdenklich. »So einfach kommt man da nicht ran.«
»Wer ist denn dieser Joshua überhaupt?! Kann das jetzt bitte endlich mal jemand erklären?«, bat Alex. »Irgendwie habe ich es vorhin noch gewusst, aber jetzt ist es wieder weg. Das ist so nervend.«
»Ich sag ja, du musst die Erinnerungen selbst vertiefen«, wiederholte Jen.
»Ja, ja.« Er winkte ab.
»Immer ruhig bleiben, Alter«, kam es prompt von Chris. »Sonst geht dein nächster Zauber nach hinten los.«
»Joshua war ein Lichtkämpfer«, erklärte Clara. »Er lebte vor einhundertsechsundsechzig Jahren und trug maßgeblich dazu bei, dass sich Licht- und Schattenkämpfer sammelten, um den Wall zu bilden. Damals realisierte wohl noch niemand so genau, was das bedeutete.«
»Eine Schwächung der Magie«, warf Alex ein.
Clara lächelte. »Exakt. Sechs Licht- und sechs Schattenmagier vereinten ihre Macht mit der Quelle, dem Onyxquader. Doch während sie den Wall schufen, gelang es einem Verräter im Rat, die Kristalle zu zerstören, die die Barriere um das Castillo errichteten.«
»Das Kristallfeuer, von dem Jen sprach«, konstatierte Alex.
»Das Castillo wurde von Schattenkriegern und Kreaturen überrannt. Es gab ein Gemetzel. Joshua wusste, dass er an diesem Tag sterben würde«, sprach Clara weiter. »Er ging ins Turmzimmer – dieses hier – und brachte den Folianten durch einen Zauber in Sicherheit. Kurz darauf kam die Schattenfrau.«
»Sie lebte damals schon?«, fragte Alex ungläubig.
»Scheinbar«, warf Jen nun ein, »ist sie auch eine Unsterbliche. Doch niemand kennt ihr wahres Antlitz. Fest steht jedenfalls, dass sie gewaltige Macht besitzt. Überall in der Nimag-Geschichte, wenn es zu großen Katastrophen kam, findet man Hinweise auf ihr Wirken.«
»Sie tötete Joshua, den letzten Seher«, kam Clara zum Ende. »Doch das Wissen um die Zukunft wurde in seinem Folianten weitervererbt. Er muss ihn irgendwie mit sich verknüpft haben, so dass auch die größte Vision, die er in jenem Augenblick empfing, als der Wall entstand, darin verankert wurde. Damals starben zu viele Lichtkämpfer auf einmal, daher konnte niemand mehr sagen, wer die Linie von Joshua fortführte. Das Sigil verändert sich ja, nachdem es sich in einem neuen Wirt manifestiert hat, die Farbe der Essenz ebenso. Die Legende besagt, dass einhundertsechsundsechzig Jahre nach der Schaffung des Walls – also heute – der Erbe von Joshua sich erinnern wird. Dies leitet eine große Veränderung ein.«
»Welche?«, fragte Alex heiser.
Jen zuckte mit den Achseln. »Das weiß niemand. Aber da ich nun die Erbin bin, werden wir das vermutlich bald erfahren. Der Rat hofft darauf, dass der Foliant durch mich lesbar wird, wenn Joshuas Erbe vollständig in mir erwacht. Möglicherweise gibt es dann auch wieder ein paar Special Effects.«
»Steck dir doch eine Zigarette an«, warf Alex ein. »Dann kommt der Rauch von ganz alleine.«
In Gedanken stellte sich Jen vor, wie sie diesen arroganten kleinen Macho an der Gurgel packte und hochhob. »Und der Lungenkrebs dazu«, erwiderte sie stattdessen. »Nein, danke. Aber mal echt, Jungs, ihr wisst nichts mehr von dem, was ich da im Delirium von mir gegeben habe?«
»Nope«, sagte Kevin. »Bei unserer Rückkehr waren es nur noch Fragmente. Mittlerweile habe ich alles wieder vergessen.«
»Geht mir auch so«, bestätigte Alex. »Wie weggewischt. Das ist kein normales Vergessen.«
Jen fluchte innerlich. Nach außen mochte sie sich gelassen geben, doch in ihr brodelte ein Vulkan. Jeder Lichtkämpfer wusste, dass nur der Wall zwischen ihnen und dem Chaos stand. Sollte die magische Sphäre, die alles Leben auf der Erde umgab, fallen, würden die Nimags erfahren, dass es Magie gab. Der alte Neid würde wiederkehren. Hass. Unverständnis. Vorurteile. Andersartigkeit war noch zu jeder Zeit und in jedem Land Grund für Ausgrenzung, Verfolgung und Hass gewesen.
Damals musste es wahrlich zu üblen Szenen gekommen sein.
Junge Lichtkämpfer, die gefoltert wurden, um ihnen Geheimnisse zu entreißen. Magische Artefakte, die von gierigen Fürsten, Königen und Kaisern eingesetzt wurden, ohne, dass sie deren Funktion richtig verstanden.
Was mochte mit der heutigen Welt geschehen, wenn der Wall fiel? Diktatoren und Autokraten würden danach gieren, Magie in ihre Finger zu bekommen, um die eigene Macht zu zementieren. Gleichzeitig würde die Magie sprunghaft ansteigen, weil der Wall nicht länger einen Teil davon abzog. Schattenkämpfer würden über Unschuldige herfallen.
Anarchie.
Wie sie alle wussten, würde sich Joshuas Erbe zeigen, sobald die Entscheidung bevorstand. Es war soweit. Etwas geschah.
In ihren Gedanken herrschte Aufruhr. Marks Tod, Alex' Erweckung, der Foliant und der Bund, all das wurde zu einer Melange aus Bildern und Gefühlen.
»Warum war die Schattenfrau dort?«
»Gute Frage«, sagte Clara. »Wir wissen, dass sie bei zahlreichen Attacken ihre Finger im Spiel hatte. Sie ist, wie gesagt, im letzten Jahrhundert überall auf der Welt aufgetaucht, wo Katastrophen stattfanden. Scheinbar hat sie geahnt, was geschehen wird. Oder sie wollte sichergehen, dass Alex stirbt.«
»Nette Person«, murmelte dieser.
»Was uns zu der Frage führt, weshalb dieser Bund dich tot sehen will.« Chris schlug seinem neuen Buddy heftig auf die Schulter, Alex verschluckte sich prompt. »Und nicht nur dich. Sie wollten dein Sigil auslöschen. So richtig.«
»Es hat etwas mit dem Folianten zu tun«, warf Kevin ein. »Und mit Joshuas Erbe. Du, Jen, bist der Schlüssel. Ihr beiden«, dabei deutete er zuerst auf Alex, dann auf sie, »seid irgendwie miteinander verbunden.«
Ja, danke, Kev. Meine Woche ist ja nicht schon schlimm genug, dachte Jen. »Wir sollten herausfinden, wie der Foliant wieder in den Besitz der Lichtkämpfer kam. Du sagtest ja vorhin, dass Joshua ihn einst versteckte.«
»Ich kümmere mich darum«, kam es von Clara.
»Und ich helfe dir«, bot Max an.
Damit war das richtige Team zusammen. Was Recherche anging, waren die beiden ein dynamisches Duo. Mit etwas Glück würde Max' Team nichts dagegen haben, dass er hier aushalf. Zumindest bis Chloe zurückkehrte.
»Ich werde Marks alte Fälle noch einmal untersuchen«, verkündete Chris. »Falls es da eine Spur gibt, die zur Schattenfrau führt, finde ich sie. Momentan können wir wohl davon ausgehen, dass Huan die Wahrheit gesagt und sie das Artefakt im Herrenhaus deponiert hat. Sie hat Mark getötet.« Er schnaubte. »Vom Außendienst bin ich gerade sowieso entbunden. Diese Heilzauber sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
»Dann kümmere ich mich um die Schattenfrau«, beschloss Kevin. »Wenn sie im letzten Jahrhundert so oft tätig war, muss es einen Hinweis auf ihr Ziel geben. Ein Muster. Wir müssen es nur finden.«
»Sehr schön.« Jen klatschte in die Hände. »Und wir beide kümmern uns als Nächstes um deinen Essenzstab.« Leider entglitt ihr dabei ein freudiges Lächeln, was einen misstrauischen Blick auf Alex' Gesicht zauberte.
»Warum freust du dich darüber?«, fragte er.
Sie winkte ab. »Ist nur lange her.«
Er warf einen panischen Blick zu Chris. »Sie freut sich. Das kann nur eine Gemeinheit sein.«
»Sorry, Alter, aber du bist der Erste seit Jahren, der einen neuen Essenzstab benötigt. Ich weiß nichts darüber.«
Nein, das konnte er auch nicht. Jens Lächeln verschwand. Sie war die Einzige, die davon wusste. Denn Alex und sie hatten etwas gemeinsam. Nach ihrer Erweckung hatte auch sie einen neuen Stab benötigt. Aber nicht, weil der ihres Vorgängers sie nicht gefunden hätte. Für den Verlust war sie selbst verantwortlich gewesen.
Und obgleich Jahre zwischen den Ereignissen in ihrem Leben als Nimag und dem Heute lagen, ballte sie die Fäuste.
Nie wieder!
Mochte die Hölle gefrieren, sie würde nie wieder ein Opfer sein.
»Also gut«, sagte sie tonlos. »Packen wir es an.«