Читать книгу Das Erbe der Macht - Die komplette Schattenchronik - Andreas Suchanek - Страница 57
3. Kriegsrat
Оглавление»Ich kann es nicht glauben«, murmelte Chris.
Die anderen nickten nur.
Die Atmosphäre im Turmzimmer glich der einer Beerdigung, was der Realität recht nahekam.
»Zuerst Mark und jetzt Gryff.« Max saß mit hängenden Schultern auf dem Sofa. »Wer auch immer der Verräter ist, ich hoffe, sie erledigen ihn.«
Chloe verzichtete auf eine Erwiderung. Irgendjemand im Castillo spielte gegen sie. Sein oder ihr Betrug würde nicht ungesühnt bleiben. Sobald die Wahrheitszauber eingesetzt wurden, war derjenige überführt – spätestens. »Die Ordnungsmagier durchleuchten gerade die Unsterblichen. Außerdem werden sie selbst überprüft. Danach sind wir anderen an der Reihe.«
»Es sei denn, wir finden den Mistkerl vorher.« Chris ließ seine Muskeln spielen. Wie so oft trug er eine Jeans mit nietenbesetztem Gürtel, darüber ein schwarzes Muskelshirt.
»Keine Dummheiten«, sagte Chloe. »Der Verräter landet im Immortalis-Kerker, und damit ist die Sache erledigt.« Nun ist es schon so weit gekommen. Ich bin die Moralische hier. Wo sind Jen und Clara, wenn man sie mal braucht?
Sie wollte Chris aus tiefstem Herzen zustimmen. Ein gezielter Kraftschlag zwischen die Augen und der Verräter stand nie wieder auf. Doch das vorsätzliche Töten veränderte einen Menschen, wie sie aus eigener Erfahrung wusste. Während sie aber gelernt hatte, Tod und Verlust zu akzeptieren, war das bei den anderen nicht so. Das hatte sie bereits bei Marks Tod erlebt. Er hatte sie erschüttert, doch ihr Innerstes hatte die Tatsache recht schnell verarbeitet. Die anderen waren noch nicht so weit.
»Klar«, kam es von dem Gefährten wenig überzeugend.
Kevin sank neben Max auf die Couch und legte den Arm um dessen Schulter. »Müde?«
»Ziemlich.«
»Ich auch.« Er wuschelte seinem Freund durch die Haare. »Vielleicht sollten wir nach dieser Sache mal wieder Urlaub machen. Das Portal auf die Malediven?«
Der Hauch eines Lächelns erschien auf Max’ Gesicht. »Wie sagt Thomas so schön: Ein Lichtkämpfer hat niemals Urlaub.«
»Klar, ein Unsterblicher kann so was leicht sagen«, erwiderte Kevin. »Der bleibt ewig jung und kann den aufgesparten Urlaub irgendwann am Stück aufbrauchen.«
Chloe musste grinsen. Doch die Sekunde verstrich und die Situation, in der sie sich alle befanden, wurde wieder präsent. Ein Mörder streifte durch das Castillo, Gryff war tot, und Clara lag im heilenden Schlaf bei Theresa im Krankenflügel. »Was also tun wir?«
»Ich werde Clara besuchen«, sagte Max. »Danach wird mein Team mich brauchen. Wenn es geht, komme ich heute Abend zu euch.« Er verabschiedete sich mit einem Kuss von Kevin.
Die Übrigen sahen einander an.
»Wir gehen zu den Ordnungsmagiern«, erklärte Chris nach einem kurzen Blickwechsel mit seinem Zwillingsbruder. »Die benötigen vielleicht Hilfe.«
Chloe konnte sich schon denken, was die Ordnungsmagier dazu sagen würden. Lange blieben die Brüder nicht weg, das stand fest. »Okay.«
»Und was macht unser Lieblings-Kampf-Punk?«, fragte Chris.
»Ich geb dir gleich Kampf-Punk, du Muskel-Birne.« Drohend hob sie ihren Essenzstab. »Leonardo wird dich noch mal ein paar Wochen auf der Ersatzbank parken, wenn ich mit dir fertig bin.«
Damit hatte sie ihn. Seit Tagen versuchte er, wieder in den aktiven Dienst versetzt zu werden. Er war einfach niemand, der lange still sitzen konnte. Vermutlich würde Leonardo da Vinci ihn kurzerhand in die verbotenen Katakomben neben ein tödliches Artefakt setzen, falls Chris noch einmal quengelte.
»Ich vermisse Alex«, sagte Chris. »Er würde mich jetzt unterstützen.«
»Schau mich nicht so an«, wehrte Kevin ab. »Brüder ärgern einander, darin bin ich gut.«
»Verräter.«
»Dein Alex ist ja bald zurück«, stichelte Chloe und kniff Chris dabei in die Wange. »Dann könnt ihr wieder zusammen Bier trinken und rumgrölen.«
Sie hatte den Neuerweckten bisher noch nicht kennengelernt, wusste aber, dass Jen ihn am liebsten in eine Steinstatue verwandelt hätte. Schauen wir mal.
Chris und Kevin verließen das Turmzimmer.
Chloe blieb alleine zurück. Für einen Augenblick trat sie ans Fenster, schaute hinaus in die Nacht. Regen hatte eingesetzt. Er prasselte auf die Dächer des Castillos und der angrenzenden Gebäude. Dank ihres Weitblicks konnte sie die Tropfen auf der Oberfläche des Teichs einschlagen sehen, das Wasser kräuselte sich. Die Äste der laublosen Bäume wogten im Wind, die Luft schnitt ihr ins Gesicht, als sie das Fenster öffnete und die Nase hinausstreckte.
Klare, kalte, frische Luft.
Das tat gut.
Chloe war zusammen mit vier Brüdern und drei Schwestern in einem kleinen Haus in Schottland aufgewachsen. Ihren Eltern war es stets gelungen, ihr ein Gefühl von Wärme und Liebe zu vermitteln, was sie zu einer starken Persönlichkeit hatte heranwachsen lassen. Das Leben in einer Großfamilie brachte jedoch auch Enge mit sich, weshalb sie immer froh war, die Tage draußen verbringen zu können. Nach ihrer Lehre als Schreinerin hatte sie damit begonnen, eigene Möbel zu designen. So wurde sie mit ihrer kleinen Werkstatt zu einer gefragten Lieferantin für Einzelstücke. Sie schuf Schränke, Betten, am liebsten aber Regale, die die Menschen staunen ließen.
Ihr Leben hätte ziemlich einfach verlaufen können. Doch dann war etwas geschehen, das alles verändert hatte.
Liam war ein hübscher Mann. Er machte ihr tagelang den Hof, zeigte deutlich sein Interesse. Jeder mochte ihn, er hatte einen eigenen kleinen Bauernhof in den Highlands, galt als gute Partie. Sie ließ ihn dennoch abblitzen. Einige Tage später zog er betrunken mit Freunden am Haus ihrer Eltern vorbei. In der Kneipe zettelten sie eine Schlägerei an, die völlig außer Kontrolle geriet. Mit grünen und blauen Flecken übersät, Prellungen und mehreren verlorenen Zähnen, landete ihr kleiner Bruder, Jamie, im Krankenhaus. Er hatte sich mit den Idioten angelegt, als sie Chloe beleidigten. Erst einen Tag später wurde die Hirnblutung entdeckt.
Die Männer in der Kneipe hielten zu Liam, es gab keine Zeugen. Ihm geschah nichts, während ihr kleiner Bruder zwischen Leben und Tod schwebte und seit damals im Koma dahinvegetierte. Jede Woche besuchte sie ihn an seinem Krankenbett. Sie hatte Theresa bekniet, ihr heimlich einen Heiltrank zu brauen; Johanna angebettelt, einen Heilzauber anwenden zu dürfen. Doch das Verbot blieb bestehen. Jamie war nicht durch schwarze Magie zu Schaden gekommen, also durfte sie ihm auch nicht mit Lichtmagie helfen. Sollte sie das Gesetz missachten, würde die Heilung rückgängig gemacht werden. Außerdem warteten drakonische Strafen.
Sieben Jahre lag das nun zurück.
Am Tag nach diesem Vorfall war Chloe zum Hof von Liam marschiert, er war gerade auf dem Feld. Sie hatte alle Tiere freigelassen und das Haus angezündet. Erst als es bis auf die Grundmauern abgebrannt war, ging sie davon. Es gab keine Zeugen, also geschah ihr nichts.
Auge um Auge.
So entstand der Streit, der immer weiter ausuferte.
Am Ende standen sie sich am Hang eines Berges gegenüber, der in eine tiefe Schlucht mündete. Er wollte sie hineinstoßen. Sie gewann das Handgemenge, hielt ihn an seiner Jacke auf Brusthöhe fest, während er an der Kante stand und mit rudernden Armen über dem Abgrund hing.
Dann ließ sie – ganz bewusst – los.
Der zermürbende Kleinkrieg endete, ihre Familie war wieder sicher und Jamie gerächt. Erneut gab es niemanden, der echte Fragen stellte. Natürlich wurden Vermutungen geäußert, manche deuteten hinter vorgehaltener Hand mit dem Finger auf sie. Doch keiner vermochte die Gerüchte zu beweisen. Es brachte ihr weder Genugtuung noch fühlte sie Triumph. Der Zweck hatte die Mittel geheiligt. Manchmal war das einfach notwendig. Sie empfahl es niemandem, denn es veränderte die Seele. Von dem Moment an, als sie Liam losgelassen hatte, sein Körper zerschmettert am Boden lag, war sie nicht mehr dieselbe gewesen.
»Aber Mum, Dad und die anderen waren wieder sicher«, flüsterte sie.
Kurz darauf hatte ein Sigil sie erwählt. Bis heute fragte sie sich, warum. Was war der Grund dafür gewesen?
Nachdenklich betrachtete sie den Essenzstab, tastete mit dem Geist nach dem Sigil in ihrem Inneren. Chris war für sie wie ein Bruder, das Team ihre Familie. Es blieb zu hoffen, dass es ihr gelang, den Verräter zu finden. Was dann geschehen würde?
»Wir werden sehen.«
Sie verließ das Turmzimmer.