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15. Memorum excitare III

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»Ist das Jen?!«, rief Clara.

Entsetzt sah sie sich um. Sie standen inmitten einer Trümmerlandschaft. Über ihnen zogen dunkle Wolken über das Firmament. Blitze zuckten am Horizont zu Boden, Donner rollte durch die Nacht.

Die Freundin kauerte im Zentrum des Chaos, das einmal ein Haus gewesen sein musste. Die Decke war förmlich weggesprengt worden, ein Teil der Wand war eingestürzt. Das Feuer im Kamin brannte noch immer. Ein Großteil der Möbel lag unter Zementbrocken begraben.

»Das ist unmöglich«, flüsterte Chloe. »Leonardo war damals nicht dabei. Kevin und ich haben sie gefunden.«

Es polterte, Steine kullerten.

Leonardo stolperte herbei. Vorsichtig ging er neben Jen in die Knie. »Alles wird gut.«

Doch sie zuckte vor ihm zurück, kroch wimmernd in eine Ecke.

Der Unsterbliche bückte sich, nahm die Reste des Essenzstabes auf. »Niemand hat eine solche Kraft. Der Stab ist nur eine Verlängerung des Sigils. Wie konntest du das bewerkstelligen?«

Besorgt untersuchte er das Holz.

Ein weiteres Poltern erklang. Der Unsterbliche verschwand mit wenigen Schritten in den Schatten. Von seiner Position aus hatte er einen perfekten Überblick.

Erschrocken fuhr er zusammen, als er gegenüber, versteckt hinter einem Trümmerstück, die nebelige Silhouette der alten Feindin erblickte. »Woher wusste sie das?«, flüsterte er.

Es war eindeutig die Schattenfrau.

»Aber, das kann nicht sein«, entfuhr es Chloe. »Wir sind damals sofort aufgebrochen, nachdem der Onyxquader uns den Weg zu Jen gewiesen hatte. Sie hatte in einem plötzlichen emotionalen Ausbruch ihre gesamte Familie getötet.«

Clara starrte mit aufgerissenen Augen auf Jen und von dort zu Chloe. »Was? Das wusste ich nicht.«

»Niemand außer uns.«

Die Schattenfrau betrachtete eindeutig Jen. Ihre von Dunkelheit umhüllte Nasenspitze deutete zumindest in deren Richtung. Clara glaubte fast, dass die unbekannte Feindin ihre Fäuste ballte, doch das war vermutlich eine Täuschung. Das Nebelfeld verschluckte alles. Außerdem war es unlogisch. Warum sollte sie Jen hassen?

Es polterte.

Eine jüngere Version von Chloe stürmte in den Raum. Sie trug eine Lederjacke, die Haare waren rosa gefärbt. Dazu die typischen Boots, Lederjeans und ein ärmelloses Shirt. Sie hielt ihren Essenzstab erhoben, wie es Vorgabe war. Immerhin kam es nicht selten vor, dass auch Schattenkrieger auf eine Neuerweckung aufmerksam wurden und am Ort des Geschehens ankamen, bevor der Neuerweckte in Sicherheit gebracht werden konnte. »Daingead!«

Leonardos Kontaktstein hatte den gälischen Fluch Chloes in ein herzhaftes »Verdammt!« übersetzt, wodurch auch Clara ihn verstand.

Hinter ihr betrat Kevin das Trümmerfeld. Mittlerweile war der Boden so nass, dass er mit seinen Turnschuhen darauf ausrutschte. Fluchend kam er wieder in die Höhe, sah sich vorsichtig um. Das dunkelblonde Haar trug er etwas länger als heute. Die Jeans waren verschlissen, das Shirt lag eng an. »Was ist denn hier passiert? War sie das?«

»Scheinbar«, stellte die junge Chloe fest. »Das ist mal was Neues.«

Jen saß wimmernd in der Ecke, hielt die Beine angewinkelt und mit den Armen umschlungen.

»Möglicherweise eine Attacke der Schattenkrieger, auf die sie instinktiv reagiert hat?«, überlegte Kevin.

Jung-Chloe legte ihm den Arm auf die Schulter. »Das war alles sie. Spürst du es nicht? Eine spontane Entladung magischer Essenz. So was kann angeblich passieren, ich habe es nur noch nie erlebt.«

Kevin schritt durch den Raum. »Himmel, da sind Nimags drunter.« Er deutete auf die Trümmer.

Gemeinsam mit Jung-Chloe zerpulverte er die Zementbrocken oder ließ sie davonschweben. Doch sie konnten niemanden mehr retten. Alle Anwesenden waren tot.

Clara sah das Entsetzen und die Trauer, die sich auf Kevins und Jung-Chloes Gesicht abzeichnete. Sie gingen vorsichtig zu Jen, die mit aufgeplatzter Lippe, einem blauen Auge, geprellten Rippen und blutigen Schrammen zu ihnen aufblickte.

»In dem Augenblick habe ich begriffen, dass es purer Hass war«, berichtete Chloe neben ihr. »Dass es ihr Vater war, habe ich mir zwar gedacht, aber sie hat es erst später bestätigt. Er hat sie jahrelang misshandelt. An diesem Abend ist es aus ihr herausgebrochen. Die Wut, der Hass, die Befreiung … Das Sigil hat sie genau in dem Augenblick erwählt.«

»Sie hat unbewusst ihre Emotionen in einen magischen Schlag umgewandelt«, begriff Clara. »Herrje.«

Nun verstand sie, weshalb Jen nie über die Details ihrer Erweckung gesprochen hatte. Der Schatten dieser Ereignisse musste noch immer auf ihrer Seele lasten. Niemand konnte Derartiges so einfach verwinden.

Seltsamerweise griff die Schattenfrau nicht an. Und auch Leonardo, der wohl wusste, dass ein Kampf Jung-Chloe, Kevin und die Neuerweckte in Gefahr gebracht hätte, hielt sich zurück. Doch es fiel ihm schwer, das spürte Clara. Er wollte die Feindin angreifen, sie stellen und erledigen.

Was immer diese Frau auch antrieb, sie hatte in der Menschheitsgeschichte geradezu gewütet. Böses gewirkt, wo sie nur konnte. Umso seltsamer mutete es an, dass sie jetzt nicht eingriff. Weder attackierte sie Kevin, noch Jung-Chloe, noch Jen.

»Ich fasse es nicht«, sagte Chloe neben ihr. »Sie war so nahe. Auch Leonardo hat nie etwas gesagt. Die haben uns einfach nur beobachtet.«

Clara bekam eine Gänsehaut, als sie zur Schattenfrau sah. Diese starrte den Unsterblichen frontal ins Gesicht. Zumindest wirkte es so. Als sie kurz darauf die Hand hob und ihm zuwinkte, bestätigte das Claras Vermutung.

»Sie hat ihn bemerkt«, flüsterte Chloe. »Aber sie greift weiterhin nicht an.«

Kevin hatte mittlerweile seinen Kontaktstein ergriffen. Aufgrund der Ereignisse musste er eine Verbindung zum Castillo herstellen. Es vergingen nur Sekunden, dann trat ein Magier aus dem Nichts in das Trümmerfeld.

»Ein Sprungmagier«, erkannte Clara.

»Er hat uns damals abgeholt«, bestätigte Chloe. »Wir konnten mit Jen nicht zu einem Portal, das hätte zu lange gedauert.«

Kevin nahm die wimmernde Jen in seine Arme.

Sie schrie kurz auf und wurde bewusstlos.

Im nächsten Augenblick verschwanden alle vier mit einem Wabern im Nichts.

Leonardo, der den Essenzstab gezogen hatte, trat aus dem Schatten heraus. »Was tust du hier?!«

Die Schattenfrau erhob sich. »Für heute nur beobachten, alter Freund. Doch sei dir versichert, das wird nicht so bleiben.«

»Komm her und stell dich mir«, forderte er. »Bringen wir es zu Ende.«

»Zu Ende?« Ein Lachen erklang, das verzerrt zu ihnen herüberhallte. »Aber mein lieber Leonardo, es fängt doch gerade erst an. Verschieben wir deinen Tod auf einen anderen Tag.«

Das Nebelfeld zerstob. Sie war fort.

»Wie macht sie das?«, grübelte Chloe. »Das sieht nicht aus wie bei einem normalen Sprung.«

Leonardo griff nach seinem Kontaktstein und stellte eine Verbindung zum Castillo her. Kurz darauf wurde auch er von dem Sprungmagier abgeholt.

Die Szene wechselte.

Sie standen in jenem Raum, in dem jeder neuerweckte Lichtkämpfer geprüft wurde, um die Farbe der Magiespur und die Stärke abzuschätzen.

Jen war anwesend, wirkte noch immer mitgenommen. Viel Zeit konnte seit dem Ausbruch ihrer Magie und diesem Moment nicht vergangen sein. Theresa hatte sie notdürftig zusammengeflickt, das war klar.

Ihr Haar stand wirr zu allen Seiten ab, auf ihrem Gesicht waren Schrammen und Schürfwunden zu sehen. Scheinbar hatte sie soeben ihren ersten bewussten Zauber ausgeführt, denn Johanna sagte: »Das war ausgezeichnet. Einer deiner neuen Teamgefährten bringt dich nun wieder in den Krankenflügel.«

Widerstandslos, geradezu apathisch, verließ Jen den Raum.

»Das war im Jahr 2010«, flüsterte Chloe.

»Sie ist stark«, bemerkte Leonardo. »Ich habe noch nie erlebt, dass eine Neuerweckte instinktiv einen solchen Zauber wirkt.«

»Ja, beeindruckend«, murmelte Johanna. »Aber tödlich. Wir müssen sie im Auge behalten. Mag es auch unbeabsichtigt gewesen sein, sie hat getötet. Und dass die Schattenfrau dort war, aber nicht eingegriffen hat, gibt mir zu denken.« Mit verschränkten Armen ging die Unsterbliche auf und ab, während Leonardo entspannt in seinem Stuhl saß.

»Was für eine verdammte Misere«, seufzte Chloe betrübt.

Clara wollte fort. »Jen hat öfter mal Andeutungen gemacht, aber so richtig hat sie nie mit der Sprache herausgerückt. Jetzt kann ich verstehen, warum. Gehen wir einfach.«

Sie lösten den Zauber, zogen ihre Hände von den Erinnerungssphären zurück.

Noch vier Mentigloben waren übrig.

»Na schön, jetzt haben wir angefangen, dann bringen wir es auch zu Ende.« Clara streckte den Rücken durch, als sei ein Essenzschub durch ihren Körper gefahren.

Gemeinsam berührten sie das nächste Erinnerungsgefäß.

Die Ratskammer war ihnen mittlerweile vertraut.

»Bingo«, entfuhr es Chloe.

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